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409 Filme in über 1000 Aufführungen waren auf der diesjährigen Berlinale zu sehen. Mit seinen insgesamt 14 Sektionen ist das Festival mittlerweile eine ausdifferenzierte Maschinerie, die es sich zur Politik gemacht hat, für jeden Zuschauer ein entsprechendes Angebot im Programm zu haben. Die meisten Sektionen dienen meist jedoch nur sehr bedingt als Orientierungshilfen, zu unausgewogen und austauschbar sind sie leider oft. Doch natürlich gibt es sie, die herausragenden Filme. Sie sind nur besser versteckt, als bei anderen Festivals.
Boyhood (Richard Linklater)

The Second Game (Corneliu Porumboiu)

Boyhood (Richard Linklater) & The Second Game (Al doilea joc, Corneliu Porumboiu)
Zwei Filme in denen die Zeit, und vor allem deren Wahrnehmung, eine prägende Rolle spielt. Über einen Zeitraum von zwölf Jahren erstreckten sich die Dreharbeiten von Boyhood, ganze zwei Tage dauerte dagegen die Produktion von The Second Game.
Um es gleich vorweg zu sagen: Boyhood ist einer der schönsten Filme, den ich seit einiger Zeit gesehen habe. So viel wurde mir in diesem Film geboten, an Emotionen, feinen Beobachtungen und Sorgfalt, dass ich nach Filmende augenblicklich jegliche Lust verlor, mir noch weitere Filme auf der Berlinale anzuschauen (da kann man eigentlich nur von Glück sprechen, dass ich den Film erst kurz vor Ende des Festivals sah). Über den Zeitraum von zwölf Jahren hinweg schaut Richard Linklater dem jungen Mason und seiner Patchwork-Familie beim Erwachsenwerden zu. Der Übergang ins jeweils nächste Jahr erfolgt immer fließend und wird stets beiläufig inszeniert (der deutlichste Indikator sind jeweils die sich ändernden Frisuren der Darsteller). Jede Form von Spektakel, sei sie narrativ oder inszenatorisch, wird vermieden und glücklicherweise missbraucht Linklater die Geschichte der Familie auch nicht als Allegorie der amerikanischen Gesellschaft post-9/11. Es geht hier um die kleinen Momente, an die wir uns später vielleicht nicht mehr erinnern werden und in deren Flüchtigkeit gerade die Schönheit liegt. Vor allem jedoch ist es ein extrem großzügiger Film, in dem jede neu auftretende Figur eine potentielle Abzweigung der Handlung darstellt und man immer wieder kurz abschweift und sich überlegt, was wohl aus den Figuren geworden sein mag, die dem Fokus von Boyhood entglitten sind.

Das warme Licht der texanischen Sonne in Boyhood weicht in Corneliu Porumboius neuem Film The Second Game einem wüsten Schneegestöber. Wir sehen die Originalaufnahme eines Fussballspiels aus dem Jahr 1988. Dinamo gegen Steaua, die Mannschaft der Armee gegen die der Staatssicherheit. Die Bildqualität ist schlecht, der starke Schneefall macht das eigentliche Spiel so gut wie unmöglich und als Zuschauer lässt sich der Ball nur schwer erkennen. Der Schiedsrichter des Spiels war Adrian Porumboiu, der Vater des Regisseurs. The Second Game zeigt uns das gesamte Spiel in voller Länge. Anstatt jedoch den originalen Fernsehkommentar zu hören, spricht der Filmemacher mit seinem Vater über seine Arbeit als Schiedsrichter im Rumänien unter Nicolae Ceaușescu, die Stärken und Schwächen der beiden Mannschaften und natürlich die argen Wetterbedingungen (Der Sohn: „Erinnerst du dich noch, ob der Schneefall nach Spielende aufgehört hat?“ Der Vater: „Wenn ich damals bereits ein Bauer gewesen wäre, wüsste ich dies bestimmt noch.“). Es ist eindrücklich, welche Vielschichtigkeit Porumboiu aus diesem einfachen filmischen Dispositiv im Verlauf der 90 Minuten zieht. The Second Game ist in erster Linie ein Stück filmischer Erinnerungen, an das Spiel, aber auch an ihr Leben damals. Gleichzeitig liefert Porumboiu humorvolle Bildanalysen. Geraten die Spieler auf dem Spielfeld beispielsweise mit der gegnerischen Mannschaft auch nur Ansatzweise in ein Gerangel oder Wortgefecht, so schwenken die Kameras sofort weg vom Spielfeld hin zu frierenden Zuschauern. Gleichzeitig verwebt der Film mindestens drei Zeitebenen ineinander: das 90-minütige Spiel, die erinnerte Zeit von Vater und Sohn und der Moment der Aufnahme der Kommentar-Spur, die immer wieder vom Piepsen eines iPhones und verschiedenen Anrufen unterbrochen wird.

The Midnight After (Fruit Chan)
That Deman Within (Dante Lam)

The Midnight After (Fruit Chan) & That Demon Within (Mo Jing, Dante Lam)
Zugegebenermaßen ist dies nicht die originellste Paarung. Zwei Mal Hong Kong im Jahr 2013, zwei Genre-Filme in denen die Stadt und deren Textur eine herausragende Rolle spielen. Stellenweise hatte ich sogar das Gefühl in That Demon Within den einen oder anderen Drehort aus The Midnight After wieder zu erkennen. Alles nur Einbildung? Gut möglich.
The Midnight After, der Titel von Fruit Chans neuem Film deutet es bereits an, dass vor Mitternacht etwas geschehen sein muss. Doch auf was sich dieses „after“ bezieht, bleibt bis zum Ende und darüber hinaus unklar. Ein Bus mit vielleicht 15 Fahrgästen manövriert sich durch das nächtliche Hong Kong. Als er aus einem Tunnel kommt, sind plötzlich alle Strassen leer und es finden sich keine Spuren mehr von anderen Menschen. Die Insassen des Busses rätseln: sind sie vielleicht gestorben und das ist eine Form des Jenseits? Oder sind Drogen im Spiel? Doch anstatt sich für diese Fragen zu interessieren, entfesselt Fruit Chan ein sprichwörtliches Chaos auf der Leinwand, dass einem immer wieder den Boden unter den Füssen wegzieht. The Midnight After beginnt als eine Science-Fiction-Dystopie mit Anklängen vom Horror-Film. Doch kaum wurden die Gerne-Fundamente dafür gelegt, wandelt sich der Film in eine Art Kammerstück, dass sich irgendwo zwischen derber Komik und brutaler Farce einnistet und man vielleicht noch als eine überdrehte Sozialkritik umschreiben könnte. Am Ende dann rasen die Protagonisten in einem Bus, begleitet von David Bowies Lied Space Oddity und gejagt von zwei Panzerfahrzeugen, durch die Stadt. Dann ist der Film zu Ende und ich habe schon lange nicht mehr einen so wunderbar chaotischen, ganz und gar unreinen Film gesehen, der in seinen zwei Stunden kräftig aufräumt mit allen möglichen narrativen Konventionen.
Wie auch bei Fruit Chan nimmt die Stadt in Dante Lams neuen Film That Demon Inside eine bedeutende Rolle ein. Die Ausgangsidee ist bezaubernd: Hon Kong (!), der Anführer einer brutalen Gang, schleppt sich blutend in ein Krankenhaus und erhält dort von dem nichts ahnenden und pflichtbewussten Polizisten Dave eine Bluttransformation. Kurze Zeit danach plagen den Polizisten düstere Visionen, ist der Keim des Bösen von Hon während der Transfusion auf ihn übergegangen? Dante Lam erzählt das weitere Geschehen zwischen Dave und Hon mit großer Härte und fulminanten Action-Einlagen. Daneben schafft es Lam sogar noch beiläufig von einer gewaltsamen Gentrifizierung Hong Kongs zu erzählen. Das Ende ist schließlich ein pyromanisches Feuerwerk. Dave jagt einen korrupten Polizisten quer durch die Stadt. Beide Autos rasen in eine Tankstelle. Alles explodiert, alle verbrennen.

Hannes Brühwiler