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Filme für wen? Die abwesenden Adressaten der Filmarbeit
Véronique Goël im Gespräch mit Tobias Hering
SO 16. September / 18:30 Uhr im Collegium Hungaricum Berlin (.CHB)

Gilles Deleuze hat einen Gedanken von Paul Klee einmal so paraphrasiert: „Es gibt kein Kunstwerk, das sich nicht an ein ‚abwesendes Volk‘ richten würde, an diejenigen, die nicht mehr oder noch nicht da sind.“ Zum einen hat er damit eine gewisse Unzeitgemäßheit angesprochen, auf die sich die künstlerische Arbeit einlassen muss. Mit der Vorstellung des ‚abwesenden Volkes‘ verbindet sich aber auch der Gedanke, dass gerade die Abwesenheit und die Leere den Raum eröffnen, in den das Kunstwerk hinein spricht und auf sein Echo lauscht. Politisches Kino ist für Deleuze nur denkbar, wenn es Bezug nimmt auf ein Volk, das fehlt.

Im Gespräch mit der Filmemacherin Véronique Goël geht es um die Frage nach den abwesenden Adressaten und um konkrete filmische Gesten, sich an den Anderen zu wenden. Zwei kürzere Arbeiten Goëls sowie zwei Kurzfilme von Jean-Marie Straub (einer noch gemeinsam mit Danièle Huillet) stellen Bezugspunkte her: Film als eine Form des abwesend-anwesend Seins, als eine Möglichkeit, den „Schritten, die sich ins Off entfernen, die Treue zu halten“, wie es Danièle Huillet einmal formuliert hat.

Joachim Gatti und Europa 2005, 27 Octobre lassen sich als „Cinétracts“ beschreiben: prägnante, zeitnahe Reaktionen auf tagespolitische Ereignisse. Joachim Gatti ist einem jungen Mann gewidmet, dem während einer Demonstration in Paris von einem Polizisten mit einem Gummigeschoss ein Auge ausgeschossen wurde. Europa 2005, 27 Octobre besteht aus fünf beinahe identischen Schwenks über eine Sackgasse im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois, in der am 27. Oktober 2005 zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Starkstrom-Trafo starben.

Véronique Goëls Soliloque 2 – la barbarie ist ein Travelogue und um einen Briefwechsel zwischen einer Frau und einem Mann aufgebaut. Während die Briefe einander suchen, sind deren Adressaten unterwegs in Rom, New York, Berlin und verfehlen sich. Mit der Nachricht vom Tod des Mannes wird der Film zu einer stummen Reflexion über das Vergessen und die Resignation angesichts der Gleichzeitigkeit von persönlicher Trauer und unfassbarer Barbarei andernorts.

Die zweite Hälfte von Soliloque 2 besteht aus fließend ineinander komponierten Travellings durch West-Berlin. Bei diesen Aufnahmen war Luc Yersin für den Ton verantwortlich, mit dem Véronique Goël zuvor bereits ihren ersten Spielfilm, Un autre été (1981), gedreht hatte. Als Yersin 2008 starb, widmete ihm Véronique Goël den Film So Long No See, ein Epitaph, das aus den Schnittenden eines anderen Films entstand, in dem Berlin 25 Jahre nach Soliloque 2 erneut zu sehen gewesen wäre, den sie jedoch nie fertig gestellt hat. In So Long No See versichert sich die Erzählerin ihres Gegenübers erneut in Briefform: ein Brief an einen Dritten (Goëls langjährigen Weggefährten Stephen Dwoskin, der seinerseits im vergangenen Juni gestorben ist) reflektiert auf die Abwesenheit Yersins und erzählt von der Stille, die durch seinen Tod in die Welt kam. Wo ist der Ton? In ihren mehrfachen Bezügen erzählen beide Filme von den Wahlverwandschaften und Nähen in der Filmarbeit, bezeugen aber auch, dass die filmische Geste stets auf das zielt, was im Off bleibt.

Tobias Hering

Filmprogramm:
JOACHIM GATTI  Jean-Marie Straub – 2009 – 2’
EUROPA 2005, 27 OCTOBRE Jean-Marie Straub, Danièle Huillet – 2006 – 11′  
SO LONG, NO SEE Véronique Goël – 2009 – 16′ 
SOLILOQUE 2 / LA BARBARIE Véronique Goël – 1982 – 20′

Das filmische Werk von Véronique Goël (*1951) umfasst bis dato siebzehn lange und kurze Arbeiten, darunter Spielfilme, Experimentalfilme und dokumentarische Essays. Sie arbeitet auch als plastische Künstlerin und Fotografin und lebt in Genf. 



Tobias Hering (*1971) kuratiert thematische Filmprogramme und produziert Texte an den Schnittstellen von Film, Kunst, Literatur und Politik. Er lebt in Berlin.

Die Veranstaltung findet im Rahmen von HANDS ON FASSBINDER statt.