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Satyajit Ray oder die Fähigkeit in die Knie zu gehen

“… The exterior of a film is beginning to count for more than ever before. People don’t seem to bother about what you say so long as you say it in a sufficiently oblique and unconventional manner – and the normal looking film is at a discount. As if being modern for a filmmaker consisted solely in how he juggles with his visuals and not in his attitude to life that he expressed through the film.” Satyajit Ray, 1962.

Vor einigen Tagen habe ich mich bei einem merkwürdigen Gedanken ertappt. Ich kam aus dem Kino und dachte, wenn ich meine Lust am Filmemachen nicht verlieren will, sollte ich lieber nicht mehr ins Kino gehen. Ich habe alleine darüber gelacht und bin einfach weitergegangen, aber dieser Gedanke hat mich seitdem nicht losgelassen. Ich glaube auch, daß etwas Ernstes dahinter steckt.

Seit ein paar Jahren spiele ich mit dem Gedanken irgendetwas anderes als Filme zu machen. Ich überlege, ob ich mich nicht besser in einen Wald zurückziehen oder Mönch werden sollte. Daß ich es noch nicht getan habe, hat mehrere Gründe. Faulheit, die Angst vor dem Unbekannten, und die Tatsache, daß ich keinen besseren Beruf kenne als den des Geschichtenerzählers. Aber der wichtigste Grund ist vielleicht, daß ich weiß, wie tief und ernst Filme auch sein können. Etwas, wofür sich die ganze Mühe definitiv lohnt.

Ich habe erst vor einem Jahr einen der schönsten Filme gesehen, die je gemacht worden sind: „Apur Sansar“ (Apurs Welt) von Satyajit Ray. Seit „Fahrraddiebe“ hatte ich keinen so berührenden und wahrhaftigen Film gesehen. Später war ich nicht sehr überrascht, als ich las, daß Ray sich entschloß, „Pather Panchali“ (den ersten Film der „Apu-Trilogie“) zu machen, während er sich „Fahrraddiebe“ in London ansah.

„Apur Sansar“ ist der letzte Film der Trilogie und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes (Apu), dessen geliebte Frau während der Geburt ihres Sohnes stirbt. Der junge Mann ist nach diesem Schlag unfähig sein Leben weiter zu leben und zieht sich zurück, ohne die Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen, der bei dem Großvater aufwächst. Am Ende wird Apu von einem Freund aufgesucht, der ihn davon überzeugt, zurückzukehren. Sein Sohn, der mittlerweile fünf Jahre alt ist, akzeptiert ihn schließlich als Vater.

Der Film wurde mit geringen Mitteln in schwarzweiß gedreht und ist in meinen Augen ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk deshalb, weil er uns durch die Geschichten der Menschen, von denen er erzählt, die Tragödie des Lebens nahebringt. Die Tragödie, an der wir alle teilhaben und die wir – bewußt oder unbewußt – in uns tragen.

Das war der erste Film, den ich von Satyajit Ray gesehen habe. Vor einigen Tage brachte eine Freundin einige Videos mit Filmen von Ray aus Indien mit. Wir schauten uns „Pather Panchali“ an. Trotz der VHS Kopie, die eine Kopie einer indischen Kopie war, und trotz meines mäßigen Fernsehers, konnte ich meinen Blick nicht davon abwenden. Ich war sprachlos, als der Film zu Ende war, so sehr hatte mich dieser Film berührt, so sehr hatte er mich in seine Welt hineingezogen. Eine Welt, in der die Menschen menschlich sind. Eine Welt in der die Menschen ihr Leben einfach akzeptieren und leben, so wie es ist: mit Schmerzen, Verlusten, mit Ungewißheit und Unsicherheit, aber auch mit Freude, Natürlichkeit, Neugier und Liebe. Eine Welt, in der Tod zum Leben gehört. Eine Welt, in der – wie im Leben – alle Gegensätze präsent sind, und nicht nur eine Seite der Münze.

„Pather Panchali“ (1955) wurde in der Nähe von Calcutta gedreht und ist der erste Teil der „Apu-Trilogie“, gefolgt von „Aparajito“ (1956) und „Apur Sansar“ (1959). Da Satyajit Ray noch unbekannt war, als er „Pather Panchali“ machen wollte, konnte er keinen Produzenten finden, der ihm das notwendige Geld geben wollte. Da er selbst kein Geld hatte, begann er den Film mit einem Darlehen auf seine Lebensversicherung und dem Geld, das ihm einige Verwandte gaben. Mitten in den Dreharbeiten, als dieses wenige Geld aufgebraucht war, mußte er die Juwelen seiner Frau verpfänden und später gar seine Platten und Kunstbücher verkaufen.

Die Geschichte der Dreharbeiten von „Pather Panchali“, die sich über einige Jahre hinzogen, ist voller Brüche, Unterbrechungen und Schwierigkeiten. „Pather Panchali“ ist jedoch ein ruhiger, fast bewegungsloser Film, der uns in seine Ruhe hineinzieht, bis wir nichts mehr von unserem bewegten Leben wissen. Ein Film, in dem die Bilder und die Geschichte die Kraft der Wahrheit in sich haben. Eine Wahrheit, die kein metaphysisches Konzept ist, sondern eine konkrete Erfahrung beim Zuschauen. Ich habe nie schönere Worte über einen Film gehört, als die, die Kurosawa über „Pather Panchali“ gesagt hat: „Es ist die Art von Kino, die mit der Gelassenheit und Würde eines großen Flusses fließt.“

Es ist relativ einfach den Zuschauer festzuhalten, wenn ständig etwas „Neues“ passiert, wenn sich die Geschichte direkt zum Plot hin entwickelt. So einfach, wie etwas einzukaufen. Man weiß, wohin man geht und man geht direkt dorthin. Der Weg ist nicht besonders wichtig, nur das Ziel zählt. Schwieriger ist es, jemandem an der Hand zu nehmen – nicht zu fest nicht zu locker – um einen Spaziergang durchs Leben zu machen. Schwieriger aber schöner.

Ich denke jetzt daran, was Satyajit Ray über dieses Gefühl von Wahrheit und Plot gesagt hat: „Die ganze konventionelle Herangehensweise, wie es sich auch in den besten amerikanischen und britischen Filmen zeigt, ist falsch. Der konventionelle Ansatz sagt, der beste Weg eine Geschichte zu erzählen, sei alles wegzulassen, was nicht direkt zur Geschichte gehöre. Die Arbeit der Meister zeigt jedoch deutlich, daß wenn dein Thema einfach und stark ist, hunderte von scheinbar unwesentlichen Details dieses Thema nicht schwächen, sondern im Gegenteil stärken und darüber hinaus die Illusion spontanen Geschehens erzeugen.“

Ich denke an das Gefühl der Leere, das mich immer wieder nach einem Kinobesuch überkommt. Ich habe schon fast Angst, ins Kino zu gehen. Angst davor, mich mit diesem unangenehmen Gefühl der Leere konfrontieren zu müssen. Es ist ein ähnliches Gefühl, wie mit einer Frau zu schlafen, die man nicht liebt. Man tut es ein- oder zweimal im Leben, dann will man es nie mehr wiederholen.

Ich frage mich, ob dieses Gefühl der Leere daher kommt, daß es um nichts Wirkliches geht (nicht nur im Kino, auch in einer Beziehung!). Diese Filme sind nur Teil einer Industrie, die Filme macht. Sie sind gemacht worden, um ihre Räder in Bewegung zu halten, nicht weil es jemandem wirklich um etwas ging. Als Lindsay Anderson „Pather Panchali“ sah, schrieb er: „Man kann solche Filme nicht im Studio und nicht für Geld machen. Satyajit Ray hat mit Menschlichkeit und vollkommener Hingabe gearbeitet. Er ist im Staub auf die Knie gegangen, und sein Film hat die Qualität intimer, unvergeßlicher Erfahrung.“ Mich hat dieses Bild nicht losgelassen: „In die Knie gehen“ – vielleicht liegt da der ganze Unterschied. Fähig zu sein, in die Knie zu gehen, um die eigene Wahrheit zu finden und zu filmen. Das ist es, was die anderen berühren kann. Das ist es, was den Unterschied ausmacht.

German Kral

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