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Cine Nomad: „Three Windows“

Als kleiner Junge bin ich einmal auf einem Volksfest verloren gegangen. Ich habe ohne nähere Prüfung eine Hand ergriffen, die ich für die meines Vaters hielt. Eine gute Weile später fand ich mich alleine in einer fremden Menge wieder.

Auch im Kino geschieht es, dass man sich vertrauensvoll an die Hand nehmen lässt, um dann alleine gelassen zu werden. Es gibt Erzähler, denen man nicht einmal bis zur nächsten Straßenkreuzung traut, und andere, die man überallhin begleiten würde. Ein guter Erzähler lässt uns nicht alleine, wenn es darauf ankommt. Er zeigt uns Dinge, von denen er etwas versteht. Diese intime Kenntnis einer Geschichte, einer Landschaft, eines Menschen ist selten geworden im Kino. Das hat viel damit zu tun, wie man einen Film macht – und womit man beginnt.

Die Filmemacher Nicolas Humbert und Werner Penzel haben mit einem Mann begonnen. Sie haben sich gefragt: Wie können wir das, was uns fesselt an diesem Mensch – wie er lebt und was er lebt – in einen Film verwandeln? Eine Antwort wussten sie nicht. Und so haben sie ihn gefilmt, wie sie ihn gesehen haben. Wieder und wieder. Über Jahre. Bis sie eine Antwort wussten. Diese Antwort heißt “Three Windows” – ein leerer Raum mit drei Fenstern in Form von Videoleinwänden, die gleichzeitig und endlos drei Filme zeigen, die zusammen einer sind.

Der Mann, um den es geht, heißt Robert Lax und ist einer der letzten großen Poeten der klassischen Moderne. Seit 25 Jahren lebt er zurückgezogen auf der kleinen griechischen Insel Patmos. Über das Gedichteschreiben sagt er:

“I am against driving yourself crazy unless you have to. I think you let them grow like trees and plants grow. Your dreams come along the same way, they come perfectly free, you didn’t ask them, you didn’t construct them and they usually have a lot of meaning. I think, you have to give the poems the chance to flow.

What you have to be regular about in some way is sitting down every so often and write. Then the poems become encouraged to flow along and after you have done a certain amount of it, they flow naturally to what they want to say and what’s in you and in that sense what you have to say, too. You have to have the habit of working on the project all the time and then the good moments come along by themselves as happy surprises and graces – you put yourself in a place, where grace can flow to you.”

“Three Windows” ist der Versuch, mit dieser Haltung einen Film zu machen.

 

Ein Gespräch mit Nicolas Humbert und Werner Penzel (Cine Nomad)

Revolver: Wenn ich eure letzten beiden Filme “Step across the Border” und “Middle of the Moment” und jetzt dieses neue Projekt “Three Windows” im Kontext betrachte, so sehe ich eine klare Tendenz zur Auflösung des Narrativen, ein wachsendes Streben nach Freiheit und gleichzeitig die Tendenz zu größerer Disziplinierung. Seht ihr das auch so?

Cine Nomad: Wenn man diese drei Arbeiten von uns im Vergleich sieht, taucht vielleicht die Frage auf – wie du sie ja auch bei anderen Regisseuren in ihrer Entwicklung sehen kannst – warum ein Werk, das sich aus dem Rohen heraus gebildet hat, immer verfeinerter wird, auch wenn man selbst eine ganz starke Affinität zum Rohen behält. Es gibt Leute, die das Rohe an “Step across the Border” lieben, und andere, die gerade diese Verfeinerung, diese Disziplinierung – wie du es nennst – in “Middle of the Moment” mögen. Das setzt sich mit “Three Windows” fort. Das ist sicher ein Schritt zu einer noch ausgearbeiteteren Form. Gleichzeitig gibt es aber etwas, was in allen Arbeiten ähnlich bleibt, glaube ich. Vielleicht das, was uns grundsätzlich am Medium Film interessiert: dem Unbegreiflichen der Existenz auf der Spur zu bleiben, Film nicht als Nabelschau, sondern als Suche nach dem faszinierend Unbegreiflichen, das man selbst ist, das die anderen sind, das sich im Leben auf dieser seltsamen Erde verbirgt.

War es eine bewusste Entscheidung von euch, an dieser Stelle in den Kunstkontext zu gehen, die Kinosituation zu verlassen und noch einmal weniger erzählerisch im traditionellen Sinne zu sein?

Nein. Das kam eher von außen als von innen. Warum wir uns dafür entschieden haben, diese Installation zu machen, hat sich im Grunde aus dem Gegenstand der Betrachtung heraus entwickelt. Seit wir mit Robert Lax für “Middle of the Moment” gedreht hatten, blieb der Wunsch, ihm eine eigenständige, auf ihn konzentrierte Arbeit zu widmen. Alle unsere Überlegungen, das in Form eines dokumentarischen Filmes zu tun, führten nicht wirklich zu dem, was wir zum Ausdruck bringen wollten. Also mussten wir eine Form finden, in die wir diese Annäherung an Lax und seine Dichtung übersetzen konnten. Es ging mehr darum, eine gestalterische Entsprechung zu finden, als etwas zu dokumentieren. Und da kamen wir zu der Idee eines eigenen Raums, als Raum der Begegnung mit Lax, als Angebot, in die Atmosphäre dieses Menschen einzutauchen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung, in diesem Raum mit drei simultanen Bildern zu arbeiten, war das Zeitmaß, das in Lax selbst begründet ist. Seine Langsamkeit. Wie konnten wir es schaffen, den Momenten wirklich ihre Zeit zu lassen und sie nicht dazu zu drängen, dass möglichst schnell alles zu Tage tritt, wie es bei einer linearen Filmerzählung der Fall ist. Eine lange Einstellung im Kino kommt dir schnell sehr lang vor. Du wartest darauf, dass das nächste Bild kommt. In dem Moment aber, in dem du mit drei Bildern gleichzeitig erzählst, kann dein Blick zwischen den Bildern schweifen, die alle sehr lang sein können und in denen möglicherweise nur ganz wenig passiert. Die Intensität von Zeitempfinden ist eine andere als im linearen Ablauf.

Es ist sicher ein Merkmal unserer Arbeiten, dass wir uns immer Leute aussuchen, mit denen wir etwas realisieren wollen, die ein stark entwickeltes Bewusstsein für Gegenwärtigkeit besitzen. Und das sind für uns immer beglückende Begegnungen. Sei es mit Fred Frith und Robert Frank in “Step across the Border”, sei es mit den Touaregs und Zirkusleuten in “Middle of the Moment” oder jetzt mit Robert Lax. Daraus leitet sich ja auch die eigentliche Herausforderung für uns und unsere Arbeit ab. Wie können wir zumindest annähernd die Gegenwärtigkeit, die wir in diesen Personen spüren, in Film verwandeln und sie in Form von Bildern und Tönen an die zurückgeben, die sie dann betrachten?

Man ist ja bei Filmemachern gewohnt, dass sie sich von einer radikaleren Position zu einer publikumsoffeneren Form entwickeln. Bei euch scheint das fast umgekehrt zu sein, auch wenn die Perfektion zugenommen hat.

Der Urgrund der Projekte bleibt vermutlich gleich, oder tritt immer mehr zu Tage – sowohl im Bewusstsein für das eigene Leben als auch für das, was wir darstellen wollen. Also immer mehr zu spüren, dass es um ein erhöhtes, geschärftes Momentbewusstsein geht. Vielleicht die einzige Antwort, die wir geben können. Und das versuchen wir in Film zu erzeugen. Insofern variieren die Arbeiten eigentlich nur in den Formen. Bei “Step across the Border” lag es im Sujet, dass es ein so flirrender Film wurde. Der erzählerische Rhythmus von “Middle of the Moment” war bestimmt durch das nomadische Leben, dieses Strömende, und jetzt bei Robert Lax ist es sein Zeitmaß, das uns letztlich zu dieser Form der gleichzeitigen Bilder geführt hat.

Aber man könnte doch denken, dass das zunächst einmal Konzentration raubt. Das Nebeneinander von verschiedenen Bildern wird ja immer häufiger und es scheint kaum jemandem zu gelingen, gerichtet damit umzugehen. Insofern ist es erst einmal überraschend zu hören, es gehe euch um Konzentration und Intensität.

Ja. Paradoxerweise geht es um eine größere Form der Reduktion als je zuvor. Vielleicht auch als Antwort auf diese Zeit, aber eben gleichzeitig mit den Mitteln dieser Zeit. Bei allen Verlockungen der Vielbildrigkeit immer wieder eine Schicht nach der anderen herunterzunehmen, bis du zu dem vordringst, was du wirklich zum Ausdruck bringen willst. “Three Windows” hat in diesem Sinne auch mehr mit Film zu tun, als mit dem, was man landläufig unter Videokunst versteht. Es geht durchaus auch um narrative Strukturen und nicht nur um eine visuelle Versuchsanordnung. Das ist auch die eigentliche Gratwanderung für uns: mit dokumentarischen Bildern in einen hohen Grad von Abstraktion zu gehen und dabei das Gefühl nicht zu verlieren. Diese Balance zu finden zwischen dem formalen Aspekt, der sicher bei all unseren Arbeiten mit im Zentrum steht, und der Emotion, um die es letztlich geht. Je stärker du in die Abstraktion gehst, desto unangreifbarer wirst du ja gleichzeitig.

Ich musste gerade an Comics denken. Das ist ja auch eine Bildfolge. In Amerika spiegelt man japanische Mangas, weil die ja für eine andere Leserichtung gezeichnet sind. In eurer Anordnung spielt die Leserichtung ja auch eine Rolle. Sie wird bedeutsamer, als wenn es nur ein Bild gäbe. Gibt es in eurem Triptychon eine Hierarchie der Bilder?

Wenn du drei Bilder gleichzeitig und nebeneinander hast, hast du ständig zwei Bezugsrichtungen. Und oft kommst du natürlich zu dieser klassischen Aufteilung, wie du sie beim Triptychon mit seinen zwei Flügeln und dem Zentrum hast, dass das wichtigste Bild in der Mitte steht und sich nach links und rechts eher der Raum öffnet. Im Verlauf des Schnitts sind wir zu ganz unterschiedlichen Konstellationen gekommen. Es gibt Sequenzen, da ist das Schwarz dominant, durchbrochen von einzelnen Bildern, die in einem bestimmten Rhythmus auftauchen und wieder verschwinden. Oder es gibt wirklich fließende Bildströme, in denen einzelne Einstellungen einander zugeordnet sind und gleichzeitig für sich ablaufen. Diese Einstellungsfolgen haben sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Erzählrichtung, mal ist die eine dominanter, mal die andere. Insgesamt wird sich eine Erzählung ergeben, die in sich ein Kreis ist. Das ist ja auch Teil des Konzepts, die drei Filme als Endlosprojektionen laufen zu lassen. Es beginnt in der Nacht, endet in der Nacht und eigentlich ist es egal, wann du eintauchst. Das ist in gewisser Weise auch eine Weiterentwicklung von “Middle of the Moment”, der ja auch schon eine Kreisdramaturgie hatte. Also eine erzählerische Situation zu finden, bei der du in gewisser Weise immer am Anfang der Geschichte bist, wie es ja der Wirklichkeit viel mehr entspricht. Du tauchst permanent in Geschichten ein, die schon längst angefangen haben und von denen du nicht weißt, wann sie aufhören werden. Aber du bist trotzdem in diesem Kreis.

Ihr unterscheidet euch von anderen Filmemachern, indem ihr eigentlich gar nicht wisst, was ihr filmt. Die Regel ist ja: ich mache ein Bild, um es an den Anfang zu setzen, oder um dieses oder jenes zu erzählen. Aber so könnt ihr ja nicht vorgehen. Die Ordnung kann ja erst am Schneidetisch entstehen. Wie geht ihr damit um?

Der Schneideraum ist sicher der eigentliche Ort unserer Kreationen, deshalb dauert das Schneiden bei uns auch immer so ewig lange. Natürlich gibt es bestimmte Vorüberlegungen. Und du brauchst ja auch ein klares Gefühl während des Drehens: wann drehe ich und wann drehe ich nicht. Und wenn du drehst, welche der schier unbeschränkten Möglichkeiten wählst du für eine Cadrage? Woraus nährt sich deine Entscheidung, wenn du nicht einfach ein Drehbuch abhakst, in dem alles schon mehr oder weniger beschrieben ist. Da kannst du dich letztlich immer wieder nur deinem Instinkt anvertrauen, und einer gewissen Erfahrung. Aber es ist sicher so, dass wir sehr stark aus dem gedrehten Material heraus arbeiten, um einen Film zu finden.

Was mich an alten Filmen begeistert, ist die Verschränkung aller Zeichen, was ja nur geplant geht. So etwas verschenkt man doch zu Teilen, wenn man so arbeitet wie ihr?

Diese Überlegung ist ganz sicher ein Punkt, der uns nach diesen Arbeiten der letzten zehn Jahre beschäftigt. Das Vertrauen darauf, dass aus einer entsprechenden Intuition während des Drehprozesses sich auch alles Material versammelt, so dass im letzten Schritt diese Verschränkung aller Zeichen stattfindet, bringt dich ja auch an eine Grenze. Und es passiert uns natürlich immer wieder, dass uns während des Schnitts bestimmte Elemente fehlen, die wir bräuchten, um manches noch einmal auf eine andere Ebene zu bringen. Unser nächstes Projekt wird wahrscheinlich deutlich narrativer werden.

Heißt das, euer nächstes Projekt ist ein Spielfilm?

Es ist nicht so, dass wir irgendwelche Projekte in der Schublade haben, aber wir denken darüber nach. Ja.

Es gibt ja im Moment ein großes Interesse am Prozesshaften, bei den Dogma-Leuten beispielsweise. Das sehe ich bei euch auch. Dieses Interesse an Abläufen, an der Verzögerung der eigentlichen Gestaltwerdung des Filmes, an der Art, wie Arbeit organisiert wird. Woher kommt dieses Interesse?

Ich denke, es gibt – wie es sie immer gab – eine bestimmte Strömung innerhalb der Kunst, die das Machen von Kunst in einem sehr starken Kontext zu ihrem eigenen Leben praktiziert, also das Ganze zu einer Einheit von Kunst und Lebensform zu bringen. Und das ist ja auch die eigentlich spannende Frage: Welche Verbindung kann da bestehen zwischen dem Weg, Dinge herzustellen und dem eigenen Leben? Das Prozesshafte ist das, was letztlich menschliche Entwicklung bedeutet.

Vorwort/Gesprächsführung: Christoph Hochhäusler (05.05.1999). Protokoll: Nicolas Humbert.

“Three Windows” ist zu sehen im Haus der Kunst, München (6. August – 26. September 1999), P3Art and Environment at Tocho-ji Zen-Temple, Tokyo (1. Oktober – 3. November 1999), Kunsthaus, Zürich (26. November 1999 – 16. Januar 2000), Kiasma Museum of Contemporary Art, Helsinki (Frühjahr 2000).

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