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Interview: Hanns Zischler

Schreiner: Begonnen hast du als Schauspieler bei Studentenfilmen der HFF München. Wie kam es dazu?

Zischler: Das kam durch eine örtliche Überschneidung der Hochschulbereiche. Die Universität, die Akademie und die Filmhochschule befanden sich in einem Radius von 500 Metern zueinander, und so waren auch die entsprechenden informellen Treffpunkte, das heisst die Kinos, Cafés, Kneipen und auch die Wege ähnlich, die von den verschiedenen Hochschulangehörigen aufgesucht wurden. So kam es zu den Kontakten mit den Filmhochschülern. Einige davon haben mich angesprochen – Urs Aebersold und Wenders – wegen meiner ungewöhnlichen Kleidung. Ich hatte immer dunkle Anzüge an, die ich von meinem Onkel übernommen hatte, der im Krieg gefallen war. Das waren Anzüge und auch Mäntel aus den 40er Jahren. Ich hatte nichts anderes zum Anziehen und bin halt damit herumgelaufen. Sie fragten mich, ob ich wegen meines Outfits in den Kurzfilmen, die sie vorbereitet hatten, mitwirken wollte. Weil sie damit jemanden hätten, der das Outfit bereits hat. Das war Film Noir perfekt.

Wir haben gemeinsam an Wenders „Same Player Shoots Again“ und „Alabama“, an Aebersolds „Ballantine’s“ und „Boomerang“, an Schwamms „Paradiesgarten“ gearbeitet … Zwei standen hinter der Kamera und zwei davor, und die anderen waren irgendwie in der Nähe. Im Grunde ist diese Verteilung, wer wo stand – ich überspitze das jetzt – ziemlich beliebig. Eine bestimmte Konfiguration, eine bestimmte Grundmenge musste sich herstellen, etablieren, um etwas auszuführen. Das ideale Beispiel ist „Same Player Shoots Again“. Ich glaube, wir waren da zu viert. Einer musste das Auto fahren. Einer musste drehen. Ton gab’s nicht. Einer musste schieben. Und einer musste spielen. Das Drehverhältnis war etwa 1:1. Ich hab mich nie darüber unterhalten, was die Filmstudenten eigentlich im Kopf hatten. Ich habe mir nur die Spielaufgaben angesehen. Und die Neugierde war entscheidend. Jean Pierre Melville und Howard Hawks waren starke Einflüsse. Du darfst nicht vergessen, mit 20 kannte man nicht so viele Filme. Und damals (1967) waren sie ja nicht so zugänglich wie heute.

Also auf diese Weise, die eher eine zufällige, kostümbedingte und topographische war, teilte man so etwas wie dieselben aufsässigen, vektoriellen Ideale. „Vektoriell“ nenne ich Bewegungen in der Strasse, zum Beispiel Demonstrationen. Man benutzte die Strasse für andere Bewegungen, als dies in der Strassenverkehrsordnung vorgesehen ist. Das war eine gemeinsame Befindlichkeit. Wir haben auch sehr gefährliche Sachen gemacht. Stunts. Aus dem fahrenden Auto rausfliegen, in Kiesgruben.

Wie beurteilst du die Entwicklung der Regisseure, mit denen Du damals gearbeitet hast?

Unter den Münchner Filmstudenten gab es eine extreme Aufspaltung, die nicht aggressiver Natur war, aber ästhetisch zu völliger Polarisierung führte. Theuring ist jemand, der im Straubschen Sinn Filme gemacht hat und von Godard sehr inspiriert war. Auch mit der ganzen ethischen Strenge – in diesen Filmen ist ja immer eine implizite Ethik. Wenders war viel mehr auf Amerika fixiert. Die spätere Entwicklung ist dann absehbar. In dem Moment, wo man wirklich an Geld kommt, um zu produzieren, wird man sich bestimmte Untugenden aneignen müssen. Ich nenne das Untugend, wenn die progressive Vergrösserung des Apparats mit einer Schmälerung des ästhetischen Potentials einhergeht. Das sehe ich so bei Wenders. Bei Theuring ist der extrem andere Fall eingetreten. Theuring ist so gut wie nie an Gelder herangekommen. Und er hat eine starke ästhetische Kraft, bis heute. Damit tut sich eine tragische Kluft zur gesellschaftlichen Anerkennung auf. Man könnte es auch als Verzicht sehen. Die Frage bezieht sich auf eine langfristige Entwicklung. Ich will das nicht evolutionsgeschichtlich sehen, aber es gibt ein merkwürdig intimes und geheimnisvolles Verhältnis zwischen dem pekuniären Zuwachs an Produktionsmitteln und einer irgendwann dann abnehmenden ästhetischen Potenz. Die Crux ist eben, dass in der Regel die Gelder, die gegeben werden, mit Erwartungen beklebt sind. Das Geld ist sozusagen eine sinnlich-materiell gewordene Erwartung. Offensichtlich ist es schwer, sich von dieser Erwartung zu lösen.

Dann müsste das Interessanteste an den Filmhochschulen laufen, weil die Studenten weniger Mittel haben.

An den Filmhochschulen kann gar nicht das Interessanteste laufen, weil die Mehrzahl der Filmhochschüler mit eisernem Blick auf die Knete antritt. Verstehst Du? Das war damals nicht der Fall.

Die Filmstudenten müssten den Blick vom Geld abwenden. Aber wie kann das gehen?

Das ist eine Frage der Ausbildung, der Erziehung. Die meisten Filme, die uns heute interessieren, die uns noch interessieren, die uns immer wieder interessieren, sind diejenigen, von denen wir etwas lernen, die uns aufregen, mit denen wir uns auseinandersetzen. Die uns eine Welt zeigen, in der wir uns nicht gleich wiedererkennen. Wir sehen uns diese Filme immer wieder an. So wie man gute Gedichte, gute Prosa immer wieder liest. Das ermüdet nicht. Erstaunlicherweise sind genau diese Filme aus einer gewissen Not der Produktion entstanden, einer tugendhaften Beschränkung der Mittel. Die Tugend bei Cassavetes zum Beispiel ist die, dass er mit weniger Mitteln und besseren Freunden zu grossartigen Filmen kam. Ich würde so weit gehen und behaupten, dass sich Zurückhaltung in den Mitteln immer bezahlt macht.

Du hast mit verschiedenen europäischen RegisseurInnen zusammen gearbeitet – beispielsweise mit Godard, Szabó, van Ackeren, Holland, Cavani oder José van der Schoot. Wie sieht das jeweils konkret aus, auch hinsichtlich des ästhetischen Anspruchs? Und welche Wirkung hat das auf Deine Rolle, auf Dein Spiel?

Um mit dem Schluss anzufangen: Welche Wirkung das auf mein Spiel hat, das weiss ich nicht. Das muss der Zuschauer entscheiden, weil ich selber an meiner Wirkung nur insofern interessiert bin, als ich sagen kann: Es muss akzeptiert werden, akzeptiert werden können. In erster Linie vom Regisseur, vom Kameramann. Weil sie die vorgeschalteten Zuschauer sind. Mich selber interessiert es wenig, wie ich mich dabei fühle. Das hat mit meiner Empfindlichkeit gar nichts zu tun. Es ist eine Spielaufgabe, auf die ich mich einlasse. Und das einzige, was mich dabei beschäftigt, ist, die so zu lösen und so zu beherrschen, dass es überzeugend ist.

Die Arbeit mit den verschiedenen Regisseuren im Konkreten ist natürlich extrem unterschiedlich. Bei Chabrol ist es so, dass er niet- und nagelfeste Drehbücher schreibt. Im traditionellen Sinn gibt er Dir eine Rolle. Durch seine Ubiquität, durch seine genusshafte und gleichzeitig aufgelockerte Art, auf die Dinge zuzugehen, schafft er eine Grundstimmung, die es einem sehr leicht macht, darauf einzugehen. Godard ist das andere Beispiel. Er verteilt keine fertig geschriebenen Bücher – ich kenne das zumindest nicht. Er redet eigentlich von anderen Dingen als von der unmittelbaren Spielaufgabe. In unserem Fall – bei „Allemagne Neuf Zéro“ – hat sich das auf ganz andere Bereiche erstreckt, nämlich: Wie reist man in Deutschland? Was gibt es für Landschaften, die einem in den Sinn kommen, wenn man „Deutschland“ denkt? Das waren Vorbereitungen völlig anderer Art, in die hinein dann so etwas wie ein Spiel gesetzt wurde. Aber dieses Spiel war eigentlich wie ein Nebenprodukt der vorhergehenden Gedanken. Also ich würde sagen, dass die Gedanken, Überlegungen, Begegnungen und Reisen das Materiellere der Angelegenheit waren. Dass der Film als Ergebnis dann durchaus eine eigene ästhetische Kohärenz hat, das ist Godards Fähigkeit, Verdichtung durch Zitate zu erreichen; also in diese landschaftliche Ausstattung Zitate so zu montieren, dass man es für eigene, aus dem Spiel heraus entstandene Bewegungen und Darstellungen halten könnte.

Deine Zusammenarbeit mit Rudolf Thome begann 1979 mit „Berlin Chamissoplatz“. Vor kurzem hat er die Dreharbeiten zu „Paradiso. Sieben Tage mit sieben Frauen“, wieder mit Dir in der Hauptrolle, abgeschlossen. Wie war das Arbeiten mit ihm?

Thomes jüngster Film „Paradiso“ war für mich ausserordentlich aufschlussreich und eigentlich auch ausserordentlich wohltuend. Aufschlussreich war, dass ich Thome sehr viel besser verstehe als noch vor 15 Jahren. Wir waren im Streit auseinander gegangen. Plötzlich war eine neue Situation da, vielleicht weil inzwischen so vieles passiert ist, was nichts mit uns beiden zu tun hatte. Wir sind anders geworden und haben uns anders zueinander verhalten können. Es war keine vergangene Belastung mehr da. Die war irgendwie abgetragen, hatte sich abgeschliffen; verweht wie eine Düne. Ich habe mich viel rückhaltloser auf ihn einlassen können. Ich würde fast sagen: weniger kritisch und weniger kritisierend als früher. Mit einer intellektuellen Kritik will Rudolf während der Arbeit nichts zu tun haben. Was ich inzwischen sehr gut nachvollziehen kann. Denn die intellektuelle Kritik eines Schauspielers an der Regie ist in vielen Fällen extrem destruktiv, auch wenn es in bester Absicht geschieht. Es ist nämlich nur Besserwisserei, denn man kann die Vorbehalte oder die Korrekturen und Anmerkungen auch anders vorbringen. Das meine ich durchaus selbstkritisch. Man ist besser beraten, wenn man sich zurücknimmt.

Du hast ja kürzlich mit einem jungen deutschen Talent zusammengearbeitet, bei „23“…

„23“ war für mich eine sehr schöne Arbeit. Und das Ergebnis hat mir gut gefallen. Für einen jungen deutschen Film ungewöhnlich genau erzählt. Also, das ist schon etwas, was mich sehr beeindruckt. Auch wie Hans-Christian Schmid mit Schauspielern umgegangen ist und sich eigensinnig an so einem verrückten Thema entlang gearbeitet hat. Und er hat auch ästhetisch gute Lösungen dafür gefunden. Bei mir funktionieren Filme, wenn Nachbilder dableiben. Und da sind Nachbilder hängen geblieben. Ich glaube nicht, dass man einfach behaupten kann, ein Film sei grossartig, wenn man sich an nichts mehr erinnern kann.

Was sind deine Ansprüche an einen guten Film?

Ich habe keine Ansprüche. Ich glaube, die Auseinandersetzungen, die wir mit dem Imaginären tagtäglich haben – das ist ja das, was uns umtreibt im Leben – haben sich durch das Kino entscheidend verändert. Das Kino liefert uns quasi nach aussen gestülpte Bilder eines immer wieder anlaufenden und abreissenden Tagtraums. Das, was wir das Imaginäre nennen, oder womit wir uns im Imaginären auseinandersetzen, ist eigentlich auch und vor allem das, was uns vom Kino dazu gegeben wird. Ich glaube, dass die Lektüren, die früher viel massiver bei den Menschen gewirkt haben, heute teilweise überlagert sind von dem Imaginären des Kinos. Eigentlich kommen da Mischbilder durch das Kino auf uns zu, die wir gar nicht selbst ersinnen könnten. Ich habe die Möglichkeit, mit Hilfe zusammengesetzter, montierter Bilder die Welt zu betrachten, wie sie vorher zu betrachten unmöglich war. Das ist das Unfassbare des Kinos.

Ist das etwas Visionäres?

Es ist nicht nur visionär. Es ist das Entziffern einer immer neu entstehenden, aus dem Imaginären sich speisenden Schrift oder Bilderschrift. Es ist ja auch kein logischer Prozess, was uns da so beschäftigt. Es ist kein Kosten-Nutzen-Phänomen. Es ist ein Delirium, ein noktambules Delirium, dem wir uns da hingeben und in dem wir uns auf eine groteske Weise auch wiedererkennen in aller Fremdheit.

Spielt dabei Selbsterkenntnis eine Rolle?

Selbsterkenntnis würde ich es nur bedingt nennen. Ich würde es eher eine Fremderkenntnis meiner selbst nennen. Wie ich anders bin, wie ich anders sein kann. Welches Potential in immer denselben Optionen liegt. Es gibt nur ein paar Optionen. Du kannst Dich verlieben, Du kannst jemanden umbringen, Du kannst allein bleiben … Aber wie ich diese Optionen angehe, wie ich sie mir vorstelle, das ist eine Sache, die interessant wird, weil die Ästhetik ins Spiel kommt. Und das Kino spielt eine ungeheuerliche Rolle, weil es eine grosse Bandbreite von Wissen und Nichtwissen vor Dir entfaltet. Das ist aufregend. Wir gehen nicht aus Bedarfsgründen ins Kino oder aus Grundnahrungsgründen. Es ist ein Genuss, der mit Dingen zu tun hat, die nicht zum Bedarf gehören, sondern sie gehören zum Bedürfnis. Es ist die Welt des Wunsches, die da vor uns aufgefaltet liegt.

Das Interview führte Gabriele Schreiner im November 1999 in Berlin. Bearbeitung: Gabriele Schreiner und Sebastian Kutzli.

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