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Fast Forward: Christoph Hochhäusler

Filme und Fallobst
Über den Umgang mit Filmgeschichte

Wer Filme machen möchte, möchte gute Filme machen. Daraus ergeben sich zwei Fragen: 1. Was ist ein guter Film? 2.Wie lässt sich ein guter Film herstellen? Auf die erste Frage glaubt jeder die richtige Antwort zu haben. Erst mit der zweiten Frage verkompliziert sich die erste. Denn bald stellen wir fest, dass die „guten“ Filme unserer Erinnerung in ihrer Güte und in ihren Fehlern individuell sind. Und der Versuch, aus ihren Gemeinsamkeiten den richtigen Weg zu destillieren, bleibt unbefriedigend. Zu viele Variablen in einer Gleichung. Letztlich stossen wir auf der Suche nach der Funktionsweise des Films auf einen Berg von Binsenweisheiten und machen die frustrierende Erfahrung, dass es nicht nur keine verlässliche Theorie gibt, sondern überhaupt keine Verbindlichkeiten. Die Reaktion darauf ist Panik und gipfelt nicht selten in der Beschwörung der „Regeln“. Insgeheim aber wissen wir alle: Es gibt keinen „richtigen“ Weg.

Was bleibt, sind eigene Erfahrungen, die man ins Verhältnis zu anderen zu setzen versucht. Und hier kommt, spätestens, die Filmgeschichte ins Spiel. Denn jeder Film, alt oder neu, ist Resultat der Erfahrungswelt seiner Autoren, und als solcher auch als eine Art Bauplan interessant. Die treibende Kraft ist immer die Anwendung, das Verstehen-Wollen, das Gewusst-Wie. Warum funktioniert diese Idee, die andere nicht (mehr)? Mit dem Abstand der Zeit klärt sich manches, anderes verblasst, wird unverständlich. Truffauts berühmter Satz bringt das Interesse der Filmemacher auf den Punkt: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Unser Interesse ist also ein alchemistisches, wir wollen aus Dreck Gold machen. Jeder bricht sich aus dem Berg der Dinge ein anderes Erz, macht sich seinen Reim entlang seiner eigenen Erfahrung.

Die einzigen Augen, die wir Filmemacher haben, sind die eines Diebes. Neugier heisst für uns: Ich bin bereit zu stehlen. Und so kommt es, dass die Filmgeschichte als Ganzes nur Wenige anzieht. Man spezialisiert sich. Es gibt die Gelegenheitsdiebe, die nehmen, was kommt, und die Methodiker, die zum Beispiel Gesten suchen oder Wörter, Bewegungen oder Muster. Wir Filmemacher sehen uns gerne als Raubtiere, nicht als Aasfresser oder Wiederkäuer.

Aber wo wir Jäger sind, sind die Historiker Sammler. Ihre Systeme unterscheiden sich radikal von den unsrigen. Die Historiker fragen nicht nach dem Phänomen Film, so wie die Mediziner nicht nach dem Leben fragen. Und auch die handwerkliche Umsetzung interessiert sie nicht wirklich (meistens wissen sie nicht, wie man Filme macht, wie zufällig vieles ist, wie bewusst das andere). Sie lassen sich auch nicht von einer Geschichte berühren oder einem Thema. Das wäre unwissenschaftlich. Vielmehr fragen sie nach „Strömungen“ und „Schulen“, nach „Begründern“ und „Vordenkern“, nach „Stilen“ und „Richtungen“. Sie untersuchen den „poststalinistischen sozialistsichen Realismus in der Sowjetunion“ oder den „US-amerikanischen Underground Film“. Aus einem Haufen von Filmemachern basteln sie eine Galerie der grossen Männer. Und wenn es einmal nicht um geographische oder formale Zusammenhänge geht, dann wird gezählt: Jahr, Anzahl produzierter Filme, Einnahmen etc. Wir Filmemacher haben meistens das Gefühl, dass Filme wie Fallobst sortiert werden. Nicht der Geschmack der Birnen ist entscheidend, sondern Lage, Farbe und Grösse.

Der amerikanische Kritiker Richard Schickel sagte einmal in einem Interview: „Ich habe eine ausführliche Biographie über D.W. Griffith geschrieben und sein ganzes Werk wieder und wieder angesehen, aber es würde mir nichts ausmachen, keinen seiner Filme jemals wieder zu sehen. Sicherlich, er hat einige wichtige Neuerungen für den Film entdeckt und angewendet, aber seine Filme sind im Grunde qualvoll anzusehen.“ Das bringt unser Dilemma mit der Filmgeschichtsschreibung auf den Punkt: Vieles, was „wichtig“ ist, berührt uns nicht. Und vieles von dem, was uns berührt, erscheint der Filmge schichte nicht wichtig. Ich will nicht behaupten, Griffith könnte nicht berühren, ich sage nur, dass das der Filmgeschichtsschreibung egal ist.

Filmemacher sind nicht die instinktiven, archaischen Wesen, für die sie sich gerne halten. Ein grosser Teil unseres Selbstverständnisses ist Safari-Kitsch. Und es könnte nicht schaden, auf die geschraubten Windungen unserer Kreativströme mit der kristallernen Härte der Wissenschaft zu antworten. Aber eine Theorie, die die Filmemacher wirklich betreffen soll, muss vom Menschen ausgehen. Sie muss das Phänomen des Schauens und Sehen-Wollens zu ergründen suchen. Es lohnt nicht, Geschichte zu dokumentieren, wenn man keine Fragen an sie hat. Kurz gesagt, die Filmgeschichte muss sich von ihrenüberschriften und ihrem zoologischem Vokabular befreien, wenn sie wirken möchte. Und, ja, sie soll wirken wollen.

Christoph Hochhäusler

Dieser Beitrag wurde verfasst für: „Medienhochschulen und Wissenschaft: Strukturen – Profile – Positionen/Karl Friedrich Reimers; Gabriele Mehling (Hg.)“. Er wird hier mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber parallel veröffentlicht.

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