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Interview: Peter Kubelka

Revolver: Sie haben einmal behauptet, jeder der kochen kann, könne auch Filme machen. Was haben sie damit gemeint?

Kubelka: Sagen wir, der Mensch ist eine Tiergattung, die gewisse Fähigkeiten hat, und wenn die EINER hat, dann haben sie ALLE. Eine Lerche ist ein Singvogel, jede Lerche kann singen. Ein Mensch ist ein Handwerker, das heißt, er ist ein Bildner, er kann mit den Händen etwas formen. Film und kochen haben eine Gemeinsamkeit, es handelt sich in beiden Fällen um körperliche Dinge, die künstlich, also vom Menschen geformt werden. Man darf sich nicht durch das Alltägliche täuschen lassen. Wenn man heute sagt, kochen und Film seien ganz ähnliche Dinge, dann sagt jeder: Kochen ist zum Essen und Film ist zum Anschauen. Wenn man es aber so sieht, dass beides plastische Formen sind, die von Menschen gemacht werden, und die – jetzt kommt das Wesentliche – eine Aussage treffen, im Kopf des Beschauers oder des Essers Gedanken auslösen, dann merkt man, das sind beides Medien.

Was mich am Kochen interessiert, ist nicht der Aspekt, der heute im Vordergrund steht, also wie das Essen chemisch aufgebaut ist oder wie man am besten abnehmen kann. Mich interessiert die Tatsache, dass seit einer ganz frühen Entwicklungsstufe der Menschheit Speisen geformt wurden. Und in jeder Kultur wurden aus den selben Rohmaterialien andere Skulpturen geformt, die zusätzlich auch noch essbar waren. Essen ist also nichts anderes als ein Medium – zwischen mir und dem Konsumenten – mit dem man Gedanken ausdrücken kann. Ein Buch wird mit den Augen gelesen. Das Kochen hingegen wird nur im Vorkontakt von den Augen beurteilt, gelesen wird es im Mund. Wenn man nun fragt, wovon spricht das Kochen?… Das Kochen feiert die Anwesenheit des Menschen in einer Welt, die er sich essbar gemacht hat.

Ein sehr frühes Grundthema des Kochens waren die Konsistenzen, Zustände, in denen wir die Welt vorfinden. Als Beispiel zitiere ich eine jüngere essbare Plastik, die Wiener Cremeschnitte. Sie besteht aus einer Unterschicht und einer Deckschicht aus einem extrem brüchigen Material – das ist der Blätterteig, hergestellt aus gemahlenen Getreidesamen, in Verbindung mit konzentrierter Muttermilch in der Form von Butter, Wasser sowie ungeborenen Hühnern, das sind Eier – und dieses Material wird in extrem dünnen Schichten angelegt. Darüber kommt ebenfalls Eier enthaltende Creme, eine gelbe, wolkige, absolut widerstandslose Schicht, die man mit der Zunge allein zerteilen kann, von der die Zähne gar nichts spüren. Und warum kombiniert man nun diese beiden Materialien? Die Wiener Cremeschnitte definiert zwei extreme Konsistenzen durch Gegenüberstellung. Sandig, zerbrechlich und schaumig, flaumig, weich. Wenn das keine theoretische Abhandlung ist, dann weiß ich nicht, was soll das sonst sein?

Und all das kann man mit dem Auge nicht analysieren. Man begreift hier sehr gut, wozu das Auge beim Essen da ist, nämlich nur zur Erinnerung, zum Vorgeschmack. Wenn ich einmal eine Cremeschnitte gegessen habe, dann erkenne ich sie wieder. Aber der Erstkontakt, der wesentliche Kontakt, bei dem ich die Botschaft lese, das ist, wenn ich reinbeiße. Kein Mensch kann übrigens eine Cremeschnitte essen ohne zu patzen, oder ohne die geometrische Form zu zerstören. Man kann, sagen wir, sauber abbeißen von einer Semmel, aber von einer Cremeschnitte kann niemand sauber abbeißen.

Und jetzt kommen wir wieder zu einer Ähnlichkeit mit dem Kino, das ja auch ein in der Zeit ablaufender Vorgang ist. Das Kochen und das Essen ist nicht statisch, wie die Malerei, die man anschaut und dann muss man wieder gehen und die Malerei bleibt hängen, sondern wir sind in einem Zeitablauf, in einem gestalteten Zeitablauf – etwas sehr wichtiges beim Essen – der dann endet, wenn man das Kunstwerk aufgegessen hat.

Das Ereignis ist sozusagen ein vergängliches, so wie Film oder Musik, aber es kann auch wie Film und Musik wiederholt werden. Wenn man moderne, nicht essbare Skulpturen zerstört, dann sind sie eben zerstört und sind nicht wiederholbar in dem Sinn, dass das Original wieder hergestellt werden kann.

Wobei so eine Cremeschnitte wahrscheinlich auch einzigartig ist.

Einzigartig wie ein Lied. Verstehen Sie? Das gesungene Lied ist weg, aber derselbe Sänger kann das Lied sehr ähnlich wiederholen, nie ganz genau so, aber es bleibt doch sein Lied, sein Stil, seine Stimme. Das ist die Tradition, die man in der Literatur die orale Tradition nennt, beim Kochen oder beim Tanz kommt dann die gestische Tradition dazu. Die Fähigkeit, das Kunstwerk zu artikulieren, wird von Person zu Person weitergegeben.

Wenn wir uns jetzt mit der Geschichte der Menschheit beschäftigen, dann gibt es zwei Hauptströmungen der Überlieferung. Das Eine ist die Überlieferung von Hardware, also Pyramiden oder Plastiken – und das Andere ist die Überlieferung von Software, also von Inhalten, die von Lebewesen zu Lebewesen, von Generation zu Generation weitergereicht werden. Und diese Überlieferung ist interessanterweise haltbarer und beständiger und reicht weiter zurück. Jetzt sind wir bei einem ganz wichtigen Punkt, der mich am Essen fasziniert. Wenn man einmal begriffen hat, dass es sich beim Essen um ein Ausdrucksmedium handelt, das Mitteilungen enthält, dann trägt uns die Beobachtung von Speisezubereitungen weiter in die Vergangenheit der Menschheit als jedes andere Dokument, also viel, viel weiter als z.B. die Höhlenmalerei. Die Höhlenmalerei reicht vielleicht 40.000 Jahre zurück, während die Kochprozesse Hunderttausende, ja Millionen Jahre zurückreichen. Wir haben über die tradierten Kochwerke und Speisebereitungen die Möglichkeit, Nachrichten aus der allerfrühesten Zeit der Menschheit zu empfangen.

In diesen Speisen drücken sich dann auch Weltbilder aus.

Natürlich, kochen drückt Weltanschauung aus, es enthält Weltbilder. Sagen wir, wir gehen ins bayerische Barock, wo die Altäre diese Fröhlichkeit ausdrücken, diese neue Fröhlichkeit nach dem dreißigjährigen Krieg, alles ist plötzlich hell und der Altar besteht aus Gipswolken und da schweben die Engelein – die Kirche hat ja damals das Fernsehen und das Theater ersetzt, die Kirche war ja auch die Unterhaltung. Und jetzt gehen wir ins Kochen und sehen da eine interessante Parallelentwicklung. Gleichzeitig mit den fröhlichen Barockaltären hat das Kochen das Kartoffelpüree entwickelt. Das Erdäpfelpüree ist nichts anderes als die Gipswolke, hell und flaumig. Wenn man die Kartoffel aber sozusagen mit der alten Weltanschauung behandelt, dann wird sie einfach gekocht oder ins Feuer gelegt, unter die Glut und erscheint dann also in einer wunderbaren Metamorphose als schwarze Kugel, die, wenn man sie öffnet, nach Asche duftet und die Kartoffel freigibt. Aber diese Kartoffel ist eben schwer, erdenschwer. Das Kartoffelpüree hingegen vermengt konzentrierte Muttermilch, also Butter und Milch, mit der einer Metamorphose unterzogenen Kartoffel, die also nicht mehr die alte Form zeigt, die ihr eigentlich eigen ist. Die neue Form hat die Erdenschwere abgelegt. Wenn man Kartoffelpüree in die Luft wirft, kommt es nur langsam wieder herunter – wenn es richtig flaumig ist. Es kann natürlich in der Flugfähigkeit nie ein Schneenockerl erreichen, das Schneenockerl ist ein anderer Ausdruck der Leichtigkeit. Wenn man daran denkt, wie dieses schwere plumpe Hühnerei aus dem Hintern des Hendls kommt und sich in einem Prozess, der in der Natur nicht vorkommt, in eine Art Wolke verwandelt, mit einer Leichtigkeit, leichter als Luft…

Um jetzt wieder auf den Film zurückzukommen: Der Film ist ebenfalls eine Skulptur, der Filmstreifen ist ein körperliches Objekt, auf dem ich als Filmmacher mein Weltbild auftrage. Bild für Bild forme ich Licht, das später eben durch diese Skulptur durchgeschickt wird und ich rufe auf diesem Weg gewisse Gedanken in den Köpfen der Zuschauer wach. Sie sehen also, das ist eigentlich derselbe Prozess wie beim Zubereiten einer Speise.

Nur dass er anders gelesen wird.

…und dass er natürlich unserer Kulturstufe entspricht. Der Schritt von der Marmorskulptur zum Film ist so groß, dass es viele Leute gar nicht mehr als dasselbe Medium erkennen wollen. Die Skulptur wird plötzlich ganz dünn, sie wird durchscheinend, und sie wird bewegt, im Projektor. Auf der Leinwand bewegt sich NICHTS, weil ja nur statische Einzelbilder auf die Leinwand geschossen werden. Das Erlebnis der Bewegung ist ein virtuelles, das heißt, ich erlebe die Illusion einer Bewegung, wenn ich im Kino sitze, niemals wirkliche Bewegung.

Das war auch die Grundlage meiner metrischen Filme, diese Erkenntnis, dass ich mit dem Film 60 mal 24, also 1440 Möglichkeiten einer optischen Mitteilung pro Minute habe. Das ist die Atomsprengung im Film, das macht den Film zu einem so potenten Mittel, die Zeit zu bearbeiten. Aber, wenn wir jetzt zurückgehen in der Ahnenreihe des Films, dann kommen wir zuerst zur Malerei, das ist eine verdünnte Skulptur, die statisch ist, die Malerei wird dann zur Plastik, zur Steinskulptur, die Steinskulptur wird zu einer Holzskulptur. Ich möchte ihnen ein Beispiel zeigen, damit sie das gut verstehen…

(Er holt Skulpturbeispiele)

Also wenn wir eine Skulptur von Michelangelo oder Rodin betrachten, dann ist diese Skulptur zur Gänze künstlich geformt vom Menschen. In einer früheren Form haben sie zum Beispiel das hier…

(zeigt)

…diese Form stellt einen Bison dar, sie kommt aus Nordamerika und war eine Arbeitsskulptur. Sie diente also nicht ästhetischen Zwecken allein, sie war dazu da, im Dienste eines Schamanen gewisse Arbeiten in der nicht sichtbaren Welt zu machen. Ein Großteil der Oberfläche ist gar nicht bearbeitet, das heißt, derjenige, der die Skulptur gemacht hat, sah in dem Stein schon den Bison und hat dann nur ein paar kleine Korrekturen angebracht. Wir haben also natürliches Material, welches nur zum Teil bearbeitet wird – jetzt sind wir schon bei einer Parallele zum Kochen.

Wenn wir noch eine Stufe zurückgehen in der Skulptur, dann kommen wir zu solchen Gegenständen…

(zeigt)

…die gefunden wurden. Das sind nicht menschengemachte, sondern natürliche Formen, die gewisse Assoziationen auslösen. Das heißt, die früheste Stufe in der Kunst ist das object trouvé, das gefundene Objekt und das entspräche in der Küche der gefundenen Speise, die Himbeere vom Strauch, ohne sie zu behandeln.

Und die Verdichtung dessen wäre dann?…

Die Verdichtung zum Beispiel der Himbeere zu einer Handvoll Himbeeren ist eine unerhörte Erfindung, geschehen zu einer Zeit, in der kein Werkzeug bereitstand, vor der Steinzeit, vor mehr als dreieinhalb Millionen Jahren. Ich nenne diese Zeit die Weidezeit, in der das Menschentier, so wie heute die Primaten, in einer Umgebung, die es gut kannte, von einer vom Schöpfer bereiteten Essmöglichkeit zur anderen gewandert ist und geweidet hat.

Wie könnte Verdichtung im Film aussehen?

Wir haben jetzt gerade dieses Bild vom Bison angeschaut. Mit unseren heutigen Gehirnen, die durch die naturalistische Plastik geformt sind, schauen wir das an und sagen, naja gut, mit gutem Willen hat es eine Ähnlichkeit, aber da fehlt allerhand. Wenn man nun in einer gewissen Zukunft auf unsere heutigen Filmbilder schaut, auf die Photographie, dann wird das so sein wie mit diesem Bison. Dann wird man sagen, mit viel Mühe sieht man eine gewisse Form, damals wurde das Marlon Brando genannt, aber eine Ähnlichkeit mit einem Menschen hat das eigentlich kaum, oder mit Natur… Also das ist rührend, wie die das damals gesehen haben. So müssen wir das Filmbild sehen, heute schon, das heißt, es ist eine Andeutung, nicht mehr. Nur wir mit unserer Phantasie können im Filmbild tatsächlich auf die Wirklichkeit schließen, so wie für den Prärieindianer der Vorzeit dieses Stück Stein genügt hat, um einen Bison in seiner Gesamtheit anzudenken und sich vorstellen zu können. Ich habe also gewisse Möglichkeiten, auf meinen Filmstreifen ein Abbild der Natur einzufangen. Und dann bietet sich eben die Möglichkeit des Films, weil es sich um lauter statische Bilder handelt, diejenigen, die ich nicht will, herauszunehmen.

Sagen wir etwas ganz Einfaches. Wenn ich die Kamera einen Tag lang laufen lasse, dann wirft um zwei nach elf ein Kind einen Ball und drei Sekunden später fährt ein Auto vorbei, dann singt irgendwie drei Stunden später einmal ein Vogel und landet gerade dort, wo es mich interessiert – und die übrige Zeit ist nichts. Das heißt Nichts für den, der eben am Vogel, am Auto und so weiter interessiert ist. Und dieses Nichts nehme ich heraus und verdichte die Ereignisse, die jetzt plötzlich eine ungeheure Kraft entfalten, denn jetzt geht’s eben Kind, Vogel, Auto, Ball. Das heißt, ich kann Zeit verdichten, ich kann unwichtige Teile der tatsächlichen Natur entfernen, so wie ich bei den Himbeeren den Strauch, die Zwischenräume, die Stacheln entferne, bis ich nur mehr Himbeeren in der Hand habe. Genauso ist es mit der Filmhimbeere sozusagen, ich verdichte das Interessante und Essbare an der Wirklichkeit zeitlich.

Die andere Möglichkeit ist, räumlich zu verdichten, ich kann mich bewegen mit meiner Kamera. Sagen wir, ich interessiere mich für die Tätigkeit Ihrer Hände, dann begleite ich sie einen Tag lang. Ich nehme auf, was Ihre Hände hier tun, was sie auf der Straße tun, und wenn sie etwas arbeiten oder kochen, dann verdichte ich diesen Raum, indem ich am Betrachtungsort alle Beobachtungen konzentriere, die in Wirklichkeit an verschiedensten Orten geschehen sind. Im Tonfilm kann ich verdichten zwischen Auge und Ohr. Die Kinoprojektion ist antropomorph, sie ist menschenförmig, das Filmereignis ist ein Abbild der Hör- und Sehvorgänge im Kopf des Beschauers. Sie wissen, dass Ihr Ohr in der Nähe Ihrer Augen ist, wenn Sie also zugleich etwas hören und sehen, dann muss das in gleicher Entfernung von Ihren Augen und Ihren Ohren sein. Das weiß Ihr Hirn. So sind wir gemacht. Wir sind ja nichts anderes als ein lockeres Bündel aus diesen Sinnen, die zusammen gepackt sind an unserem Körper und aus ihren synchronen, gleichzeitigen Botschaften leiten wir ab: ICH, JETZT, HIER.

Und wenn ich jetzt das Mikrofon hier aufstelle und mit der Kamera auf dem Mond filme und dann das Mondbild mit dem Erdenton im Kino verbinde, dann verschafft mir das einen Kopf, der so groß ist wie der Abstand zwischen Erde und Mond, verstehen Sie? Das Gefühl einer ungeheuren Ausdehnung.

Aber jeder Film ist doch eigentlich Verdichtung…

Das muss nicht sein. Gerade so wie ihn die meisten gebrauchen, ist er eine Langweiligkeit. Man glaubt immer, Film sei ein wunderbares Material, um mit der Wirklichkeit umzugehen, weil er die Natur nachmachen kann. Das ist total falsch. Dieser Aspekt ist langweilig und unbrauchbar. Die Natur spricht nicht, wenn ich nicht auf etwas hinweise. Ein Dokument muss eine Meinung ausdrücken, es muss den Finger auf etwas legen, aber wenn es nur die Natur reproduziert, dann ist das völlig arbiträr, dann kann es alles meinen oder nix.

Und Sie sind der Meinung, dass die Wenigsten zur Verdichtung im Film fähig sind?

Schauen Sie, es gibt zwei Arten von Film. Das eine ist der kultisch-religiöse Spielfilm, wie er in den Kinos läuft, eineinhalb Stunden lang, in dem Situationen des Lebens schulmäßig abgehandelt werden. Die wichtigen Situationen, also “Boy meets girl” – denn das wollen alle lernen und sehen – und dann kommen die Nebenfiguren, sagen wir die Eltern oder ein lustiger Onkel, dann kommen die bösen Figuren, das ist die Unterwelt, die diese Beziehung ruinieren wollen oder nicht gestatten, und dann kommen die Hindernisse, und am Schluss sieht man, wie die beiden das überwinden und dann kommt das Happy End. Wenn man diese Struktur in der Filmgeschichte sucht, dann kommen Sie darauf, dass fast jeder Film so ist. Der normale Spielfilm ist eine Art Gottesdienst, eine Kopie des Gottesdienstes in der Kirche. Man nennt die immer gleichen Teile Kanon, also die Wandlung, gewisse Gebete, das ist der Kanon der Messe, der ist jedesmal gleich, das Kyrie ist jedesmal dabei. Und auch der Film ist ungeheuer streng kanonisiert, zum Beispiel einen Film ohne eine junge Frau und einen jungen Mann, den gibt’s gar nicht, den darf es nicht geben, es sei denn als Ausnahme. So wie es in der Kirche eben nur Pfarrer und Ministrant gibt, so sind auch beim Film nur gewisse Rollen zu vergeben. Also, das ist die Form des Spielfilms. Eine uralte, sehr traditionelle, konservative Form, die von jedem verstanden wird, weil wir ja aufgewachsen sind in dieser Sprache.

Und nun gibt es die andere Form des Films, die immer wieder von der Industrie heruntergemacht, angefeindet und lächerlich gemacht wird mit Ausdrücken wie “Experimentalfilm“. Woraus ja schon hervorgeht, dass das nichts Vollendetes ist, dass da herumprobiert wird und vielleicht einmal der Spielfilm profitieren kann. Das ist eine demagogische Definition, die den unabhängigen Film bestenfalls als Inspiration, als Steinbruch für das Wirkliche, nämlich das filmische Melodram gelten lässt und darin bestenfalls dessen Berechtigung sieht.

Die andere Seite, zu der ich gehöre, das sind die, die sagen: „Ich habe hier diesen alten Gaul, den Spielfilm, und der bezahlt mir die Kopieranstalten, die Herstellung des Materials, die Kameras, und jetzt geh ich her und stehle mir das. Ich will mir neue Gedanken verschaffen, mit einem neuen Material“. Und das versuche ich, indem ich mir diese Hardware aneigne, die ich nie zahlen könnte. Also das ist so das Verhältnis, letztendlich ist es eine Symbiose.

Der normale Spielfilm wird aber doch gerne von den Leuten gesehen.

Natürlich, ich schau ihn mir auch an…

Es gibt ja auch hin und wieder gute Filme in den Kinos…

Naja, ich schau mir auch die Schlechten an, weil es mich interessiert. Ich schaue mir zum Beispiel Teenagerfilme an, weil die gut Auskunft geben über das, was gerade in einer jüngeren Generation läuft. Das ist das Talent der Produzenten, zur rechten Zeit zu sehen, wofür gerade Millionen Leute reif sind. Also so schnell als möglich, aber nicht zu früh, denn sonst kann man es wieder nicht verkaufen.

Sie haben früher an der Städelschule in Frankfurt „Film und Kochen als Kunstform“ unterrichtet. Was für Filme wurden da herangezogen und wie war das Kochen integriert?

Naja, ein bisschen von dem, wie mein Unterricht ausschaut, erleben sie gerade. Dazu kam, dass die Studenten selber Filme machten und selber kochten.

Ausschließlich Avantgardefilme?

Ja, Avantgardefilme, das heißt freie Filme. Filme, die sie so hergestellt haben, wie ein Maler malt, ein Dichter dichtet. Das heißt, Filme als Einpersonenwerk, ohne industriemäßiges Team. Das bringt natürlich mit sich, dass man auf die sogenannte technische Perfektion völlig oder zum Großteil verzichten muss. Auf der anderen Seite erhalte ich eine persönliche Handschrift, die wiederum dem Spielfilm verschlossen bleibt. Das Selber-Tun ist ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichtes, der Lehrer ist ein Steuermann, wenn das Boot aber nicht bewegt wird, dann nützt das Steuern nichts. Die Studenten haben Filme gemacht und die habe ich dann analysiert mit ihnen, bis ins Detail, und genauso war es beim Kochen. Die Studenten haben gekocht, und zwar traditionelle Speisen, um wirklich in diese Kunstgattung einzusteigen. Absolut verboten war freie Kreativität. Dieser Begriff freie Kreativität ist eine der giftigsten Fallen, die es heutzutage in der Kunstproduktion gibt. Das ist die Entschuldigung für absoluten Dilletantismus. Und das ist sowohl beim Filmemachen als auch beim Kochen vom selben Übel. Abgesehen davon, dass das Kochen eine wunderbare Kunstgattung ist, aus der man lernt, erzieht es auch. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es das beste Erziehungsmittel für moderne Künstler ist. Denn Kochen verlangt absolute Disziplin. Man kann zum Beispiel eine Speise, die gerade im Bau ist, nicht einfach stehen lassen und am nächsten Tag weitermachen. Beim Malen kann ich aufhören, aufstehen und weggehen. Und wenn ich mir im Kochen was vornehme und es misslingt, dann erzählt das die Speise sofort. Das angebrannte Schnitzel – da kann man nicht diskutieren, angebrannt ist angebrannt. In der modernen Kunst ist das misslungene Gemälde mit einem geschickten Mundwerk weg zu diskutieren. Dann hat man es so geplant… Das Kochen hat eine sehr, sehr starke, eine durchschaubare und zwingende Struktur. In Wirklichkeit ist es ja bei der modernen Kunst genauso, nur ist es schwieriger festzustellen. Ich kann also Kochen als Moral- und Konditionsübung für Künstler jeder Art wärmstens empfehlen. Und jetzt sind wir wieder am Anfang, bei Ihrer Frage, jeder der Filme machen kann, kann kochen und jeder der Kochen kann, kann auch Filme machen.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich vom Filmspezialisten zurück entwickelt haben zum Menschen.

Ich habe mich entspezialisiert. Ich habe mich nicht von einem Beruf auf mehrere Berufe verändert, sondern ich habe den Begriff Beruf aufgelöst. Es war also nicht so, dass ich mich vorher als Filmmacher gesehen hätte und jetzt als Filmemacher, Koch, Architekt und Musiker, sondern ich habe versucht, sagen wir, das Rätsel des Menschseins zu lösen, indem ich mich rückverwandle in ein menschliches Wesen, welches noch keinen Beruf hat. Diese schwere Reise, diese Zeitreise, sich zurück zu versetzen in ein früheres Stadium der Menschheit, ist deswegen so schwer, weil wir in Begriffen denken, die es damals noch nicht gegeben hat. Heutzutage denkt man automatisch in Berufskategorien. Bei den Aborigines in Australien dagegen ergibt es keinen Sinn, wenn ich frage: Sind Sie Filmemacher oder Koch?

Ich habe mich schon als sehr junger Mensch in der Menschheit nicht wohlgefühlt und habe meinen Austritt aus der Menschheit formuliert. Ich habe ein Dokument verfasst… „Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Menschheit! Hochachtungsvoll Peter Kubelka“. Aber dann, bei der konkreten Durchführung konnte ich es nicht mehr machen, denn wohin hätte ich treten sollen? Man kann nicht wirklich austreten, man kann sich distanzieren, aber auch nur imaginär, so gut es halt geht, und das mache ich jetzt. Ich habe ja ein Alter erreicht, wo mein Leben oder bewusstes Leben nicht mehr so lange dauern wird, und für diese Zeit möchte ich leben, wie ich als neugieriges Kind gelebt habe – offen für Alles.

Ihr Film „Arnulf Rainer“ ist ja wirklich die Ausreizung des Materials – mehr kann man mit Film eigentlich nicht machen, das ist das Extremste, das Ultimative. Ich habe es so verstanden, dass Sie damit dem Filmemachen entsagt haben, da es keine Steigerungsmöglichkeit mehr gab. Und trotzdem ist Film weiterhin Ihr Lebens- und Unterrichtsinhalt.

Naja, ganz so ist es nicht. Dieser Film verwendet die Materialien des Films in ihrer einfachsten Art, also Licht und Nichtlicht und Ton und Nichtton, und die zeitlichen Ereignisse sind ebenfalls vom Film gegeben, durch die Geschwindigkeit und durch die Tatsache, dass 24 Bilder pro Sekunde projiziert werden.

Aber ich habe zum Beispiel meinen Afrikafilm nach diesem Film gemacht und der geht sehr von der Natur aus, und ich hätte ihn nicht machen können, wenn ich nicht vorher den Rainer-Film gemacht hätte. Weil der mich gelehrt hat, was Film ist. Und ich bin ja niemand, der diese religiöse Trennung zwischen abstrakter und gegenständlicher Kunst anerkennt. Es gibt keine abstrakte Kunst, das ist einfach ein Irrtum, die sogenannte abstrakte Malerei beschäftigt sich mit sehr konkreten Dingen, nur eben nicht mit der Abbildung der Natur.

Ich sehe einen großen Unterschied zwischen der Kunst, die handwerklich entsteht und der Kunst, die ohne körperlichen Kontakt mit dem Werk entsteht – also etwa die Konzeptkunst. Wenn ich ein Projekt nur mehr beschreibe und es dann von irgendwelchen Maschinen oder anderen Menschen ausführen lasse… das ist nicht das Gleiche. Wenn der Maler den Pinsel führt, dann geht seine Körperdynamik in das Bild über. Genauso bei dem Koch, der selber rührt, schneidet, klopft und trennt und die Töpfe bewegt und die Speise angreift. Diese Art der Berührung mit der Welt ist nicht ersetzbar durch reine Augen- oder Ohrenerlebnisse oder durch abstrakte Formulierungen. Die Menschheit ist an einem interessanten Punkt angelangt, weil die Berührung mit der Aussenwelt mehr und mehr mit der Zeigefingerspitze erfolgt, die auf einen Knopf oder auf eine Taste drückt. Es gibt also keine „analoge“ Berührung mehr, keine Umarmung der Welt, sondern nur Befehle, die ausgeführt werden. Man weiß noch nicht, wie sich das auf die Menschen auswirkt, aber in jedem Fall tritt eine Änderung ein, das spüre ich.

Ein nächster Schritt wird sein, dass die Nahrung in absehbarer Zeit absolut synthetisch hergestellt werden wird. Die jetzigen Seuchen, Maul- und Klauenseuche, BSE, werden das noch beschleunigen. Man hat es natürlich selber verursacht, aber ein Zurückgehen auf eine Landwirtschaft, die nicht verbrecherisch gegenüber den Tieren ist, sondern die mehr eine Symbiose ist, wie das noch in meiner Jugend auf dem Bauernhof der Fall war – das ist nicht mehr möglich. Also wird man den Schritt nach vorne gehen und die Speisen künstlich herstellen. Es ist ohne weiteres möglich, den Menschen über den Tropf oder mit Pillen zu ernähren, nur wird das entscheidende Konsequenzen haben für den geistigen Zustand des Menschen. Es werden plötzlich alle diese Sinne SINNLOS. Das Leben wird sinnlos, wenn man die Sinne nicht mehr gebrauchen muss.

Ich würde gerne auf die Erschleckung der Welt eingehen.

Ich sage Ihnen, was ich darunter verstehe. So wie wir eine Speise lesen mit dem Mund, so erlernen wir vom Kleinkindalter an, die Welt auf ihre Essbarkeit hin zu überprüfen. Und das zeigt auch, wie alt der Kochprozess ist. Das Kleinkind nimmt alles in den Mund. Alles was es mit den Händen greifen kann, wird in den Mund geführt und wird mit dem Mund überprüft. Die Mütter passen sehr auf, dass das Kind nichts Schmutziges in den Mund nimmt, das ist schon die Zivilisation, aber die Kinder sind nicht zu bremsen, und wenn sie dann schon ein bisschen laufen, endet die erste Begegnung mit einem neuen Gegenstand unweigerlich damit, dass der in den Mund gesteckt wird und abgeschleckt wird. Und dann merkt sich das Kind, wie das schmeckt. Ich mache den Test gerne bei Vorträgen – worauf auch immer Ihr Blick fällt, Sie brauchen nur nachdenken und Sie wissen, wie das schmeckt. Wenn Sie auf diese Leiter schauen, Sie wissen wie so ein Holz schmeckt, Sie wissen wie die Zentralheizung schmeckt, Sie wissen wie die Mauer schmeckt… Und woher wissen Sie das? Man vergisst natürlich die Zeit der Prüfungen, aber man hat es gemacht, man hat es unbewusst gemacht. Interessanterweise schleckt man noch als Erwachsener an Dingen, die man noch nicht abgeschleckt hat. Man schleckt zum Beispiel irgendwann an der Kamera, an der Optik, man weiß, da darf man eigentlich nicht schlecken, aber man weiß trotzdem, wie das schmeckt.

Und jetzt kommt das Wesentliche: Diese Erfahrungen von Geschmacks- und Tastsinn im Mund werden verbunden mit dem optischen Eindruck und werden archiviert. So dass ich beim nächsten Mal nur mehr das Auge brauche und die schlecht schmeckenden und giftigen Sachen nicht noch einmal so nahe zu untersuchen brauche. Der faulige Apfel wird schon vom Auge identifiziert und gar nicht mehr probiert. Das hat aber dazu geführt, dass man das Auge überbewertet. In Wirklichkeit ist das Auge nur ein nachprüfendes Organ. Die tatsächliche Prüfung wird mit den Körperteilen Nase und Mund gemacht. Das ist die Welterschleckung.

Der Film geht nun nur mehr von den bereits überprüften Inhalten aus. Dinge, die man noch nicht überprüft hat, kann man auch nicht filmen, oder man kann sie zwar filmen, aber sie werden nicht wirklich wahrgenommen. Wenn ich in Bayern Kraut und Knödel und einen Schweinsbraten filme, dann weiß das Publikum, was es darüber denken soll. Aber wenn ich ein chinesisches „hundertjähriges Ei“ filme, ein fermentiertes Ei, dann weiß man nix. Das bleibt verborgen.

Die Nützlichkeit von Essen, von Kochen ist eindeutig, ich nehme es zu mir, ich verarbeite es, ich bleibe am Leben. Welche Nützlichkeit hat Film?

Eine ganz Ähnliche wie das Kochen. Bevor es Film oder andere Augenkünste gab, wurden die Lebens- und Überlebensregeln durch ältere Kunstgattungen wie das Kochen formuliert. Es gibt keine Kunst, die nicht ein Werkzeug ist, mit dem etwas erreicht werden soll. Film ist die Erziehungsanstalt für die Menschheit gewesen, bis zum Aufkommen von Internet und neueren Medien, die jetzt wiederum Teile übernehmen und den Film entlasten.

Mir gefällt der Ausdruck Bildung sehr gut. Der gebildete Mensch ist ein Mensch, der nicht formlos ist und der im Stande ist, die Kultur wieder herauszugeben, die er in sich aufgenommen hat, die ihn gebildet hat. Das regelmäßige Sehen von Filmen bildet die Menschheit, sie bekommt Form, sie erwirbt Verhaltensweisen.

Auch vom Avantgardefilm?

Natürlich! Natürlich! Wenn Sie meine Filme anschauen, haben sie Gedanken, die vorher nicht möglich waren, die nur durch den Film denkbar geworden sind. Die ich selber nicht denken konnte. Meine Filme sind in einer Wechselwirkung zwischen mir und dem Material entstanden. Das halte ich auch für sehr wichtig, dass man das Material erkennt, weil man ihm sonst Dinge abverlangt, die es nicht leisten kann.

In Ihrer Filmographie steht ganz unten und ohne Enddatum: „Ein Denkmal für die alte Welt“, work in progress…

Ja, das ist es immer noch und darüber gibt es keinen Kommentar. Das habe ich nie gemacht, über Filme zu reden, die noch nicht fertig sind. Es kann sein, dass es nie fertig wird, es kann sein, dass es fertig wird… Mir ist ganz wichtig, und das unterscheidet eben wieder die persönliche Kunstausübung von der industriellen, dass man sich bis in den letzten Ausführungsprozess Entscheidungsfreiheit bewahrt. Ein Bleiklumpen an den Füßen aller sogenannter Filmschaffender, die in der Filmindustrie tätig sind, ist die Tatsache, dass man vorher beschreiben und garantieren muss, was auf der Leinwand zu sehen sein wird. Das ist furchtbar… und deswegen sind viele Filme Leichen, Drehbuchleichen, die schon riechen.

Das Gespräch führte Bitta Boerger am 3. April 2001 in Wien. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler, Bitta Boerger.

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