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Interview: Patrice Chéreau

Revolver: Was war Ihre schrecklichste Erfahrung als Schauspieler?

Patrice Chéreau: Ich weiss es nicht, denn wenn ich spiele, ist es weder schrecklich – wenn ich in Filmen spiele, nicht wahr, ich spiele auch ab und zu im Theater -, noch habe ich dabei ein besonderes Vergnügen. Nein, ich habe keine besonders schrecklichen Erinnerungen. Oder es ist immer furchtbar, einfach weil es mir keinen Spass macht, Schauspieler bei einem Film zu sein. Ein oder zwei Mal hat es mir Spass gemacht am Theater, weil ich sehr grosse Rollen hatte, aber beim Film langweile ich mich.

Warum?

Na, weil es nicht mein Beruf ist. Ich bin daran gewöhnt, das Bild zu organisieren, der zu sein, der bei der Erzählung die Fäden zieht. Und wenn man Schauspieler ist, ist man wirklich wie ein Idiot.

Warum wie ein Idiot?

Weil man wartet. Weil man dem Willen des Regisseurs unterworfen ist. Man muss Teil werden von dem, was der Regisseur vorhat. Für mich als Regisseur ist das interessant, aber nach 8 Tagen ist es gut, dann habe ich Lust, meinen eigenen Film zu machen.

Inwiefern ändert die Tatsache, dass Sie Regisseur sind, etwas an Ihrem Spiel als Schauspieler, z.B. am Theater?

Es ist immer das Wissen dessen, der die Geschichte erzählt. Und im Kino ist das eindeutig der Regisseur. Ganz eindeutig. Es ist auch nicht der Drehbuchautor. Das Drehbuch muss sich auflösen, muss ganz im Film aufgehen. Also ist es ganz klar der Regisseur. Im Theater ist es der Regisseur, der Autor, aber es kann auch der Schauspieler sein, denn er ist der Herr im Haus, er ist es, der im Augenblick der Vorstellung die Fäden des Spiels zieht. Da liegt ein Unterschied. Und wenn man der Regisseur ist – ich habe nur in meinen eigenen Inszenierungen gespielt -, dann hat man an manchen Abenden Lust, in bestimmten Momenten die Geschichte anders zu erzählen. Man liegt immer auf der Lauer, hat die Aufmerksamkeit immer auf die Erzählung gerichtet. Ich bin nicht einfach jemand, der Lust hat, bestimmte Gefühle auszudrücken oder mich zu zeigen. Ich habe keinen Narzissmus in mir, das ist es. Wenn ich also als Schauspieler in meinen eigenen Inszenierungen auftrat – ich weiss nicht, ob ich das noch mal machen werde -, dann stellte ich mich in den Dienst des Regisseurs, der ich ja selbst war.

Was hat Ihnen Ihre Erfahrung als Schauspieler für Ihre Arbeit gebracht?

Zunächst einmal ist es interessant, seine eigenen Grenzen zu sehen. Und dann zu merken, welch einen Unterschied es macht, ob man vor oder hinter der Kamera steht. Wenn ich hinter der Kamera stehe, weiss ich, was die Leute tun sollen, ich weiss, wie ich sie korrigieren muss. Wenn ich vor der Kamera stehe, weiss ich gar nichts mehr. Man wird vollkommen idiotisch. Ausser wenn man viele Filme dreht, wie Isabelle Huppert zum Beispiel, dann ist das etwas anderes, weil man dann eine Nase entwickelt, so einen unglaublichen Instinkt. Aber für mich, der ich nur wenig spiele, wird der kleinste Satz, der kleinste Gang ein höllisches Problem.

Beim Film müssen die Kamera, die Kadrage und die Schauspieler zusammenfinden. Wie sieht das im Theater aus?

Das Theater ist sehr einfach im Vergleich zum Film. Ich glaube, dass es die Kunst des Theaterregisseurs ausmacht, das zu schaffen, was die Kamera macht, nämlich alle Theaterbesucher dazu zu bringen, auf den gleichen Fleck zu schauen. Ihre Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was sie in dem jeweiligen Moment sehen müssen, damit ihnen die Geschichte gut erzählt wird, damit die Szene ist, was sie sein soll. Es gibt immer Zuschauer, die abschweifen, aber an einem bestimmten Punkt muss man ihre Aufmerksamkeit lenken. Man bringt sie dahin, dass sie gewissermassen selbst die Grossaufnahmen machen. Aber noch einmal: Es ist wirklich etwas anderes, weil der Schauspieler auch beteiligt ist. Da liegt der Unterschied.

Wenn Sie die Schauspieler auswählen, gehen Sie dann gleich vor, wenn Sie Theater oder wenn Sie Film machen?

Nein, weil nicht die gleichen Qualitäten gefragt sind. Wenn ein Schauspieler in einem Film ganz toll ist, dann beweist das überhaupt nicht, dass er auch auf einer Bühne spielen kann. Und umgekehrt. Ich hatte schon wunderbare Theaterschauspieler, die ganz schlecht waren im Film. Weil sie sich nicht auslieferten. Sie konnten nicht mit der Kamera spielen. Auf eine gewisse Weise ist es das Wichtigste, sich zu öffnen und sich der Kamera auch auszuliefern. Nichts zu erzwingen. Es muss von alleine kommen. Man darf es nicht erzwingen. Ich kenne Schauspieler, Schüler meiner Schauspielschule in Nanterre zum Beispiel, mit ihnen haben wir versucht, sie beides machen zu lassen. Ich denke, es ist sehr gut, beides zu machen, und zum Beispiel die englischen Schauspieler, die kommen vom Theater, gehen zum Film, die machen absolut beides, was ich bei „Intimacy“ gesehen habe, aber die Schüler meiner Schule haben leider nach einem Jahr angefangen, sich zu spezialisieren. Das waren junge Schauspieler. Einige waren traurig vor der Kamera, weil da kein Publikum war, was ein schlechter Grund ist, und andere waren vor der Kamera glücklich, weil sie nicht so laut sprechen mussten, was auch ein schlechter Grund ist. Aber sie neigten dazu, sich zu spezialisieren, was idiotisch ist. Ich hatte es nicht geschafft, ihnen beizubringen, dass man beides machen kann und dass man sich aus beidem speisen muss, was zum Beispiel in England und Amerika ganz natürlich ist.

Man hat den Eindruck, dass Sie sich immer mehr dem Film zugewandt haben?

Ja.

Warum?

Weil ich viel Theater gemacht habe, weil das Theater es mir nicht immer erlaubt, die Geschichten zu erzählen, zu denen ich jetzt Lust habe, nämlich die, die ich gerne schreiben oder in den Zeitungen, in Büchern etc. suchen würde. Ich habe einfach eine grössere Freiheit. Nein, das ist kein guter Grund. Ich weiss, dass ich von Schauspielern kostbarere Sachen als früher bekommen kann, und diese Sachen sind besser, wenn sie gefilmt werden. Ich habe auch auf viele Sachen, die mit dem Theater zusammenhängen, keine Lust mehr, die Anzahl der Aufführungen, die Tatsache, dass man alles immer von Neuem machen, die Inszenierung immer wieder kontrollieren muss. Wenn ich einen Film gemacht habe, weiss ich, es ist fertig, es ist jetzt vorbei, und dann macht man etwas anderes, man macht einen anderen Film. Ich glaube, man kann nur dann gut Filme machen, wenn man einen nach dem anderen macht. Es ist wie mit einem Sport. Wenn man 1000 Meter läuft und dann plötzlich mit dem 100 Meter Lauf anfängt, dann ist das nicht das gleiche Training. Und bis vor 10 Jahren ungefähr habe ich dauernd abgewechselt, nur alle 4 Jahre einen Film gemacht. Und alle 4 Jahre musste ich von Neuem lernen, was es heisst, einen Film zu machen. Ich glaube nicht, dass man lange zwei so unterschiedliche Sachen machen kann.

Wenn Sie ein Casting machen, wie gehen Sie dann vor?

Ich brauche ein Ensemble, Leute, mit denen ich regelmässig arbeite. Ich versuche also immer, eine Mischung zu finden aus Schauspielern, mit denen ich gerne noch einmal arbeiten würde, mit denen ich länger nicht mehr gearbeitet habe, und neue Köpfe, neue Leute zu entdecken. Und dann sieht man im Film, ob es klappt. Wenn man merkt, dass keiner wirklich zu einer Rolle passt, dann macht man es nach der klassischen Methode. Man macht ein Casting. Man schaut sich 40, 50 Leute an. Bei „Intimacy“ war das nicht der Fall. Es war ziemlich kompliziert. Die Leute sehen nie so aus, wie man sie sich vorgestellt hat, wenn man am Schreiben war. Mit den beiden Protagonisten von „Intimacy“ war es ein Albtraum. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie aussahen. Ich sah sie einfach nicht vor mir. Also schaute ich mir Schauspieler an, gute englische Schauspieler. Aber ich dachte immer: „Der ist es nicht, für den habe ich das doch nicht geschrieben und für die auch nicht.“ Sie zu finden, war noch schwieriger. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie sie aussieht. In so einem Fall kann man sich auch nicht entscheiden. Man sieht sich Filme an. Natürlich geht man ins Theater, um Schauspieler zu sehen, in England ist das einfacher. Den Schauspieler, den ich für „Intimacy“ genommen habe, habe ich mir im Theater angeschaut, er spielte „Antonius und Cleopatra“ – er ist der Direktor des Globe Theatre -, aber er spielte Cleopatra, das war also nicht besonders praktisch. Das hat mir nicht geholfen an dem Tag. (Lachen) Aber ich dachte, das ist ein unglaublich guter Schauspieler, und dann habe ich ihn einige Tage später bei sich zuhause besucht. Er ist ein völlig untypischer Schauspieler in England, er gehört keinem Ensemble an, und er hat eine halb amerikanische Vergangenheit.

Bei ihr mochte ich, dass sie mir so still gegenüber sass. Dass sie nicht Schauspielerin war, verstehen Sie, dass sie nicht hinter der Rolle her war. Dass sie wartete. Sie hat etwas sehr Starkes. Man verliebt sich ja immer in ein Gesicht. Oder in einen Körper. So war das bei „Intimacy“. Man denkt nicht: Sie wird gut sein in der Rolle. Man sagt sich: Mit ihm oder ihr wird es vielleicht interessant sein, ein Stück Weg während der Dreharbeiten zurückzulegen. Man sucht sich Gesprächspartner, mit denen es mehr als unterhaltsam ist, über die Rolle zu sprechen. Und sie war dafür ganz wunderbar, weil sie viel mehr wusste über die Figur als ich. Natürlich, denn zunächst mal bin ich keine Frau. Ausserdem sprach es sie an. Und also dachte ich… Man geht eine Wette ein.

Wenn Sie Schauspieler für ein Casting treffen, haben Sie dann eine Technik, um herauszufinden, ob es mit ihnen „unterhaltsam“ sein wird oder ist das reine Instinktsache?

Nein, zunächst unterhält man sich, und dann… Wie es in Frankreich in den Kontaktanzeigen heisst, „et plus si affinités“, „und mehr bei gegenseitiger Sympathie“, das heisst, wenn man Lust hat, etwas weiter zu gehen, dann macht man eine Probe, und wenn man dann noch weiter mag, macht man noch eine Probe. So habe ich das bei „Intimacy“ gemacht. Ich habe sie vor einer Videokamera Szenen spielen lassen. Man muss die Grenzen jedes Schauspielers gut ausloten, man muss sie gut kennen. Und in einer Fremdsprache ist das schwierig.

Wie versuchen Sie, diese Grenzen herauszufinden?

Man stellt sie vor Schwierigkeiten. Dann sieht man die Sachen, die die Schauspieler nicht lösen wollen oder die sie zu lösen versuchen, indem sie Abkürzungen nehmen. Aber man muss aufpassen. Manchmal will man ein bestimmtes Gesicht – und ist eitel -, man will ein Gesicht und sagt sich: Das schaff ich schon. Und man schafft es nicht. Dann schraubt man seine Ansprüche beim Drehen zurück, man verlangt weniger. Oder man dreht die Einstellung auf jemand anderes. Später gibt es eine Menge Lösungen.

Waren die Nacktszenen in „Intimacy“ ein Handicap für die Auswahl der Schauspieler? Gab es damit besondere Schwierigkeiten?

Ich musste einfach Schauspieler finden, die das Drehbuch akzeptierten, so wie es war. Alles stand im Drehbuch. Es gab zwei, drei Schauspieler, die nein sagten. Nein – Ein Schauspieler hat nein gesagt, und dann habe ich in einem Moment der Verwirrung einen genommen, der ja sagte und dass er damit keinerlei Problem hätte. Den musste ich später rausschmeissen, aber zum Glück, denn der war zu sehr bereit, das alles zu tun, bei dem war es das Gegenteil. Und bei der Frau… Kerry hat nicht „ja“ gesagt, sie sagte: „okay“. Sie war eigentlich meine zweite Wahl. Aber die erste war nicht gut. Also war es besser, dass die andere nein sagte. Es war eine Wahl, die auf natürliche Weise zustande kam. Ich denke, dass ich zwei aussergewöhnliche Schauspieler hatte, weil sie verstanden, dass die Szenen für den Film nötig waren. Sie haben sie nie in Frage gestellt. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie sie gelesen und sich ihnen nicht widersetzt haben, mit der sie davor Angst hatten und nicht so taten, als hätten sie keine Angst, und mit der sie gleichzeitig verstanden, dass das das Thema des Films war, diese Ernsthaftigkeit hat gezeigt, dass ich zwei unglaublich intelligente Schauspieler hatte. Wenn ich den Film sehe, denke ich, ich weiss nicht, mit wem ich den Film hätte machen können, ausser mit den zweien.

Gab es besondere Schwierigkeiten bei der Arbeit an diesen Szenen, wo ja kein Dialog ist, wo aber die Bilder und die Körper alles erzählen?

Ich bin ins kalte Wasser gesprungen. Ich habe mir gesagt: „Das habe ich geschrieben. Ich weiss nicht, wie man das macht.“ Aber wirklich überhaupt nicht. So was ist mir zwei, drei Mal passiert. Mit der Jagdszene in der „Bartholomäusnacht“ war es auch so. Ich fragte mich, wie man so eine Jagd macht. Ich hatte nie selbst gejagt. Es gibt so Sachen, wo man denkt, „das schaffe ich nie“, das Massaker in der „Bartholomäusnacht“, das war genauso. Also habe ich versucht, zu analysieren, warum ich es nicht konnte und woher meine Angst kam. Natürlich hat man Angst vor einer Sexszene. Und man fürchtet das Team. Am Morgen, wo eine etwas gewagte Szene auf dem Programm steht, macht das Team gleich so ein Beerdigungsgesicht; es ist der Tag, wo man aufpassen muss, und alle sind wie versteinert. Ich habe mir gesagt, diese Angstschwelle muss ich überschreiten. Also muss alles aufgeschrieben werden; wir haben also alles aufgeschrieben. Im allgemeinen lässt man die Schauspieler improvisieren, weil man vermutet, dass sie wissen, was zu tun ist. Das ist völlig falsch, weil sie sich gar nicht kennen. Und weil es allen etwas peinlich ist, dreht man das sehr schnell, man lässt sie improvisieren, und manchmal dreht man sogar mit zwei Kameras, um Material zu sammeln. Vielleicht dreht man sogar mit Schulterkamera, weil’s schneller geht, und im Grossen und Ganzen denkt man, das drehen wir jetzt alles, und dann sehen wir weiter im Schneideraum. Das habe ich zwei Mal so gemacht in meinem Leben, in der „Bartholomäusnacht“ und in „Die mich lieben, nehmen den Zug“. Ich habe mich an eine Szene von „Die mich lieben“ erinnert, die in den Toiletten spielte, wo ich alle Bewegungen vorgegeben hatte. Und ich dachte, ich muss unbedingt alle Bewegungen vorgeben. Und die Kamera darf keine Schulterkamera sein. Sonst gab es viel Schulterkamera in dem Film. Aber es durfte absolut keine Schulterkamera sein, aus dem einfachen Grund, dass ich nichts ohne ihre Zustimmung einfach klauen wollte. Also habe ich Regeln aufgestellt. Eine einzige Kamera. Alles komplett schriftlich fixiert, also auch alles komplett geprobt, Bewegung für Bewegung. Es gab keinerlei Improvisation. Ich wusste, wer als erster kam, sie oder er, ob er kam, ob er nicht kam, wie lange das dauerte etc. Wir haben das geprobt von 9 Uhr bis Mittags oder bis ein Uhr, dann sind wir essen gegangen, und dann haben wir gedreht. Und die Kamera war auf Schienen, niemals auf der Schulter, so dass man ihnen niemals zu nahe kommen konnte. Wenn sie sich wegdrehen wollten, um das Geschlecht nicht zu zeigen oder um eine Brust zu verbergen etc, dann konnten sie das tun. Voilà.

Und wie kam es zu der Entwicklung, zu dieser Kommunikation zwischen den Körpern? Haben Sie das so geschrieben, oder haben die das entwickelt?

Sie haben genau das gemacht, was im Buch stand. Es sagte ihnen was, und sie haben es gemacht. Wir haben das alles in einer Woche gedreht, Szene für Szene. Wir haben uns im Studio eingeschlossen, bis alles fertig war. Es war im Studio, also war sonst niemand da. Ich habe etwas gemacht, was ich noch nie in meinem Leben gemacht hatte, und ich weiss noch nicht, ob ich es noch einmal machen werde; ich habe mit zwei völlig nackten Schauspielern in einem Raum wie diesem geprobt, ich allein. Ich habe entschieden, wer die Hose des anderen auszieht, wer die Strumpfhose auszieht, wann er in die Frau eindringt, wann sie die Beine spreizt etc. Alles war von vorne bis hinten geprobt. Sie haben vor mir geprobt. Es ist seltsam, wenn man angezogen ist und zwei Menschen sind nackt. Aber es war rein technisch, und das war sehr gut, weil es keinerlei Emotion gab und vor allem auch keine Erregung, keine Erotik. Das war besser so. Weil ich so nicht zum Voyeur wurde. Es ist sehr, sehr seltsam. Aber es hätte auch nicht klappen können. Ich zittere jetzt noch deswegen. Ich war panisch bis zur Montage. Ich sagte mir: Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich diese Szenen erzählen muss, diesen Film, und dass ich die Liebesszenen rausschneiden muss… Ich habe mich auf eine mögliche Niederlage vorbereitet. Ich hatte kein Rezept.

Und was haben Sie getan, um diesen Ängsten zu begegnen?

Man muss ihnen entgegentreten. Das Interessante im Leben ist doch, das zu tun, was man noch nie getan hat oder das, was man nicht kann. Für mich ist das das Einzige, was die Existenz interessant macht.

Und die Schauspieler?

Man muss ihnen helfen, dafür ist man ja da.

Und wie helfen Sie denen?

Man darf sie nicht überrumpeln, muss mit ihnen sein, muss es ihnen erklären. Sie müssen wissen, dass man ihnen nichts ohne ihre Zustimmung klaut. Man muss sehr stark bei ihnen sein. Sie haben mir auf eine unglaubliche Weise vertraut. Sie hätten auch zögern können. Es war ein Wunder. Es hat etwas mit einem Wunder zu tun. Aber Wunder passieren, nicht wahr.

Ich hätte gerne, dass Sie uns etwas über ihre Probenmethode erzählen!

Ich kenne meine Methode nicht mehr, weil sie absolut instinktiv ist. Im Moment, wo ich mit einem Schauspieler zu arbeiten beginne, fallen mir Sachen ein, die ich ihm sage, ich sehe ihn an und glaube zu wissen… Ich habe keine Theorie zu meiner Methode. Ich praktiziere sie einfach.

In einer Dokumentation, die wir über ihre Theaterarbeit gesehen haben, hatte ich den Eindruck, dass Sie die Schauspieler immer antreiben. Sobald Pascal Greggory eine Pause machte, sagten Sie etwas, damit er etwas weiter geht.

Ja, um ihm eine Richtung zu geben. Ich habe auch manchmal Proben gemacht mit Schauspielern am Theater, wo ich sie bat, nicht mit dem Spielen aufzuhören, sich nicht um mich zu kümmern, und ich sprach die ganze Zeit zu ihnen, ich sagte immer an den Stellen etwas, wo ich wusste, dass sie Pausen im Text machten. Ich sagte nur ein Wort. Ich habe das ein oder zwei Mal so gemacht, aber am Stück, eineinhalb Stunden lang.

Machen Sie das auch beim Drehen?

Ja, sehr viel. Mehr und mehr. Ich versuche dann zunächst, herauszufinden, wann ich etwas sagen kann. Ich habe das bei Coppola gesehen. Eines Tages bin ich beim Dreh zum „Paten III“ vorbeigekommen, in New York, durch Zufall, eine sehr grosse Einstellung von Sofia Coppola und eine sehr grosse Einstellung von Andy Garcia, und er sprach zu ihnen. Es gibt einen Moment, wo man etwas zu einem Schauspieler sagen kann, ohne seine Konzentration zu zerstören. Wenn man gleichzeitig mit dem Schauspieler redet und er sehr konzentriert ist, wenn man durch Zufall gleichzeitig wie er zu reden beginnt, dann hört er zu reden auf, ich auch, und wenn er sehr konzentriert ist, konzentriert er sich neu und nimmt den Text wieder auf. Und manchmal passiert das bei Grosseinstellungen. Es ist ein Dialog mit dem Schauspieler. Ich sage zu ihm: Mach’s noch mal, fang noch mal von vorne an. Oder ich sage etwas anderes. Es wäre ein Traum, reden zu können. Guillaume Sciama, meinen Tonmann, macht das wahnsinnig. Aber es nützt nichts, bei einer Einstellung zuzusehen, die schlecht läuft und das bis zum Ende laufen zu lassen, ohne dass man etwas gesagt hat. Manchmal kann man auch nichts sagen. Aber es hängt von den Schauspielern ab. Wenn man einen Schauspieler hat, der zu reden aufhört und sich zur Kamera dreht, sobald man etwas sagt, dann klappt das nicht. Aber es gibt Schauspieler, mit denen kann man das machen, die kann man begleiten. Das ist sehr schön, ich mag das sehr gerne. Aber ich mache das nicht systematisch. Ich habe kein Wort gesagt während der Liebesszenen von „Intimacy“. Ich war selbst sehr, sehr überrascht von dem, was ich sah.

Das Interview führten Jean-Baptiste Filleau und Jens Börner am 12.6.2002 am Rande der Dreharbeiten zu Michael Hanekes „Wolfzeit“ in Unterpullendorf, Österreich. Übersetzung und Bearbeitung Jens Börner.

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