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Interview: Dominik Graf

Martin Farkas: Obwohl Du als einer der wenigen auch Genrekino machst, halte ich Dich für den Film-Autoren in Deutschland.

Dominik Graf: Das würde ich so nicht sagen, da werden Tykwer oder Roehler doch viel eher als Autoren per se gesehen. Ich habe meine Sachen ja auch meist nicht selbst geschrieben. Kann aber sein, dass da doch oft mehr von mir rüberkommt, als ich dachte.

An Deinem Film „Der Felsen“ gibt es einen Punkt, der mich im Nachhinein geärgert hat, nämlich dass Malte, der Junge stirbt.

Da gibt es diesen Kreis mit den sechs Gegenständen, der am Anfang angesagt wird und der zu Ende geführt werden muss. Am Ende muss auch die Frau, die keine Mutter ist, eine werden. Wenn sie schliesslich mit Malte zusammen auf dem Boot abgefahren wäre, dann wäre dieser Kreis nicht geschlossen worden. Es kann sein, dass da in sich die Mechanik zu sehr offenbar wird, die Dich dann ärgert, aber das ist eben auch genau der Punkt des Films: Ich regiere selber, oder ich werde von der gleichgültigen Mechanik des Schicksals regiert. Diese Mischung aus Storydramaturgie und Charakterdramaturgie, die wollte ich gegeneinander setzen.

Dass sich das ab und zu reibt mit den Ordnungsprinzipien der Branche, weil sie Videobilder nicht mit Sinfonieorchester zusammenbringen, oder dogmaartig geschnittene Szenen nicht mit grossen langen Totalen, das sehe ich natürlich auch. Oder die fast schon antike erzählerische Distanz der Frauen-Stimme, die eisig etwas kommentiert, das man im Grunde schon gesehen hat. Das ist wie der Chor, der etwas Erlebtes noch mal wiederholt oder aus dem Off quasi was Neues in den Ring wirft. Aber die allgemeine Behauptung, der Film sei – auch dann, wenn es positiv formuliert wird – radikal und verstörend, das hat mich dann doch überrascht.

In der Literatur, der Musik, selbst im Pop sind die Leute viel weiter, viel offener. Beim Kino meinen sie aber zu wissen, wie es zu sein hat. Und wenn Du das nicht einlöst, dann sind sie total sauer. Wie der Journalist, der in der Pressekonferenz nach einer Mehrheitsentscheidung gefragt hat: „Jetzt wollen wir doch alle mal die Hand heben, die gegen den Off-Kommentar sind …“

Man bekommt den Eindruck, dass per allgemeinen Konsens bestimmte Menschenbilder im Kino nicht mehr möglich sind. Und man ist dann als Autor ganz überrascht: Ach so, das darf die Frau jetzt nicht machen? Aha. Die Figuren müssen sich sozusagen einer demokratischen Meinung beugen, wie man sich beispielsweise als Frau mittleren Alters zu verhalten hat. Ich kann mich natürlich nicht hinstellen und sagen: „Ihr wisst ja alle gar nicht, wie Ihr selber in bestimmten Situationen unter Umständen reagieren würdet. Was wollt ihr denn eigentlich noch erfahren vom Leben, wenn Ihr denkt, Ihr wüsstet sowieso alles?“ Aber man kann doch irgendwie nicht nur noch in Chiffren erzählen, was frau gerne hätte, wie frau gerne wäre, wenn frau mal Ärger kriegt zuhause. Das ist Quatsch. Man muss auch andere Wege erzählen. Und das kann man dann nicht nur auf neurotische Schriftstellerinnen beziehen oder auf Terroristinnen; auch die normale deutsche Sekretärin, die Hausfrau, oder in diesem Fall die technische Zeichnerin kann plötzlich für drei Tage ein radikalisiertes Lebensbild entwickeln.

Wenn man aber anschaut, wie sehr die Menschen das Bedürfnis haben, zu vereinfachen, alles leicht erklärbar zu machen, wenn man sich zum Beispiel diese absurden Erklärungsversuche kurz nach Erfurt anschaut, dann wundert man sich nicht mehr, warum Dein Film nicht auf ungeteilte Zustimmung stösst.

Das war mir dann auch klar; weil dem Film diese grosse Einfachheit und Klarheit fehlt. Aber es muss auch wieder irgendeine Übereinkunft darüber geben, dass es nicht nur diese simple Art von Geschichten und Charakteren geben kann. Es muss auch noch ein anderes Kino geben, weil das in dem Material, in dem Erzählen, auch in den Menschen einfach drinsteckt. Die Vielschichtigkeit, die Wirrnis, die Verwirrung, auch das Orgiastische, das nicht zum Punkt kommen Wollen, ja, weil das Leben schliesslich auch nicht dauernd zum Punkt kommt!

In Deinem Film wird auch auf der Metaebene über das Erzählen und darum auch über das Leben selber nachgedacht. Meine Intelligenz wird endlich mal in Anspruch genommen, wenn ich im Kino sitze; ich fühle mich als Mensch, der die Welt schon eine Zeit lang anguckt, ernst genommen.

Kino ist ein Lifestyle-Ereignis geworden und hat so einen fast nur noch bestätigenden Sinn. Aber es gibt und gab daneben, auch gerade innerhalb der klassischen Erzählformen, immer Regisseure und Autoren, die da heraus was anderes entwickelt haben. Und diese Region verarmt irgendwie völlig … Ich hatte auf der Berlinale das Gefühl, als hätte ich Gebiete betreten oder miteinander in Verbindung gebracht, die man im Augenblick wohl nicht miteinander in Verbindung bringen sollte. Ich möchte aber, wenn ich eine unscharfe Aufnahme von einer Frau im Moment des Liebeshöhepunktes habe, ein Sinfonieorchester drunterlegen können. Ich lasse mir nicht vorschreiben, nur weil es DV-Bilder sind, dass ich dann nur Originalton nehmen darf. Ich habe kein Dogma unterschrieben. Dogma ist out. Die Dogmafilme haben eine grosse Chance eröffnet; zurück auf so einen Cinema Verité Level. Das war ja genau dasselbe, wie damals in den 60er Jahren. So, aber jetzt können wir daraus was machen. Wir können das in unsere Erzählformen integrieren. Aber denkste, da jaulen die Hüter der Filmgesetze! Dogma ist das eine, und das andere ist dann sowas wie „grosses Kino“, also Kran, Aufbauten, alles superscharf, megagute Bilder – und dass dabei die Personen und ihre Vielschichtigkeit etwas zu kurz kommen könnten, Wurscht, im Kino geht es offenbar um etwas anderes, um Look, um Stil, um verlogene Botschaften. Und diese Grund-Kinohaltung, die spüre ich seit Anfang der 90er. Ich will mich aber gar nicht beklagen; ich will nur sagen: Ich möchte das nicht mitmachen. Was die Leute Anfang der 90er plötzlich wieder für deutsche Filme sehen wollten, von was für einer zutiefst konservativen Menschenanschaung die waren, Friede, Freude, Eierkuchen, Familie, Harmonie und Glück ist das Grösste, das hat mich schon entsetzt. Ich dachte, da waren wir doch schon mal weiter! Auch gesellschaftlich und psychologisch; wir wissen doch, wie schwierig Menschen sind und wie komplex und wie vielschichtig.

Was ich an der Arbeit mit Dir mochte, war die Freiheit, mit der Du das, was passiert, anschaust, und die Unmittelbarkeit, mit der du darauf reagierst.

Es gibt in Amerika diesen gnadenlosen Satz. „When a director dies, he becomes a cameraman“; d.h. je mehr sich ein Regisseur nur um seine Bilder bemüht, um so schlechter wird er als Regisseur. Ich fand diesen Spruch immer richtig. Die Unmittelbarkeit, die man am Anfang der Karriere hat, die geht bei fast jedem früher oder später in eine theoretischere Richtung, in abstrakteren Stilwillen über, und dann muss man das Ruder wieder rumreissen und zur Erzählsubstanz zurückkehren.

Fotografie war nicht das Medium, von dem ich zum Film gekommen bin, nicht die Bilder, die waren mir eigentlich immer eher wurscht. Was mich interessiert, sind vielmehr die Personen, der Rhythmus, die Musik, das Erzählen selber; und man muss eher aufpassen im Lauf der Jahre, wenn man die verschiedenen optischen Möglichkeiten, wie man erzählen kann, adaptiert hat und versteht, dass man dann nicht als Regisseur hinter das Bildermachen zurücktritt.

Natürlich fehlt mir zum Beispiel bei DV das ganz grosse Leuchten der Farben und des Lichts. Aber mein filmisches, erzählerisches Problem der letzten zehn Jahre war, dass ich immer das Gefühl hatte, dass ich zu wenig Material verballern darf. Man kann ja mit 16 oder 35mm auch auf Licht verzichten und schnell drehen, das ist kein Problem. Aber man kann nicht eine Produktionsgesellschaft vor die Tatsache stellen, dass man für irgendeinen kleinen Film mit einem Drehverhältnis von 1:50 Filmmaterial raushaut. Und daher kommt, glaube ich, auch mein nachträgliches Misstrauen gegen die Konzeptionalität der Filme nach „Die Sieger“; dass ich damals das Gefühl hatte, ich müsste durch eine bewusste formale Reduktion gegen die erzwungenen Defizite angehen. Das sieht man bei „Frau Bu“ oder bei dem zweiten „Sperling“. Bei „Bittere Unschuld“ oder „Deine besten Jahre“ hat es eine grössere Stimmigkeit, finde ich. Da tragen die Menschen die Dramen eigentlich nur noch vor Tapeten aus, das stimmt dann in seiner Künstlichkeit vielleicht wieder. Aber bei den Polizeifilmen, da konnte ich nur noch soundsoviel Einstellungen am Tag machen, und das wurde mir dann im Gesamteindruck einfach zu wenig vielschichtig. Ich will eigentlich immer auch noch erzählen, was macht die Frau da hinten, während ich mit Dir telefoniere, und was spielt sich gegenüber auf dem Balkon ab. Diese Vielschichtigkeit macht für mich eine Szene, eine Situation in der Realität immer aus. Und ich hab gemerkt, diese Reduktion, die kann ich mir zwar antrainieren wie einen Apparat, wie ein Auto, das ich dann fahren kann – aber wenn ich meine Filme im Nachhinein sehe, denke ich manchmal, die etwas ungelenkere aber materialintensive Art aufzulösen, so wie das bis zu den „Siegern“ eigentlich der Fall war, ist doch mehr mein Ding.

Ich bin ja ein sehr grosser Fan von Benedict Neuenfels’ Arbeit und halte ihn für eine Ausnahmeerscheinung in Deutschland, weil er dramaturgisch an den Filmen interessiert ist, sich mit seiner Arbeit immer dramaturgisch einbringt.

Ich denke, dass Benedict das ähnlich sehen würde, dass „Der Felsen“ die Summe der Arbeiten ist, die wir zusammen bis dahin gemacht haben. Die Befreiungsversuche damals beim „Skorpion“, die hast Du ja selber miterlebt, wo zum ersten Mal anstand, den Aufwand zu reduzieren, auf die Schauspieler zu gehen, trotzdem aber optisch auf einem hohen Niveau zu arbeiten. Es ging damals um die Drogenerlebnisse dieses Jungen. Beim „Felsen“ ging es dann um dieses Halbdokumentarische, sehr Subjektive, Intime. Um die Verwirklichung von Unschärfe und von Halbschatten. Und insofern ist der Weg eigentlich sehr konsequent gewesen; von sehr klassisch gearbeiteten Sachen wie „Morlock“ oder „Frau Bu“ hin zu dieser Form, wo die Bilder mehr wie Patchwork wirken.

Es gibt diese unglaublich schönen Videobänder von Sachen, die Benedict in Korsika Tag für Tag aufgenommen hat. Das Feuerwerk zum Beispiel, nachts von seinem Haus unten an der Küste aus; das war eine der ersten Sachen, die er in Calvi aufgenommen hat. Also wurde das Feuerwerk in den Film integriert. Lauter solche Dinge. Die Fliege, die am Fensterbrett entlangkrabbelt. Das meinte ich auch mit dem Begriff „Caméra stylo“; Dass man gemeinsam Welt in die Fiktion integriert, und nicht die Welt nur so aussehen lässt, wie das Drehbuch das verlangt. Dass es also eine Reflektion, so ein Hin und Her gibt, zwischen dem, was ich kriege, und der Frage, wie baue ich das in den Film ein. Und nicht: Ich will das! Und so muss das laut Drehbuch aussehen! Dafür muss jetzt ganz Calvi leergeblasen werden! Der Anspruch war dieses Mal, geschmeidig sich der Wirklichkeit anzupassen.

Die Seite hast Du ja auch: Eine Vision, und das soll dann unbedingt so sein.

Ja, an bestimmten Punkten. Aber die Filme, in denen ich am wenigsten geschmeidig bin, auch vom Erzählerischen her, die gefallen mir im Nachhinein auch am wenigsten. Die Filme, in denen ich schwache Einstellungen in Kauf genommen habe, um an dem menschlichen Moment oder am Rhythmus oder am Tempo dieser Szene zu bleiben, sind für mich oft die Besseren. Und dann gibt es aber in allen Erzählungen natürlich auch diese Momente, in denen das Bild sozusagen zum Zeichen wird. Und diese Momente müssen stimmen. Also in der Hierarchie des Inszenierens heisst das: Jetzt regiert nur das Bild, für einen Moment lang. Und dann gibt es wieder die Momente, in denen nur der Rhythmus, die Dialoge wichtig sind, da höre ich den Film mehr, als dass ich ihn sehe. Und oft sehen die Szenen dann auch so aus.

Es geht mir nicht darum, in jeder Szene avantgardistisch oder besonders speziell zu arbeiten, sondern nur darum, das Richtige zu machen, was die Figuren betrifft und die Situation, die Atmosphäre. Etwas, was ich manchmal mehr vom Ton her im Vorhinein schon bestimmen kann, und ich versuche dann, dieses Hörspiel, das ich im Kopf habe, sozusagen im Bild nachzubilden. Durch die Dynamik von DV bekomme ich jetzt endlich, endlich!, diese Unmengen von Material. Und jetzt kann ich sie auch so organisieren, dass man manchmal das Gefühl hat, die Wirrnis bestimmter Momente ist eigentlich nur dazu da, um die Klarheit anderer Momente hervorzuarbeiten. Diese ganz wichtigen, die ganz eigenartigen Momente, die auch wirklich „bäng“ im Zuschauer machen können, die ein Vakuum in der Geschichte erzeugen, als würde ein Orchester plötzlich einen Moment schweigen.

Ich bin kein Regisseur, der in klaren Bilderfolgen denkt. Ich dachte mal eine Weile, ich wäre das oder ich könnte das. Auch zum Wohl der Produktionsverhältnisse; also dass man wirklich sagen kann, jetzt gucken wir in diese Richtung, jetzt machen wir das noch, dann das, dann kommt diese Fahrt. Aber irgendwann habe ich gemerkt, ich will lieber drei verschiedene Versionen, mit drei verschiedenen Zooms auf die Figur zu, als mit einer Schienenfahrt, die einen halben Tag aufgebaut wird, und der Schauspieler weiss dann, wie bedeutungsvoll das jetzt ist, wenn die Kamera und das ganze Team da auf ihn zurattert. Dieser mehr aus der Hand geschmissene Stil, der natürlich dann auch viel mehr Fehlerquellen beinhaltet, ist mehr meine Welt, als die gestochen scharfe Erzählweise. Obwohl ich das als Zuschauer schon toll finde, die Perfektion, wenn das – wie bei Christian Petzold – so eine Eindeutigkeit hat. So eine Klarheit. Aber es entspricht nicht meiner Ungeduld, nicht meinem Temperament, auch nicht meinem Gefühl für die Unwertigkeit von Bildern.

Und es ist ja auch ein Ausweg aus dieser völlig verbilderten, verkindlichten, werbeästhetisierten Welt.

Naja, das finde ich natürlich auch. Ich glaube wirklich, je stärker sich eine Kinokultur an der Bedeutung von Bildern orientiert, je wichtiger sie die nimmt und je mehr die Branche sozusagen den optischen Look als unabdingbares Element einfordert, um so substanzloser wird diese Kinokultur letzten Endes. Die Tendenz ist doch sehr stark, dass dann die Inhalte wegfliegen. Es müsste ja im Grunde nicht so sein, aber es ist meistens so.

Doch, es muss so sein! Die Konzentration kann nur in eine Richtung gehen. Also entweder kämpfe ich um den Inhalt, oder ich kämpfe um die Oberfläche, und das ist dann der Inhalt.

Wobei ich da wirklich lange geglaubt habe, dass es eine Symbiose geben kann. Dass es diese gegensätzlichen Positionen nicht gibt. Aber ich habe dann irgendwann gemerkt, auch an den Filmen derjenigen Regisseure, die ich wirklich liebe oder schätze, dass die ja teilweise in entscheidenden Momenten unglaublich schlampig gedreht haben! Das sieht man auch, wenn man genau hinschaut. Aber diese Unordentlichkeit tut gerade den Dingen, die mich daran berühren, extrem gut. Das mag einem anderen Zuschauer natürlich anders gehen, für den meinetwegen Kubrick das oberste aller Gebote ist. Das ist natürlich auch das Kino schlechthin, das ist überhaupt keine Frage. Ich als Regisseur kann das aber gar nicht bedienen mit meinem Temperament. Und ich kann die Tendenz zur optischen Perfektion irgendwie auch nicht ganz mit meinen Erfahrungen in der Filmindustrie in Deutschland in Einklang bringen. Bei dem, was ich erzählen will, ist mir die Teuerkeit der Bilder im Grunde auch scheissegal. Dieses „Oh, das muss jetzt schon aber mal nach was aussehen!“, der ganze Oscarbezogene Opulenzquatsch, der ganze industrielle Mist, mit dem „Bündnis für Film“, und „Wir müssen jetzt filmhistorisch und wirtschaftlich vorwärts kommen …“. Es geht eigentlich doch null und nicht mehr darum. Es geht doch nur noch um das, was in den Filmen selbst passiert, in einer Form, die sowohl experimentell als auch klassisch sein kann. Ich mach da keinen Unterschied. Und ich empfinde auch, dass bei Filmen, für die Filme, gegen die Filme, immer öfter über die falschen Dinge geredet wird, und das wirklich nicht nur bei meinen Filmen!

Es gibt keine Kultur des Nachdenkens über Film.

Überhaupt nicht! Es gibt keine Bezugspunkte mehr auf die Historie dessen, woraus man arbeitet, und warum der eine Regisseur so arbeitet, die andere Regisseurin anders. Die Industrie verlangt eine Art Esperanto an Filmsprache. Es wird auch untereinander kaum darüber diskutiert. Ich bin jetzt dann Fünfzig im Herbst und habe das Gefühl, dass ich mit vielen jüngeren Leuten, mit denen ich im Team arbeite, nicht mehr über das im Kino reden kann, oder auch über Filmgeschichte reden kann, was mich wirklich interessiert. Das haben die alle überhaupt nicht gesehen. Gut, macht nichts. Aber die Aspekte, die mich daran interessieren, die Dinge, über die wir jetzt hier reden, die interessieren die meisten auch nicht. Sie haben dabei auch nicht das Gefühl eines Defizits. Bei denen beginnt die Filmgeschichte irgendwie 1990; mit „Bladerunner“ – naja, das war immerhin schon 1980, sagen wir mal mit „Seven“, das war’s. Alles was davor ist, ist Omas Kino. Schade.

Es ist natürlich immer die Aufgabe, das, was funktioniert, weiterzuentwickeln. Auch in der Produktionsweise. Wenn es nur darum geht, das, was einmal funktioniert hat, zu wiederholen, kann man ja auch ein Kino aufmachen.

Ich fand ja diesen Truffaut-Satz, dass ein Regisseur sein Leben lang ein und denselben Film macht, immer sehr deprimierend. Das kann ich so auch nicht teilen, weil ich das Gefühl habe, dass man eine geistige Entwicklung durchmacht, und die müsste doch in den Filmen auch Spuren hinterlassen, oder? Natürlich kennen wir alle jene Regisseure, die sich geradezu unheimlich treu bleiben. Aber ich empfinde diese Form der Kontinuität in der Arbeit eigentlich immer als ein Defizit, was das Leben betrifft. Es tut mir ja leid, dass ich wohl deshalb auch eine Filmografie habe, die gewaltige Ups and Downs zu verzeichnen hat, die völlig polarisierende Reaktionen hervorgerufen hat, zwischen Euphorie und in die Tonne getreten. Aber es bleibt doch bisher insgesamt das Gefühl, dass man damit auch als Person eine Entwicklung gemacht hat.

Was brauchen wir: Genre- oder Autorenfilme?

Ich denke, dass eine Filmindustrie Genres braucht, dass sie mit Genres arbeiten muss. Und dass deswegen auch der Autorenfilm letztendlich abgestorben ist. Weil er gar nicht versucht hat, wie meinetwegen das amerikanische Kino der 70er Jahre, Genres auf eine ganz neue Weise zu erobern. Ich hab in den Genres immer eine grössere Lebendigkeit empfunden als in Kunstfilmen. Die Genrefilme, das waren immer die geheimen Leader, die in den C-Pictures und D-Pictures, von ganz unten, wie aus U-Booten Geschosse von Neuerungen an die Oberfläche der A-Pictures emporgeschossen haben. Wir haben in Deutschland diese Chance der Neuerung auch gehabt. In den 80ern. Auch in den Komödien hätten wir sie gehabt, die fünf, sechs Jahre so toll liefen. Aber auch die waren irgendwann nur noch ängstliche Wiederholungen der ersten halbwegs funktionierenden Vorbilder. Weil sie viel Geld eingespielt hatten, teilweise auch wahnsinnig amüsant waren, halfen sie uns allen dabei, erst mal weiter Kinofilme zu machen. Die Beziehungskomödie war mal andeutungsweise wieder ein Genre, das Zuschauer in deutsche Filme brachte. Nur kein Mensch kam auf den Gedanken, dass man diese Komödien auch weiterentwickeln muss. Dass man nicht auf dem Grundkonstrukt von „Männer“, oder dem „Bewegten Mann“ stehen bleiben kann. Kunstfilme sind daneben eine eigene Gattung, die entstehen nicht im Kontakt mit dem Publikum, die sind eine Galeristenveranstaltung, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Aber genau da, wo wir eine Vitalität haben könnten, die auch in direktem Kontakt bleibt mit dem Publikum, in den populären Genres, da erneuert sich aus Furcht gar nichts. Im Gegenteil. Da kommen Fünfundzwanzigjährige daher und bringen in „Tatorten“ die altbackensten Erzählformen unter, wie Mordfälle gezeigt und gelöst werden – nur noch als Chiffren. Weil ihnen nichts anderes einfällt, als bereits Gemachtes noch mal zu imitieren. Weil sie offenbar nichts anders im Kopf haben als das Kino selbst. Warum bilden die Filmhochschulen eigentlich zum grossen Teil entweder Erfüllungsgehilfen eines altmodischen Kinobegriffs oder eines im Fernsehen auch schon wieder altbacken werdenden Unterhaltungsgenres aus? Warum?

Aber die Produzenten …

Ich finde, dass Redakteure und Produzenten überfordert sind mit dem ständigen Vorwurf, der ihnen gemacht wird, sie klammerten sich an die wenigen erfolgssicheren Sachen. Eine Änderung, eine Erneuerung muss doch von uns kommen, vom Autor oder vom Regisseur, indem ein so überzeugender neuer Entwurf gegen diese verständlichen Verlustängste der Geldgeber gesetzt wird, dass man sagt, seht mal, jetzt läuft das Schiff in einer anderen Fahrrinne. Das war doch beim „Fahnder“ oder „Schimanski“ auch nicht so, dass alle Verantwortlichen gleichzeitig gleich mutig waren, wie so eine Piratentruppe, sondern das waren drei oder vier Leute, die sagten, lasst es uns doch mal versuchen, bitte. Und die anderen, die mit von der Partie waren, haben den Kopf gewiegt und gesagt: Na gut, aber erst mal sehen … Es ist auch nicht Aufgabe der Förderer, der Produzenten oder der Redakteure darauf zu achten, dass das Kino nicht immer blutleerer wird in Deutschland, es ist unsere Aufgabe. Dieses Gezeter und Gequengel an den Offiziellen herum finde ich an den meisten Stellen etwas unscharf. Ich rege mich natürlich auch über die Funktionäre des deutschen Fernsehens auf, wenn sie offenbar nicht mehr in der Lage sind, einen Film zu zeigen, der länger als 88 Minuten 30 ist. Was ist das für eine Armseligkeit! Aber von denen nun zu erwarten, dass sie tatkräftige Förderer einer radikaleren Erzählkultur sind, scheint mir auch etwas weltfremd; man muss es ihnen unterjubeln, man muss sie mit Erfolg überzeugen. Das ist immer so gewesen, und man hat da auch nichts anderes zu erwarten als Kreativer, finde ich.

Ich sehe beispielsweise an den Filmhochschulen durch die ganzen Kurzfilme nur bekannte deutsche Schauspielergesichter rennen. Das heisst aber, dass diese Studenten gar nichts anderes mehr kennenlernen als genau die Form von Schauspielerei, die sie auch schon aus dem Fernsehen kennen. Diesen Schauspielern müssen sie dann ja auch noch dankbar sein dafür, dass die in ihre Filme ihre Nase reinstecken. Das heisst aber im Ergebnis, dass die Filme von Anfang an schon „zugeschauspielert“ sind. Die Löcher, die man in der Filmhochschule eigentlich noch bohren kann, damit die Erzählwelten nicht schon so perfekt luftdicht abgeschlossen sind wie dann in der Industrie, diese kleinen Löcher in der Welt des eigenen Films, die man erhält, indem man mal einen Laien einsetzt statt eines Schauspielers, oder indem eine Kameraeinstellung nicht so perfekt wird … diese so wichtigen Löcher der Wirklichkeit im Film gehen immer mehr verloren, weil schon die Übungsfilme so geschlossene Ringe an Handwerklichkeit sein sollen. Also ich hoffe, dass wieder eine Generation von Filmhochschülern kommt, die sich die Welt auch noch anders erobert als nur im Spiegelkabinett der bestehenden Industrieformen.

Aber die Leute, die mutig sind, die neugierig sind, die kommen vielleicht nicht vor zu den Redakteuren.

Klar. Aber da heisst es dann, das durchzuschmuggeln, indem Du in der scheinbaren Konvention plötzlich eine andere Schrift entwickelst. Diese oder jene standardisierte Auftrittsszene in einem Drehbuch, die da jemand zu inszenieren hat, könnte durch eine Inszenierungsidee, durch eine Kreativität mit Schauspielern, zu einer völlig anderen, radikalen Szene werden. Aber das passiert nicht in den Filmen. Sie kleben alle an den Drehbüchern, da ist jedes Wort die Bibel, wir sehen beispielsweise fast keine improvisierten Momente mehr … Und was das betrifft, also den momentanen Einfall beim Drehen – ich weiss auch nicht warum – schiesse ich anscheinend bei den Kinofilmen dann besonders übers Ziel hinaus. Weil ich irgendwie noch denke, im Kino ist noch anderes zumutbar. Mehr Andeutungen. Mehr Fragmente. Aber vielleicht ist das auch falsch und kindisch von mir. Weil das Kino natürlich auch noch was anderes sein muss als Radikalkulturträger; es muss auch noch ein bisschen Geld einspielen; und das auch mit einer gewissen Zuverlässigkeit. Aber auch der Mainstream funktioniert, meiner Ansicht nach, nur wirklich auf der Basis von Kreativität und nicht auf der Basis von Standardisierung. Da geht das Medium kaputt. Sowohl das Kino als auch das Fernsehen.

Es entsteht ja tendenziell immer der Eindruck, als habe man nur die Wahl, entweder einen sehr persönlichen Film zu machen oder einen Film, der versucht, Mainstream zu sein. Nur sind diese beiden Dinge ja eigentlich überhaupt kein Widerspruch. Klar, Massenkompatibilität steht oft in Verbindung mit einer industrialisierten Form von Humor. „Teenie-Wichskomödie“ oder sonst irgend ein durchberechnetes Teil, kennen wir alles. Aber da, finde ich, müsste noch mal Luft rein in diesen speziell deutschen Produzenten- und Regisseursblick, der besagt, dass Kommerzialität nur eine Art tote Retortenherstellung sein kann und dass eine sehr persönliche Vision von Filmen sozusagen zwangsläufig am Gros der Zuschauer vorbeigehen muss. Kommerz und persönliche Vision, das sind doch zwei Dinge, die sich überhaupt nicht ausschliessen! Nur bei uns wird es argumentativ immer so zurechtgewurschtelt; als müsste man auf ein Industrieprodukt dringend einen Einfluss nehmen, der das kleinste gemeinsame Vielfache berücksichtigt.

Worauf kommt es dir persönlich im Kino an?

Es geht mir um ein Geben und Nehmen zwischen dem Leben und dem, was man beim Filmen macht. Ganz einfach. Dass der Film, den man macht, sozusagen in der Welt steht und nicht auf einem Sockel in einem Museum. Es geht mir weniger um meine Vision; es geht um unser aller Vision; so ein bisschen, wie wir das auf Korsika auch versucht haben. Einen Weg zu finden, den man sicherlich angreifen kann, der aber gerade in seiner Angreifbarkeit, in seiner Ungeschlossenheit, auch vielleicht – vital ist? Sagen wir das so. Vital. Dass Filme vital sind. Dass sie dem Leben wieder was zurückgeben. Dass sie nicht nur das Leben in sich aufnehmen, um es zu verdichten, wie so ein kalter Lava-Abdruck, sondern dass sie in sich noch selbstbewegliche Magma sind. Wo man durchaus mal reingreifen möchte, wo man als Zuschauer irritiert sein kann: Kann das jetzt nicht mal ein bisschen ordentlicher oder geordneter sein? Aber das ist eigentlich dann doch der höchste Punkt, den ich anstrebe: Du guckst als Zuschauer nicht fertigen Abläufen, sondern eher den Dingen und auch den Gedanken förmlich beim Werden zu. Und da hilft DV auch noch mal. Die Fülle der Eindrücke mag auch zur Verwirrung beitragen, ich verstehe das. Aber es ist von uns gemeint als ein Angebot von Welt im Kino, ein Angebot, das einem die Chance gibt zu sagen: Also wenn ich ganz ehrlich bin, empfinde ich das Leben eigentlich auch als so oder ähnlich chaotisch … So was wie „Bad Timing“ von Nicolas Roeg (1979) gibt mir da immer Trost. Ich glaube, der lief damals fünf Tage lang im Raucher-Kino E, und von dem hat der Verleiher auch noch sein Logo vorne entfernt. Da war plötzlich nun gar nichts mehr gefroren und geformt und für immer wie ein toter Schmetterling an eine Wand gepiekst und beschriftet, sondern der Film war und ist eine Liebesgeschichte, die alles vermischt, die Chronologie, die Gefühle, die Sehnsüchte, er praktiziert leidenschaftlich über zwei Stunden die Vermischung von allem, allem, allem. Nur fand ich als Zuschauer in einem solchen Film quasi die Essenz. Die blaue Blume. Ich kann sagen, er hat mein Leben verändert. Und es war dann nicht mehr die Essenz von Kunst oder vom Filmemachen oder von irgendeinem anderen artifiziellen Scheiss, sondern dieser Film war und ist für mich die Essenz von Leben, ganz einfach.

Das Gespräch führte Martin Farkas am 04.05.2002 in Berlin. Bearbeitung: Martin Farkas, Sebastian Kutzli und Dominik Graf.

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