Überspringen zu Hauptinhalt

Jeffrey Seth Colen: 3 oder 4 Dinge, die passieren können …

… wenn die Theorie einen Ausflug ans Set macht.

Obwohl sie sich Sonntag morgens vielleicht imselben Café gegenüber sitzen und schreiben: Die Welten des Filmtheoretikers und des Filmautors sind denkbar weit voneinander entfernt. Der Eine hat ein Team von fünfzig Leuten, der Andere arbeitet zurückgezogen. Der Eine muss die Anforderungen des Marktes bedenken; die Tätigkeit des Anderen ist geradezu durch das Gegenteil definiert. Obwohl die Lektüre von Filmtheorie für den Beruf des Filmemachers ungefähr so nützlich ist, wie das Lesen eines Belichtungsmessers für den Filmtheoretiker, gibt es vielleicht doch einige nützliche Theorieelemente, die für die praktische Anwendung am Set geeignet ist. Mit anderen Worten: Dieser Artikel ist kein Versuch, Theorie zu praktizieren, vielmehr will er eine theoretische Frühstückslektüre liefern, die man überfliegen kann, bevor man aus dem Haus geht, um einen Tag am Set zu verbringen.

Es gibt keine Theorie ausserhalb der Praxis, und es gibt keine Praxis ausserhalb der Theorie; es sind zwei Seiten derselben Medaille. Es ist ein gefährlicher Irrtum zu glauben, man könnte rein theoretisch oder rein praktisch arbeiten. Wenn man sich ein Drehbuch ausdenkt, hält man sich gerne für völlig frei, kreativ und originell. Wenn man dagegen einen Belichtungsmesser abliest, den Boden für die Schauspieler markiert oder Filmmaterial in die Kamera einlegt, lässt man sich leicht davon überzeugen, man verrichte ganz alltägliche technische Aufgaben ohne jeden gedanklichen Wert. Es gibt zwei Überzeugungen, die in diesem Zusammenhang als besonders problematisch erscheinen: der Glaube, dass man etwas ganz Natürliches tue und die Dinge eben so ausführe, wie es sich gehöre; und der Glaube, man könne alles auf seine Weise machen, völlig selbstständig. Zu denken, man könne entweder total abhängig (als reiner Techniker) oder total unabhängig (als reiner Künstler) arbeiten, ist gleichermassen unsinnig. Wie wäre es, wenn man sich selbst stattdessen als einen Techniker begreift, der in einem künstlerischen Diskurs gefangen ist und gleichzeitig als einen Künstler, der in einem technischen Diskurs gefangen ist?

Es gibt kein Filmemachen jenseits des Filmlesens, und es gibt kein Filmlesen jenseits des Filmemachens.

Wenn man seinen eigenen Film macht, ist es unvermeidlich, dass man Bezug nimmt auf andere Filme, die man gesehen hat, wie auch auf andere Texte (Bücher, Gemälde, eigene Begegnungen), mit denen man zu tun hatte. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind in gewisser Weise beschränkt durch die enge Welt der Dinge, die wir entweder erfahren oder gelesen haben.

Mit anderen Worten, immer wenn man Menschen darzustellen versucht, die „anders“ sind als man selbst, stellt sich ein immanentes Problem. Dieses Problem ist weniger kritisch, wenn die dargestellte Figur uns in politischer, ethnischer oder sexueller Hinsicht ähnlich ist. In manchen Fällen aber kann es ziemlich heikel werden. Wenn ein deutscher Regisseur aus der Mittelschicht einen Darsteller für einen obdachlosen, ausländischen Transvestiten sucht, spricht einiges dafür, sich für einen professionellen Schauspieler zu entscheiden, statt jemanden von der Strasse zu holen – einfach um klar zu machen, dass das, was dargestellt wird, eine persönliche Wahrnehmung einer solchen Person ist und nicht die tatsächliche Person selbst. Selbst wenn diese Entscheidung im fertigen Film nicht transparent werden sollte, ist sie wichtig im Sinne eines Filmes, der nicht nur „politisch“ gemeint, sondern auch „politisch gemacht“ ist.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Filmemachen grundsätzlich ein Akt des Filmesehens ist, gibt es natürlich keine „originellen“ Filme. Jeder Film setzt gewissermassen andere Filme und Texte, mit denen der Autor sich auseinandergesetzt hat, neu zusammen. Statt diese Erkenntnis als Ausrede für fehlende Originalität oder für Plagiate zu nutzen, sollten wir sie stattdessen lieber als Aufforderung zu offeneren und besseren „Rekombinationen“ verstehen. Anders gesagt: Zweifellos sind wir durch das, was wir gesehen haben, beschränkt; aber darin liegt eben auch die Chance, effektiver und politischer zu „Rekombinieren“, statt uns von der „Originalität“ oder dem „Plagiat“ verführen zu lassen. Ist es letztlich nicht egal, ob der Look oder die Story neu ist? Es sind doch die durch den Look oder die Story ausgedrückten Ideen, die „neu kombiniert“ werden bzw. provozierend sein müssen. Das ist ein wichtiger Unterschied, der in der gegenwärtigen Filmlandschaft häufig übersehen wird.

Eine der prägnantesten Bemerkungen über das Kino, die ich je gehört habe, lautet ungefähr so: „Lass den Cinephilen in Dir sterben.“ Ich glaube, das ist eine Warnung davor, sich allzu sehr durch die Welten verführen zu lassen, die man sichtbar macht. Mit anderen Worten, das Klischee – dass das Schauen von Filmen eine passive, gedankenlose Tätigkeit ist, bei der man von der Welt des Films absorbiert wird – gilt umso mehr für Leute, die selbst am Filmemachen beteiligt sind. In diesem Sinne ist es vielleicht die erste Aufgabe des radikalen Filmemachers, eine „Vision“ zu haben, ohne eine Beziehung zu dieser „Vision“ zu entwickeln, die auf Verführung oder einem blossen Interesse am Sehen basiert. Konkret: Statt das Inszenieren als eine Tätigkeit aufzufassen, bei der es darum geht, interessante Dinge zu zeigen, muss sie als Möglichkeit begriffen werden, zu zeigen, wie das Sehen von Dingen interessant wird. Vielleicht sollte man sich als Filmemacher als erster Zuschauer seines Films sehen, statt als Schöpfer oder Gestalter.

Am Wichtigsten an diesen Bemerkungen ist mir nicht der Gedanke, dass die Theorie in den Alltag am Set einsickert, sondern vielmehr die Einsicht (und deren produktive Nutzbarmachung), dass die Theorie immer schon am Set ist, egal ob sie irgendjemand für den Drehtag disponiert hat oder nicht. Die Pointe ist hier natürlich, dass die Ergebnisse eines solchen Artikels niemals innerhalb des Artikels selbst verifiziert werden können. Das bedeutet, dass die Stringenz des Arguments keine grosse Rolle spielt – ebenso wenig wie das bewusste Verständnis des Lesers (vorausgesetzt, dass dieser auf die eine oder andere Weise am Filmemachen beteiligt ist). Ich hoffe vielmehr, dass der Filmemacher, statt Theorie „verstehen“ oder „anwenden“ zu wollen, diesen Text einfach liest wie jeden anderen Text und dass diese Gedanken so irgendwann in eine Filmform einfliessen – wobei sie den Veränderungen und Miss – verständnissen ausgesetzt werden, die notwendig und produktiv sind für jegliche Art von „Rekombination“. Ich würde mir wünschen, dass eine Diskussion über das Filmemachen entstünde, die auf Film- und Kulturtheorie zurückgreift, ohne sich im Nebel von deren Namen, Fachbegriffen oder ihrer dichten Prosa zu verlieren, und dass dies schliesslich im kleinen Masstab zu polemischeren Filmen führte, angefangen bei denen der Leser dieser Zeitschrift.

Shoot back!

Aus dem Englischen übersetzt von Jeffrey Seth Colen und Felix Koch. Polish: Jens Börner, Tamara Danicic.

zurück