Überspringen zu Hauptinhalt

Interview: Jeff Wall

Revolver: Was haben Sie zuletzt Gutes im Kino gesehen?

Jeff Wall: Ich bin nicht oft ins Kino gegangen, unter anderem, weil ich nicht so sehr das Bedürfnis habe, unterhalten zu werden. Ausserdem kann man sich die meisten Filme nach sechs Monaten zu Hause auf DVD ansehen. Wenn ich mir einen Film genau ansehe, also nicht nur zum Spass, muss es etwas sein, was mit meiner künstlerischen Arbeit zusammen hängt. Wahrscheinlich war das zuletzt „Rosetta“ von den Dardenne-Brüdern.

Wie weit geht der Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und den „Noten zum Kinematographen“ von Bresson?

Ich kenne den Text. Ich mag Bressons Interesse an „Amateuren“. Es ist für mich nicht so schwer wie in einem Film, weil in meinen Bildern niemand wirklich spielen oder Sätze sprechen muss. Ich kann Laien einsetzen, wie es für einen Filmemacher unmöglich wäre. Auf diese Weise verkörpert die Person die Rolle, die er oder sie spielen soll, fast vollständig. Bresson selbst hat das vom Neorealismus gelernt. Ich mag es, wenn der Schauspieler völlig mit der Rolle verschmilzt und nie seinen Charakter verrät, was ja im normalen Kino üblich ist, wo der Darsteller, wer auch immer es ist, ausserhalb der Rolle steht. Es gibt verschiedene Ansätze, damit umzugehen, aber ich mochte immer Bressons Weg. Genauso wie sein Insistieren auf der Wiederholung als Mittel, über das blosse Darstellen hinauszukommen. Es geht dabei nicht mehr um konventionelles Schauspiel, sondern eher um ein „Inbesitznehmen“ der Welt. Ich habe bemerkt, dass es unerfahrenen Leuten schwer fällt, zu erfüllen, was ich von ihnen will, weil sie kein Training haben. Ich bin nicht in der Position, sie wirklich zu „trainieren“, aber wenn man langsam arbeitet und den Leuten die Möglichkeit gibt, mehrere Tage hintereinander wiederzukommen, geben sie ihre Ängstlichkeit auf und fühlen sich langsam wohler. Es wird dann ein Job für sie, und ich glaube, wenn es funktioniert, wachsen sie über sich hinaus und bringen etwas ein, was nicht einmal sie selbst für möglich gehalten hätten. Auch wenn es nur ein kurzes Aufleuchten eines Gefühls ist. Auch wenn es nur eine Bewegung ist, die sich natürlich anfühlt. Bresson war besonders gut darin, das herauszuarbeiten und auf ganz gezielte Weise einzusetzen. Stanley Kubrick war für diesen Prozess auch bekannt, aber ich finde die Ergebnisse sind nicht vergleichbar. Auch deshalb, weil er professionelle Schauspieler und Filmstars verwendet hat, schafft er nicht dieses gleiche Gefühl. Ich würde Kubrick in dieser Hinsicht nicht so hoch einschätzen wie Bresson.

In dem Making-Of von „The Shining“ erzählt Jack Nicholson, Stanley Kubrick hätte ihm gesagt: „Spiel nicht einfach nur natürlich, sondern versuche, hypernatürlich zu sein.“ Ich finde, das ist etwas, was man von den meisten Charakteren Kubricks sagen kann: sie sind alle Hyper-Natürlich.

Seine Filme sind gut, aber ihnen fehlt diese Tiefe des Gefühls. In den besten Bresson-Filmen gibt es irgendwie diese gebändigte Leidenschaft, die man nicht sehen, aber spüren kann. Seine Farbfilme sind für mich nicht so gut wie die frühen, schwarz-weissen. Mit der Zeit haben Ideologie und Ideen überhand genommen; deshalb wurden seine Filme unrealistisch. Jean Eustache beispielsweise war ein Filmemacher, der von Bresson einige Ideen übernommen hat, aber er hat sich mehr Unreinheiten erlaubt, mehr Zufälle – oder jedenfalls sieht es so aus. Bresson hat seine Filme später zu sehr aufgeräumt.

Wenn Sie sagen, dass Sie Szenen mit den Darstellern wiederholen – heisst das, Sie gehen für ein paar Tage ins Studio, um immer wieder und wieder zu probieren, für ein einziges Bild?

Manchmal einen ganzen Monat.

Für ein und dasselbe Foto?

Ja. Im Studio ist es leichter zu arbeiten als im Freien, weil draussen das Wetter ständig wechselt. Es gibt einen Haufen Unterbrechungen und ständig Druck, fertig zu werden, so dass man nie sehr lang an einem Ort arbeiten kann. Aber man kann es machen. Ich arbeite gern zwei oder drei Wochen an einem Bild; die Darsteller kommen täglich, fünf oder sechs Tage die Woche. Das Fotografieren selbst dauert nicht so lang. Man kann von niemandem verlangen, eine Handlung mehr als ein, eineinhalb Stunden lang zu wiederholen, weil dann einfach nichts mehr übrig ist. Deshalb versuche ich, mindestens zwei oder drei Wochen an einem Bild zu arbeiten – so langweilig es auch werden mag, der Prozess braucht so lange.

Behalten Sie immer den gleichen Blickwinkel auf die Szene bei?

Gelegentlich. Die Leute scheinen zu meinen, dass alles, was ich mache, im Vorhinein geplant und jedes Detail festgelegt ist. Natürlich stimmt das nicht. Um meine Arbeit herum ist das Klischee entstanden, dass ich alles schon vorher genau weiss und das dann einfach nur umsetze. Aber so geht es nicht. Die Dinge verändern sich laufend. Die Darsteller bringen immer etwas ein, von dem sie nicht wussten, dass sie es besitzen und woran ich nie vorher hätte denken können. Im Verlauf der Entstehung verändert sich das Bild. Natürlich – ab einem bestimmten Punkt kann ich mich für eine bestimmte Handlung entscheiden. Und dann bleibe ich auch dabei. Aber in dieses eine Ding ist der ganze verschlungene Weg mit eingeschrieben, den wir gehen mussten.

Ich habe zum Beispiel ein Bild gemacht, das „Housekeeping“ heisst, in schwarz-weiss. Darin verlässt ein Zimmermädchen gerade den Raum, den sie sauber gemacht hat. Als ich damit angefangen habe, wollte ich sie dabei zeigen, wie sie das Bett macht. Wir haben das versucht – es war ganz nett, aber alles Mögliche hat nicht funktioniert. Deshalb habe ich sie das ganze Zimmer aufräumen lassen, so wie es uns das echte Zimmermädchen gezeigt hatte. An diesem Punkt verwende ich oft Video. Ich lasse das Video laufen und verlasse sogar den Raum, damit die Darstellerin sich unbeobachtet fühlt. Video kann man später anhalten, um nachzusehen, was man hat. Ich bin also durch eine Menge von Transformationen gegangen. Aber schliesslich habe ich den Moment, wie sie den Raum verlässt, viel interessanter gefunden: Das Zimmer war schon sauber, alle Spuren waren getilgt, und man konnte sehen, was sie gemacht hatte.

Die Zimmermädchen haben einen feuchten Lappen zum Wischen, den sie oft unten an die Tür werfen, damit sie offen bleibt … Am Schluss habe ich alles auf den Moment reduziert, wo sie im Badezimmer ist, das Licht löscht, herauskommt, diesen Lappen aufhebt, in die andere Hand nimmt und aus der Tür geht. Als ich diese Handlung gefunden hatte, habe ich aber immer noch ziemlich lang gebraucht, das Ganze zu fotografieren, weil in der Bewegung immer noch viele kleine Dinge passieren. Es ist für die Darstellerin ziemlich ermüdend, die Aktion fünfzig oder sechzig mal hintereinander zu wiederholen, aber weil sie ermüdet, weil sie das Interesse verliert, weil ihr alles viel zu vertraut ist, wird sie viel besser. Erst dann entsteht etwas jenseits der Schauspielerei. Es ist die Art von Verhalten, auf die die Fotografie wirklich aus ist. Und dorthin gelangt man eben nur mit viel Zeit.

Am Anfang steht eher ein emotionales Konzept?

Es ist nicht einmal ein Konzept. Nur ein Thema, eine Stimmung und eine Person. Keine Idee. Ich habe keine Ideen für Bilder. Ich habe ein Thema und ein Gefühl und meine Vorstellung von dem, was ein gutes Bild ist. Die Leute haben häufig einen seltsamen Eindruck von meiner Technik, als sei sie völlig anders als die anderer Leute, aber das ist sie nicht. Ich versuche, etwas zu machen, was sich wirklich so anfühlt, als könnte es gerade geschehen – etwas, das die Illusion von Gegenwart in sich trägt, das Gefühl einer emotionalen Wahrheit. In gewisser Weise stösst jeder, der am Bildermachen interessiert ist, früher oder später auf dieselben Probleme.

Was hat es für Auswirkungen auf den Prozess, wenn Sie einerseits auf den Zufall setzen und andererseits am Computer später alles kontrollieren?

Ich glaube, alles, was in der Kunst wirklich interessant ist, beruht auf Zufällen, auf dem Spontanen. Bresson sagte: „Ich bereite alles vor, damit ich für das Spontane bereit bin, wenn es passiert.“ Man bereitet also alles möglichst genau vor. Aber eigentlich macht man vor allem sich selbst bereit für den Moment, in dem das Spontane entsteht – was auch immer das sein mag. Man muss dafür sorgen, dass solche Sachen entstehen können. Ich denke, eines der Probleme bei der digitalen Arbeit ist, dass man sehr leicht zu viel kontrolliert. Und zu viel Kontrolle ist künstlerisch uninteressant. Interessant dagegen ist es, ein Sensorium, ein Gefühl für Zufälle zu bekommen, so dass man sie einfangen oder sogar initiieren kann. Als ich zum Beispiel „A Sudden Gust Of Wind“ machte, wollte ich zeigen, wie der Wind Papierblätter davonträgt. Einige dieser Probleme hatte Hokusai schon gelöst. Wenn man seine Komposition analysiert, stellt man fest, dass viele der kleinen Papierschnipsel mit sehr wichtigen Punkten im Rechteck übereinstimmen. Er hat etwas komponiert, das ein Gefühl von Zufall erzeugt. Es war nicht zufällig komponiert, aber er wusste, wie er es anstellen musste, damit es so aussah. Ich dachte mir, die einzige Möglichkeit, etwas Ähnliches zu erreichen, wäre, zuerst einmal eine Zufalls-Situation herzustellen – viel Bewegung zu erzeugen, um viel Material zum Editieren zu haben. Also haben wir eine Menge Papier durch die Luft gewirbelt und dabei versucht, uns das Rechteck des Bildes und den unsichtbaren dreidimensionalen Luftstrom darin vorzustellen. Sobald die Blätter in die Tiefe wandern, entfernen sie sich von uns und werden kleiner. Ich habe lange an der Komposition gefeilt. Es gibt kein Rezept – es ist nur ein Gefühl, ein Gespür für das Reale. Wie die Dinge wirklich sind oder wären.

So wie ich Sie verstehe, beginnen Sie mit einer Art von imaginärem Szenario oder Miniscript?

Einem Fragment.

Dem Fragment eines Drehbuchs?

Nein, dem Fragment eines Themas. Ich habe zum Beispiel in Istanbul ein Bild gemacht. Das Thema war die Ankunft einer Person vom Land in der grossen Stadt. Was mich daran interessiert hat, war die Tatsache, dass grosse Städte wie Kairo und Istanbul mehr und mehr zu gigantischen Dörfern werden, weil so viele der neuen Einwohner direkt aus dem Dorf kommen. Die Dörfler verändern die Natur der Städte, in die sie auswandern. Das hat mich fasziniert. Ich hatte das Gefühl, es wäre schön, den Moment der Ankunft einer einzelnen Person zu zeigen. Das meine ich mit Fragment eines Themas. Es ist nur ein Ausgangspunkt.

Ich glaube, es ist die letztendliche Klarheit Ihrer Bilder, die die Leute denken lässt, alles sei kontrolliert und voller Bedeutung – wie in den Bildern des neunzehnten Jahrhunderts, in denen man alles interpretieren kann.

Man glaubt jedenfalls, man könne alles interpretieren. Das ist oft eine Illusion. Die Leute sind mittlerweile so erzogen, zu glauben, sie müssten Kunst verstehen. Das heisst, sie brauchen eine Interpretation, sie wollen sie erklären. Das ist ein Teil der kulturellen Erziehung, die wir entwickelt haben. Aber ich glaube, es gibt eine tiefere Art, Bilder anzusehen, als nur nach Bedeutung zu suchen. Und zwar, sich an ihnen zu freuen – sie zu erleben.

Ihre Technik ist es aber doch, Fragmente von Bedeutung zu zeigen. Ganz bestimmte Fragmente, aus denen wir natürlich versuchen, ein Ganzes zu schaffen. Das ist vielleicht auch das Geheimnis des Erfolges Ihrer Bilder: Sie sind so reich, dass man sich eine eigene Geschichte bilden kann. Sie geben uns die Essenz einer Geschichte, wir ergänzen den Rest.

Aber ist das nicht das Erfolgsrezept jedes guten Bildes?

Ja, wahrscheinlich.

Es hat nicht speziell mit mir zu tun. Ich glaube, jedes Bild, an dem wir uns freuen, hat denselben Effekt. Die Erfahrung eines Bildes, die Freude daran kreiert sofort die Erfahrung von dem, was aus dem Bild verschwunden ist – in anderen Worten: das Vorher, das Nachher und das Innere. Das, was man an Bildern liebt, sind die Dinge, die fehlen, die einem entwischen. Diese Faszination ist wirklich wichtig – die Faszination für den unsichtbaren Teil. Weniger gute Bilder haben keine solche Innenwelt. Man weiss, was vor und nach dem dargestellten Moment passiert ist. Diese Art von Bildern hat eine Bedeutung, eine Funktion, wohingegen künstlerische Bilder keine Funktion haben, ausser der, eine spezielle Erfahrung auszulösen.

Aber es fällt auf, dass Ihre Bilder nie verschwommen oder unscharf sind. Sie sind so klar und scharf, dass der Betrachter glaubt, nichts könnte ihm entgehen. Alles liegt klar vor ihm, und doch fehlt etwas.

Je weiter ich gehe, desto mehr betone ich das, was fehlt. Früher war es mir eher wichtig, etwas ins Bild zu bekommen, um es sichtbar zu machen. Vielleicht war dieser Umweg einfach notwendig, um zu verstehen, was ich wollte. In einigen Bildern, die ich vor 15, 20 Jahren gemacht habe, ging es mir vor allem darum, das Sichtbare in die Bildfläche zu bekommen. Das ist auch in Ordnung. Ich glaube nicht, dass daran etwas falsch ist, aber in diesem Prozess wurde mir klar, dass man, egal wie viel man ins Bild setzt, immer ein Schlupfloch lässt. Deshalb interessiert mich heute eher das Verschwinden. Seit einiger Zeit ist auf meinen Arbeiten weniger zu sehen. Sie sind mehr auf das gerichtet, was schon verschwunden ist. Ich mag den Gedanken, dass der Verweis auf ein Ereignis die Imagination der Leute für etwas in Gang setzt, was ausserhalb der Darstellung dieses Ereignisses steht. Innerhalb des Bildes hat man keine Assoziation.

In Bezug auf dieses Unsichtbare – wie könnte ein Film aussehen, den Sie gerne machen würden?

Ich will keine Filme machen. Das, worüber wir gerade reden, ist im Kino viel schwerer zu erreichen, weil etwas im Kino eben früher oder später sichtbar werden muss und seine Konsequenzen ebenfalls. Ein Grund für meine leichte Aversion gegen den Gedanken, Filme zu machen, ist, dass ein Film beginnt, abläuft und endet. Das finde ich als Kunstform irgendwie unattraktiv, unfrei und schwierig. Das stehende Bild konfrontiert dich nur mit diesem einen Moment, dieser „Zelle“ – der Rest des „Films“, wenn man das so nennen will, entsteht in den Zuschauern, in ihrer Imagination. Das ist sehr offen und vage, aber es hat seine Vorteile. Im Film schleppt man die Last mit, den Ausgang eines Ereignisses immer mitdenken zu müssen.

Und Video-Kunst? Sie könnten einen Film machen, der so lange dauert, dass ihn niemand zu Ende sehen kann, der weder Anfang, Mitte oder Ende hat.

Ich finde, Video-Kunst ist eigentlich nur eine andere Art von Kino – experimentelles Kino abseits des Mainstream. Ich mag es nicht, Videos an Orten zu sehen, die ursprünglich für Gemälde und Skulpturen gedacht waren. Seit der Verknappung öffentlicher Gelder fürs Kino gibt es sowohl in Europa als auch in den USA keine wirkliche Unterstützung mehr für den unkonventionellen, experimentellen Film. Die einzigen Leute, die diesen Film in der letzten Zeit unterstützt haben, sitzen in den Kunst-Institutionen und Museen. So wurde die so genannte Kunstwelt nach und nach zum wichtigsten Förderer des neuen Kinos. Die Kunstwelt finanziert diese Arbeiten, weil es sonst niemand machen will – in Hollywood interessiert sich niemand dafür, der Filmindustrie ist es egal und der Staat will auch nicht zahlen. Die Leute können sich also bei den Sammlern bedanken. Trotzdem rechtfertigt das nicht die Vorstellung, Kino sei dasselbe wie andere Künste und könne in denselben Galerien ausgestellt werden.

Kommen wir zurück zum Zusammensetzen von Bildern. Was halten Sie davon, vorgefundenes Material, „found footage“, neu zu kombinieren? Warum brauchen wir neue Bilder – warum nicht alte neu zusammensetzen?

Es gab immer das pessimistische Argument, dass alles schon gesehen und gemacht worden sei und wir deshalb nur Vorhandenes neu kombinieren sollten. Aber das stellt eine fundamentale Tatsache nicht in Rechnung – nehmen wir an, man könnte tatsächlich sagen, dass es nur eine Geschichte zu erzählen gäbe und jeder Filmemacher immer nur dieselbe Geschichte erzählen müsse. Wäre das alles wahr – warum sollte ich dann nicht dasselbe erzählen wie alle meine Vorgänger? Meine Antwort lautet: weil ich nicht die andern bin. Ich bin neu, auch wenn meine Geschichte vielleicht nicht neu ist. Ich erzähle sie auf meine Art anders und zu einem anderen Zeitpunkt.

Aber wir beschäftigen uns heute täglich mehrere Stunden mit Bildern. Vor 200 Jahren war das anders.

Sogar noch vor vierzig Jahren.

Das muss doch unsere Art, mit Bildern umzugehen, verändern.

Das hat tatsächlich einen enormen Einfluss. Die meisten Bilder werden wie Informationen nur konsumiert, aber wir sehen so viele Bilder, dass es bereits Ermüdungserscheinungen gibt. Meine Versuche sind teilweise eine Antwort auf diese Ermüdung. Ich versuche, in einem Raum zu arbeiten, der aus diesem Überdruss heraus entstanden ist. Früher gab es nur wenige Bilder, hergestellt von Malern, Bildhauern oder Handwerkern. Das konnte bisweilen Kunst, ja grosse Kunst sein und hatte doch eine soziale Funktion. Und obwohl es funktional war, war es auch schön.

Als die Medien dieses funktionale Bildermachen übernommen haben, wurde es natürlich weniger schön, weil sie es so billig gemacht haben. Aber früher gab es diese Ermüdung nicht, es gab eine Erregung, die die Menschen anzog wie ein Magnet. Ich arbeite nicht direkt gegen diesen Überdruss, weil mich Kritik nicht interessiert, aber ich will ein anderes Gefühl hervorrufen, das uns daran erinnert, wie es früher war.

Es ermüdet, die ganze Zeit Bilder zu sehen, und manchmal ist es angenehm, gar keine Bilder um sich zu haben – in einer Umgebung zu sein, wo gar nichts ist. Keine visuelle Information. Kein Betrachter mehr sein zu müssen …

In dieser Hinsicht scheinen sich Ihre Bilder zu verändern. Die früheren Bilder wie „Eviction Struggle“ von 1988 schienen mit anderen Bildern wetteifern zu wollen, während sich ihre letzten Werke eher entziehen.

Das war das Ende eines Weges, den ich von Beginn an beschreiten wollte, nämlich, wie gesagt, Dinge sichtbar zu machen. Als ich in den sechziger und siebziger Jahren angefangen habe, gab es eine bilderstürmerische Atmosphäre, einen Widerstand gegen das Bildermachen. Nicht direkt gegen Bilder, aber gegen die traditionelle, künstlerische Anmutung von Bildern. Kunst der Sechziger war sehr stark Anti-Kunst. Über zehn Jahre hinweg, von Mitte der sechziger bis Ende der siebziger, war es ein Kampf für mich, Dinge als Bild zurück in die Welt zu bringen. Es war hart für mich, weil das damals eher unorthodox war. Ich hatte das Gefühl, ich müsste Dinge ins Bild setzen, und an einem bestimmten Punkt habe ich das sehr forciert – vielleicht zu sehr.

Ich habe das Gefühl, dass moderne Unterhaltungsformen wie zum Beispiel Computerspiele die Menschen in ihrem Blick auf Bilder und Kunst, Filme etc. sehr verändern, weil dieser interaktive Umgang mit Story und Bildern das Bedürfnis der Menschen nach Kunst verändert.

Die interaktive Bilderzeugung per Video und Computer ist aber immer noch eine Maschine, die in der Zeit läuft, und die Interaktion ist insofern von der Natur einer zeitlich ablaufenden Maschine bestimmt. Dagegen ist traditionelle Kunst wie Skulptur, Malerei usw. in dem Sinn interaktiv, als dass man mit ihr emotional in Beziehung tritt. Auf bestimmte nicht-taktile Weise spielt man ja auch mit Kunst. Es ist nicht nötig, mit ihr physisch in Beziehung zu treten, so wie man mit einem Spiel interagiert, bei dem es nur darum geht, zu bestimmen, was als nächstes passiert. Bilderkunst (pictorial art) bewegt sich nicht, deshalb gibt es kein „Was kommt als nächstes?“. Das bedeutet auch Freiheit. Freiheit von Interaktivität ist sehr wichtig. Man ist in der Kunst nicht gezwungen, zu interagieren, man kann einfach nur erleben. Dann kann man wieder gehen und weiterleben. Diese Freiheit ist in gewisser Weise mein Modell. Interaktivität kann leicht zu Gängelung werden, zur lästigen Pflicht.

So wie es einen Überdruss an Bildern gibt, kann es auch zu einem Überdruss an Interaktivität kommen, der die Leute zurück zur Nicht-Interaktivität bringt, die sich ja über Tausende von Jahren als brauchbar erwiesen hat. Die traditionelle Kunst wird jetzt eine Zeit lang von den Neuen Medien überschwemmt werden, wie es offensichtlich heute schon der Fall ist. Die traditionellen Kunstformen wurden von den neuen Medien vollkommen erstickt. Und das wird vielleicht noch 30, 40 Jahre andauern, schätze ich.

Ich würde gern nochmals auf die Ermüdungserscheinungen durch die Bilderflut zurückkommen, weil ich den Eindruck habe, dass ihre Methode eine Antwort darauf ist.

Ich beginne oft mit dem Akt des Nicht-Fotografierens. Es kann sein, dass ich etwas sehe – auf der Strasse oder wo auch immer –, und wenn ich ein Fotograf der journalistischen Schule wäre, würde ich versuchen, das im Moment einzufangen, so wie Cartier-Bresson. Der erste Impuls eines Fotografen richtet sich auf das auftauchende Ereignis. Das ist völlig legitim und etwas, was Fotografie wirklich gut kann – aus einer Gelegenheit Kapital schlagen. Dann aber ist man immer auf der Jagd nach Ereignissen. Fotojournalismus wurde und wird von Leuten praktiziert, die das mögen. Ich habe das nie sehr gemocht. Aber ich wollte trotzdem Fotografie machen, weil ich die Kunstform, das Medium liebe. Also war meine erste wirklich persönliche Handlung das Nicht-Fotografieren. Was wiederum keine Kritik an denen sein soll, die fotografieren. Nur eine alternative Möglichkeit. Ich beginne, indem ich mich der Möglichkeit, zu fotografieren, verweigere. Aber ich sehe Dinge und merke sie mir. Ich behalte sie im Gedächtnis. Das ist auch eine Art, sich vom Geschwindigkeitsrausch der Bildproduktion zurück zu ziehen. Den Prozess zu verlangsamen. Ein Bild „einzuüben“, das ist der Versuch, nicht mehr Bildern hinterher zu hetzen und auch nicht die Bilder selbst zu hetzen. Film hetzt die Bilder ständig. Aber ein einziges Bild zu sehen und zu versuchen, es über eine lange Zeit hinweg zu produzieren und zu inszenieren, ist der umgekehrte Weg.

Ich mag die Vorstellung, dass man etwas, was man sieht, vergisst. Dass man den Faden verliert oder vergeblich versucht, es sich zu merken. So vermeidet man das Problem von Leuten wie Gary Winogrand: Sie machen so viele Bilder und sind dann dazu verdammt, sie auch zu erhalten. Er kann sie nicht zerstören, weil für uns das Zerstören von Bildern sehr schwierig ist. Wir sind nicht in der Position, Dinge zu zerstören. Und also sind wir verdammt dazu, Tausende von vielleicht nutzlosen Bildern zu bewahren.

Mein Ansatz war, mir die Chance zu geben, das Bild schon im Vorhinein auszumustern. Das ist ein wesentlicher Aspekt im Prozess der Kritik. Wenn das Bild nicht verschwindet, wenn sich die Erinnerung nicht irrt, oder wenn du zu dir selbst nicht mehr kritisch sagen kannst: „Es hat keinen Sinn, damit weiter zu machen“ – dann versuche ich, das Bild zu machen. Wenn ich ein mögliches Sujet sehe, kann ich es frei beurteilen, weil ich es noch nicht fotografiert habe. Sobald ich es fotografiere, gerate ich in den Zusammenhang meiner Arbeit, und eine Beurteilung wird schwieriger, weil man verstrickt ist in Fragen, die nicht zur Sache gehören. So entsteht Langsamkeit. Und wenn mir das Bild gelingt, merke ich, dass diese Langsamkeit irgendwie im Bild spürbar ist. Du kannst nicht den Finger darauf legen, aber du spürst, dass das Bild am Ende eines langen Weges steht, der zurückgelegt werden musste, um es herzustellen.

Und auf diesem Weg kombinieren Sie verschiedenste Bilder mit verschiedenen Bedeutungen und Gefühlen.

Es ist ein Hybrid, eine Art synthetische Konstruktion, die keine strikte Definition hat. Ich kann es nicht definieren, ich weiss nur, dass es funktioniert. Unter bestimmten Umständen kann man Bilder, die man selbst sorgfältig inszeniert hat, mit strikt dokumentarischem Material kombinieren. Zum Beispiel das Bild eines Darstellers mit dem eines Menschen, der nicht spielt, sondern nur zufällig vorbei kommt. Das ist sehr schön, Leute, die du kennst, mit Menschen zusammen zu bringen, die dir unbekannt sind. Die, die du kennst, und die, die du nicht kennst. Ein Band zwischen Leuten, die sonst nichts verbunden hätte.

Das Gespräch führten Roland Zag und Benjamin Heisenberg im Dezember 2002 in Köln. Bearbeitung: Benjamin Heisenberg, Roland Zag, Jeff Wall. Übersetzung: Roland Zag, Benjamin Heisenberg.

zurück