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Nicolas Wackerbarth: Tableau Vivant

Was ist denn hier los? Verzeihung, haben Sie noch eine Karte übrig?
Ja, hier.
Für mich auch?
Du Schatz, gib dem Mann die Karte!
Vielen Dank. Nehmen Sie mich mit. Ich bin blind, wissen Sie.
Ja, sicher. Kommen Sie. Da haben wir beide ja noch mal Glück gehabt. So viele Menschen hier!

Total ausverkauft. Sie müssen mich nicht führen. Danke.
Wie wäre es, wenn wir hier reingehen?
Aber da ist eine Warteschlange, nicht?
Na, wir zeigen einfach auf ihren weissen Stock. Was meinen Sie?
Das funktioniert?
Na, sicher. Machen Sie das nie?
Nein.
Also, wenn ich blind wäre …

Oh hier ist aber warm.
Stimmt, Sie haben recht.
Bleiben Sie bei mir, Sie müssen mir beschreiben, was Sie sehen. Wie viele Zuschauer stehen da?
Wir müssen noch etwas weitergehen. So zwei, drei Reihen sind vor uns, mehr nicht. Und ein paar Leute sitzen auf dem Boden.
Was sehen Sie jetzt?
Ich sehe 35 Frauen.
150 müssen es sein.
Ja, Sie haben recht, es sind wesentlich mehr als 35.
Hab’ ich gelesen. Und sind Sie hübsch?
Ja … nein, sie sind … durchschnittlich. Schon hübsch, aber …
Dicke sind nicht dabei?
Nein, Dicke gibt es nicht.
Weiter!
Ja, also sie stehen aufrecht, frontal zu uns gerichtet. Sie blicken unbeteiligt, besser gesagt neutral.
Das müssen sie.
Ja, sieht so aus.
Und das ist alles? Bewegen Sie sich nicht?
Nein, einige sitzen bereits. Wirkt wie ein biblisches Bild, ein Abendmahl oder … nein, gemischt mit … verzeihen Sie, ich muss das erstmal auf mich wirken lassen … diese klare Ästhetik des Raums!
Wenn ich meine Faust zu einem Fernrohr balle, kann ich einzelne Lichtpunkte sehen.
Genau, die sind in der Decke in grossen Quadraten eingefasst. Ansonsten ist die Halle frei tragend, nur von zwei Marmorrechtecken gestützt. Das sind ganz klare Linien, und im Hintergrund sieht man die Lichter der Stadt. Das soll, glaube ich, so eine Mischung aus Werbeästhetik und natürlicher Schönheit sein. Wenn Sie mich fragen, ist es fast interessanter, die Leute drumherum zu beobachten.
Kann man die Farbe der Schamhaare erkennen?
Die Farbe der … na ich guck’ da erstmal auf den Kopf.
Ich kann einen kleinen Streifen erkennen, oberhalb des Bauchnabels.
Ja, die Frauen tragen alle Strumpfhosen, schön hochgezogen, die sind auch durchsichtig, also man kann da alles erkennen.
Könnten Sie bitte Ihre Kommentare lassen.
Verzeihen Sie, ich muss … er ist …
Ich bin blind.
Er ist schon weg, er glaubt uns nicht.

Ich würde gerne näher rangehen.
Das darf man nicht.
Warum?
Dann ist es keine Kunst mehr.
Ich will die doch nicht betatschen!
Trotzdem, diese Art Bildrahmen macht schon Sinn.
Noch mal, Sie sind hübsch?
Sagen wir so, sie sind alle nach einer bestimmten Ästhetik ausgewählt. Da hinten steht übrigens auch eine Frau mit weissen Haaren …
Also sie sind so zwischen …
18 und 70, nein eher 65.
Mist! Freunde von mir wollten noch rein, aber bei der Schlange wird das schwierig.
Ich kann Sie ja fotografieren?
Darf man, glaub ich nicht.
Ich habe das im Handy, merkt kein Mensch. Ich könnte Sie auch filmen.
Wunderbar, einen Blinden filmen. Machen Sie nur, machen Sie! Läuft es schon?
Einen Moment … so, Sie sind drauf.
Sieht man meinen Blindenstock?
Nein, nur Ihr Gesicht.
Warten Sie, ich halte ihn hoch.
Ja, jetzt habe ich ihn. So, und jetzt schwenke ich rüber zu den Damen.

Verzeihung, man darf hier nicht filmen!
Oh, tut mir leid.
Ist schade, würde ich auch gerne machen, darf man aber nicht!
Wegen des Urheberrechts.
Genau.
Gut, also.

Ist er weg?
Ja.
Und? Haben wir alles im Kasten?
Viel nicht, aber man kann schon einiges sehen. Ich denke, ich gehe mal wieder. Ich gebe Ihnen meine Nummer, dann können Ihre Freunde sich bei mir melden. Es war mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Bleiben Sie noch?
Ja, ja, ich gehe noch ein wenig rum. Sagen Sie, gibt es eigentlich noch diese Peepshows, wo jemand auf so einem sich kreisenden Teller liegt.
Ich weiss nicht …
Mmh … wissen Sie, als die Mauer fiel, bin ich rübergegangen, damals konnte ich noch sehen. Am Ende des Tages hatten wir nur noch 2 Westmark, und da ich mit drei Frauen unterwegs war und die auch einmal so was sehen wollten, haben wir uns gemeinsam in eine Kabine gedrängt. Ich stand ganz hinten und die drei Damen aufgereiht vor mir, wie die Orgelpfeifen. Na, die sich da auf dieser Drehbühne gerekelt hat, musste ja auch gedacht haben.
Die kann Sie nicht sehen.
Sind Sie sich da sicher?
Ja.
Aha, wie schrecklich.

Besuch der Performance VB 55 von Vanessa Beecroft in der Neuen Nationalgalerie Berlin am 8.4.2005

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