Überspringen zu Hauptinhalt

Manfred Hermes: Tja

a. Welche Kritik?

Eine Position auf der Veranstaltung „Perspektive Filmkritik“ war besonders entschieden: Die Filmkritik ist parasitär, läppisch, man käme gut ohne sie aus. (Applaus.) Man kann an dieser Stelle zugeben, dass sich die Filmkritik in der Regel mit Filmen (oder deren Drumherum) beschäftigt, Filme aber keine Filmkritiken verfilmen. Aus diesem Zusammenhang Hierarchie- oder Abhängigkeitsverhältnisse abzuleiten ist trotzdem unangebracht, denn das würde aus Filmen eine sakrosankte Substanz machen und nicht die zusammengesetzten, öffentlich zugänglichen und beliebig nutzbaren Objekte, die sie sind.

In dieser Vorstellung von beliebiger Nutzbarkeit ist im Grunde eine bereits weitgehende Vorstellung von Filmkritik enthalten – in journalistischen Kontexten wäre sie zugegebenermassen aber kaum realisierbar. Sicher gibt es selbst in deutschen Feuilletons Stimmen und ein paar Kritiker, deren Temperament oder Verfügung über Aussendaten man schätzt oder auf deren Texte man sich freut. Aber auch denen fehlt oft ein stabiles Publikationsumfeld, das Diskurse oder soziale Zusammenhänge ermöglicht. Dass das in anderen Feuilletonbereichen gelegentlich anders ist, hat neulich ein Beitrag von Hubert Winkels in der „Zeit“ gezeigt. Winkels reagierte darin auf Volker Weidermanns Literaturgeschichte „Lichtjahre“, dessen infantile Kategorien (Leidenschaft, Direktheit, Biografismus) in seinen Augen den Rückblick auf die Entintellektualisierung des deutschen Feuilletons seit den 1980er Jahren erforderten. Das ist hier deshalb von Belang, weil die Rücknahme von Komplexität im hiesigen Filmbereich ähnlich verlief und ebenfalls bis heute nachwirkt. In der Produktion trat sie als Forderung nach Rückbau romanhafter Offenheit und Hinwendung zu gesetzestreuen dreiaktigen Erzählmustern auf. In der Kritik hingegen als Verstümmelung postmoderner Vorgaben zu einer neuen Volkstümlichkeit, die sich aber trotzdem mit einer Cinephilie des hohen Tons, des schwerfälligen Enthusiasmus („Magie des Kinos“) und eines nicht unbeträchtlichen Sexismus mischen konnte. Die so oft betuliche Launigkeit der heutigen Filmkritik hat nicht zuletzt in diesen Entwicklungen ihre Wurzeln.

Es hat keinen Sinn, hier weiter ins Detail zu gehen, bzw. das journalistische Format zu überfordern. Es ist nur eben so, dass die Tageszeitungsreview, also der schnell geschriebene, sehr nah am Objekt bleibende Servicetext (mit geringer Legitimationsdichte und einer Intransparenz der Zugangsweise), schon seit einer Weile das Textmodell auch in weniger aktuellen Publikationsformen ist – ohne dass sich hierzulande je die kühle No-Nonsense-Hermeneutik durchgesetzt hätte, wie sie etwa „Variety“ vorschreibt.

Die Herstellung programmatischer Bindung ist immer eher die Aufgabe von Zeitschriften, die auf dieser Basis Diskurse entwickeln, differenzieren und im besten Fall verpflichtend machen können, und zwar bevor die Universität ihr lähmendes Interesse über sie breitet. In dieser Hinsicht sind die verschiedenen Stadien der „Filmkritik“ eben doch das herausragende Beispiel für eine Zeitschrift mit einer gewissen Wirkung. Ihr Abstieg in edle Unbedeutendheit und das schliessliche Entschlummern ist sicher eines der traurigen Kapitel im Roman der deutschen Filmkultur.

b. Abdruckspuren

In den 1970er Jahren trat „Filmtheorie“ in eine aufregende Phase. Einerseits führten semiologisch geprägte Untersuchungen des filmischen Formbestands zu einer Vermehrung von Differenzierungen, andererseits wurden (vor allem in den USA) die psychoanalytischen, bzw. poststrukturalistischen Analyseinstrumente zu einer politischen Waffe. In ihrem Aufsatz „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ von 1975 untersuchte Laura Mulvey die regressiven Strukturen des klassischen Spielfilms und das besondere Vergnügen, das sie dem Zuschauer bereiten, verknüpfte die feministische Analyse aber gleich mit der Forderung nach einem „anderen Film“ und einem anderen Vergnügen. Das war zwar leichter gesagt als getan, blieb aber nicht ohne Konsequenzen. Es hatte ja auch zuvor bereits, unter dem Einfluss verschiedener Linien der künstlerischen Moderne, eine Reihe von Angriffen auf herrschende Ordnungen gegeben, etwa Godards postdramatische Zerlegungen und Umfaltungen des filmischen Raums oder die Filme von Kenneth Anger, Maya Deren, Andy Warhol oder Jack Smith, die ein surrealistisches Erbe antraten und die Exploration des Sexuellen als Kernthema an die Folgezeit weitergaben. Es hat immer Rückkopplungen zwischen minoritären Ästhetiken und der Massenkultur gegeben. Seitdem aber „Theorie“ dazukam, haben sie sich noch intensiviert. Seit den Achtzigern wurde etwa die Kritik der Repräsentationen zunehmend auch vom US-Mainstreamfilm absorbiert, mit beträchtlichen Auswirkungen auf die Darstellung etwa von Frauen, Schwarzen und Schwulen. Andererseits schlug ein minderheitliches Kino den Weg Richtung Mainstream ein, indem es etwa die von Fassbinder angetestete Umwertung von Genremustern verfeinerte. Die Effekte, die dieses relationale Kino (etwa von Gus Van Sant, Todd Haynes, Todd Solondz, Bruce la Bruce) auf die Atmosphäre, Sensibilität und das deviante Potential selbst zeitgenössischer Produktionen aus den USA und GB hat, sind kaum zu überschätzen – und sei es nur, dass es jetzt auch im Fernsehen einen Reichtum von sozialen Typen und Haltungen gibt wie seit den Filmen Warhols nicht mehr. Ich denke aber auch an die vielfältigen Formen von „Maskulinitätskritik“, wie sie etwa „The Sopranos“ oder „Curb Your Enthusiasm“ veranstaltet haben, um nur zwei der erfolgreichsten US-Serien des letzten Jahrzehnts zu nennen. Wenn man dann noch sieht, wie neuartig ein Film wie „Brokeback Mountain“ die von einer bestimmten Filmkritik in den 1980er Jahren so sehr geschätzten „grossen Gefühle“ aufführt, dann werden nicht zuletzt die Bedingungen schmerzlich bewusst, in denen so ein Film in Deutschland nicht einmal „denkbar“ ist.

c. Das deutsche Imaginäre

So unangemessen verkürzt diese Darstellung auch sein mag – die deutsche Film- und TV-Situation wurde von diesen Entwicklungen zuletzt ohnehin kaum mehr berührt, obwohl die Voraussetzungen seit den Siebzigern hier eigentlich günstig waren. Als es im hiesigen Erzählkino mit dem „Politischen“ wieder so weit war, trat es vor allem als Ratlosigkeit, Sentenzhaftigkeit und Dezisionismus („Muxmäuschenstill“) auf. Was haben sich alle über „Die fetten Jahre sind vorbei“ gefreut, obwohl dessen erste Politik (Proto-Terrorismus) doch so offensichtlich auf der Basis einer zweiten stand, die die Entwicklung noch etwas weiter zurückdrehte: Zwei Männer, dazwischen, als Münze, die Frau.

Von der Despotie herrschender Verhältnisse haben sich deutsche Filme nur selten freigemacht. Eingespannt in die konkurrierenden Zwänge, einerseits ein möglichst zahlreiches Publikum anzusprechen, dabei andererseits aber auch „Kunst“ und „persönliche Schreibweise“ beherrschen zu sollen, kommt es gerade jetzt wieder häufiger zu einer eigenartigen Mischung idealistischer Vorstellungen von Kunst und vom Autor mit popkulturellen Ambitionen, die sich zudem eigenartig an Radikalitätsforderungen klammern. Das „Künstlerische“ scheint auf diese Weise vor allem zum Ausstatter „imaginärer Täuschungen“ zu werden, in denen das Ich bekanntlich nur das Eine versucht: dem Trauma auszuweichen, auf körperlicher Vollständigkeit zu beharren und als künstlerischer Produzent das „gute Objekt“ zu liefern (wo wir doch alle wissen, dass die Angst der einzige Affekt ist, der nicht täuscht und nur das Trauma die Festigkeit von Systemen ernsthaft bedroht). So wird nun oft Eintönigkeit zum Konzept, Benommenheit zu Nachdenklichkeit deklariert und mürrische Gesichter zu Zeichen der Entfremdung. Oder es ist genau andersherum: unvermittelte Ausdrucksexplosionen, Hektik und eine Herrschaft der Instant-Bedeutungen, die noch den gröbsten Gemeinplatz mit Xavier-Naidoo-hafter Beseeltheit vertritt.

Es ist nicht leicht zu verstehen, warum das ausgerechnet in Deutschland so extreme Formen annimmt. Wer aber die Vulgarisierung der hiesigen Filmkritik beklagt, der muss wahrscheinlich diese Aspekte berücksichtigen, denn die uns hier beschäftigenden Gefühle von Ungenügen sind womöglich reziprok und haben einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund.

d. Solange es Türen gibt

Frieda Grafe hat in einem Aufsatz über Ernst Lubitschs Filme an Mary Pickfords Enttäuschung über den deutschen Regisseur erinnert: Dem seien Türen immer wichtiger als Menschen gewesen. Grafe, die in Filmdingen immer auf der Seite von theoretischer Komplexität, Prosperität und dem Glanz der Oberflächen stand, wusste, wie wichtig die Objekte im psychischen Haushalt und zu was sie gerade in Filmen fähig sind. Dieses Wissen wird aber in dem Masse immer wieder eingestampft, wie „der Mensch“ als eine feste und einzig relevante Grösse in die Arena zurückgestellt wird. Dann meldet ganz schnell die „schöne Seele“ Ansprüche an, projiziert die eigene Unordnung auf die Welt und drängt das Gesetz des Herzens auch denen auf, die davon nichts wissen wollen. Dann trumpft aber auch der Kult der Natürlichkeit wieder auf, Augen schauen eindringlich und die Kamera darf Aufnahmefähigkeit in allerfeinster Kadrierung demonstrieren.

Man sollte meinen, dass ein Land, dessen Massenkultur geradezu höllisch zentristisch, bräsig und nur sehr wenig unterhaltsam ist, sich wenigstens im jüngeren Segment ein bisschen Luft machen würde. Kunst tritt aber auch hier nur selten als Test für die Aufnahmefähigkeit neuer Wahrnehmungsweisen und gesellschaftlicher oder narrativer Möglichkeiten auf, sondern stellt auch nur weitere Angebote zum Reizschutz und zur Blasenbildung her. Wir durchlaufen momentan ein neues Biedermeier, einschliesslich des Hangs zur lokalen Perspektive, zum Interieur, zum Sehnsuchtsblick aus dem Wohnungsfenster, dem Bummel im Stadtpark. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Verlust einer Macht betrauert, die man nie hatte, heute eine, die man nicht einmal mehr haben will.

In dieses Szenario der Verkleinerung fügt sich die Pädophilie (und Familienfixiertheit) im jüngeren deutschen Kino nahtlos ein. Die Bedrohung des kindlichen Zustands ist als Thema nicht unzweideutig, da sich auf etwas so Unspezifisches und Unentschiedenes wie „Jugend“ jede denkbare Regression projizieren lässt (und dabei momentan praktischerweise mit einer revisionistischen Anti-68er-Polemik kurzschliessbar wird). „Realistisch“ ist das insofern, als die sich hier äussernden Beharrungskräfte allgemeinerer Art sind. Die Weigerung, von aussen erzwungenen Veränderungen Genuss abzuringen, mit Unordnung zurechtzukommen und Abweichung als Evolutionsfaktor zu akzeptieren, scheint eine herausragende „qualité allemande“ zu sein, jedenfalls soweit man Film- und Fernsehproduktion als Beleg heranzieht. Auf diesem Gebiet (denn auf anderen ist Deutschland ja nicht unbedingt die sanft intervenierende Macht, für die manche es halten) wird den Trieben viel Raum gelassen, ihre konservative Tendenz auszuleben, frühere Zustände ohne grosse Umwege einzufordern.

Statt dieser vielen Schlenker hätte ich vielleicht besser ein wenig mehr Ursachenforschung betrieben oder versuchen sollen, das Geheimnis zu lüften, warum eher aus Filmländern mit wirtschaftsliberalen Traditionen die grossartigeren, narrativ beweglicheren und unterhaltsameren Filme und TV-Serien kommen. Dafür ist es jetzt zu spät. Es scheint aber, als könnte das, was uns ja jetzt tagtäglich als neoliberale Rhetorik übergebraten wird, auch andere als sadistische Effekte haben.

Welche „Perspektive“ soll eine Filmkritik in diesem höchst überdeterminierten Feld einnehmen? Um die Bestätigung von undeutlich zentrierten Blickwinkeln, Regressionen und der optischen Täuschung schöngeistiger Realitätskonzepte kann es nicht gehen. Filme können ja mehr als das. Im Grunde sind sie das Gleiche wie Kritik: Türen.

zurück