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Katja Nicodemus: Auf der anderen Seite

Man könnte an dieser Stelle ausführlich erörtern, dass Filmkritik Kunstkritik ist, die sich im Idealfall zwischen Gesellschaftskommentar und Weltdeutung bewegt. Man könnte die kritische Tradition vorstellen, in der man selbst steht oder zu stehen glaubt, ob die Linien nun zu Siegfried Kracauer oder André Bazin, Truffaut, Godard oder Frieda Grafe zurückführen. Das alles könnte man tun und sich wunderbar wichtig fühlen.

Vielleicht sind Filmkritiker, die ihre Arbeit als eine Art der Kunstvermittlung betrachten, sogar wichtiger als je zuvor. Und doch ist unser Horizont, unsere Aufmerksamkeit und schlimmstenfalls auch unser Urteil von einem Phänomen beeinflusst, das sich in den letzten Jahren zu unverschämter Bedeutung aufgebläht hat: Dem Marketing. Flankiert wird es von der lästigen Tendenz der Kritik, mehr auf andere Medien zu schielen als sich mit den ästhetischen Gegenständen zu beschäftigen.

So seriös, kritisch, unparteiisch wir uns als Kritiker fühlen mögen – wir kommen gar nicht umhin, immer wieder auf künstlich erzeugten Eventwellen mit zu surfen, auf Kampagnen, Debatten und Scheindebatten zu reagieren. Ein Beispiel: In letzter Zeit hat sich bei gewissen Grossfilmereignissen die Praxis eingeschlichen, nicht die Kritiker, sondern zuerst ihre Chefredakteure zur Vorführung zu laden („wir wollen erst einmal ein Stimmungsbild unter den Meinungsmachern erstellen“). Bringt das erste Magazin eine exklusive Vorab-Geschichte zu diesem Film, der schon Event war, bevor ihn auch nur ein einziger Kritiker gesehen hatte, wollen auch die anderen Feuilletons mitmischen. Mit dem originellsten Ansatz, dem überraschendsten Autor, der lustigsten Tangente. Kommt der Film Wochen nach dieser ersten Textwelle ins Kino, wird es zum Start noch einmal Porträts, Interviews, Kritiken und Hintergrundgeschichten hageln (allein in der ZEIT erschienen im Jahr 2004 in verschiedenen Ressorts insgesamt sieben Texte zu dem Film „Der Untergang“). Das heisst natürlich nicht, dass die Autoren der einzelnen Beiträge hysterisiert, korrumpiert oder verblendet sind. Aber es bedeutet den Triumph des Marketings über eine Filmkritik, die ihre Proportionen und vielleicht auch ihre Massstäbe verloren hat, weil sie sich zu selten traut, Schrott einfach als Schrott zu behandeln. Natürlich wäre es völlig weltfremd, als Filmkritiker an der populärkulturellen Wirkung des Kinos vorbei zu schreiben, die ja einen Grossteil seiner Faszination und Kraft ausmacht. Nur verhält sich diese Wirkung heute zumeist recht proportional zum Werbe-Etat des Films.

Als Filmkritiker müssen wir solche Auswüchse nicht mit schicksalsergebener Duldsamkeit hinnehmen oder uns gar ins adornitische Elfenbeintürmchen verziehen. Im Gegenteil, wir sollten uns nicht zu schade sein, immer wieder auf diese Verzerrungen hinzuweisen. Dies bedeutet auch, dass die Kritik die Umstände, unter in denen sie entsteht, hin und wieder mit einer gewissen Angriffslust beschreiben sollte. Dazu würde zum Beispiel gehören, dass man die unseligen Gruppeninterviews, bei denen Journalisten in Massenformationen auf Filmschaffende treffen, entweder nicht macht oder sie zumindest als solche ausweist. Dass man die neulich verschickte Einladung zur Vorführung der ersten 35 Minuten eines Films („Bitte kreuzen Sie an: Ja, ich will unbedingt dabei sein“) kommentiert oder glossiert. Oder dass man sich zusammentut, um allzu aufdringliches Marketing, gängelnde Sperrfristen und was auch immer zu boykottieren.

Es bedeutet schliesslich, dass wir die Filme, von denen wir wirklich überzeugt sind, so gross wie möglich besprechen sollten, zumal wenn es sich um einen „kleinen Film“ handelt, was ja häufig nur heisst, dass er kein Budget besitzt, um im Gewusel der Hochglanzeinladungen, Eventpremieren und Interviewjunkets mit zu trompeten. Vielleicht läuft dieser Film nur auf Festivals oder in einem einzigen Berliner Kino, oder er tingelt als einsame Kopie durch die Lande. Aber es ist dieser Film, es ist das Eintreten für die Weerasethakuls, Bruno Dumonts, Dardennes und Grisebachs dieser Welt, das unserem Beruf seinen Sinn verleiht. Über dieses Kino zu schreiben, mit aller analytischen Lust und Begeisterung, ist immer noch wichtiger, als auf das Eventdebattengrossfilmereignis der Saison mit dem Kunstrichterstock einzuschlagen, der ja in solchen Fällen ohnehin nur die Wirkung eines Straussenfederchens hat.

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