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Enno Patalas: Eingebettete Filmkritik

Film in der „Süddeutschen“ – Einzelfall oder Symptom?

Vor einiger Zeit hat ein englischer Video-Produzent Murnaus „Nosferatu“ auf DVD herausgebracht und in seinem Trailer behauptet, die Fassung basiere auf der „kürzlich in Deutschland gefundenen einzigen noch existierenden Kopie der Originalfassung“. Gefragt, wo er das Recht zu dieser wahrheitswidrigen Behauptung hernähme, meinte er, ich müsse das verstehen: „We call that marketing.“

Daran hab ich denken müssen, vor einem Jahr, als der Süddeutsche Verlag seine DVD-Reihe startete mit der Behauptung, die Filmkritiker der „Süddeutschen“ hätten dafür ihre Lieblingsfilme ausgesucht. Über 50 Prozent Hollywood, wie es jeder kennt und liebt, viel unterhaltsames Handwerk, ein paar Schnulzen, als Paradestücke Hitchcock, Hawks, Eastwood, garniert von etwas europäischem Kunstkino, Fellini, Bergman, Truffaut, die üblichen Verdächtigen. Halt die Ladenhüter einiger Firmen, die sich dem Ansinnen des Verlages nicht widersetzten, sie in seine Billigedition – keine Extras! – aufzunehmen. Kein Eisenstein, kein Dreyer, kein Ophüls, kein Preston Sturges, kein Rohmer, kein Mizoguchi, kein Ozu, sowieso nur Erzählkino und wie selbstverständlich nichts aus dem ersten Drittel der Kinogeschichte. „Cinemathek“ nennt der Süddeutsche Verlag die Reihe – Henri Langlois rotiert im Grabe!

Die „Lieblingsfilme der Filmredaktion“? I call that bullshit.

Dass die Reklamefritzen von Verleihen und Verlagen sich mit – echten oder falschen – Zitaten hinter Zeitungs- und Kritikernamen verschanzen, ist nicht neu. Neu ist, dass eine seriöse Zeitung, ihre Redakteure und ihre Schreiber sich dazu hergeben, ihrem Verleger die Waschzettel zu schreiben, sie im redaktionellen Teil abzudrucken und namentlich zu zeichnen. Hundert Wochen lang drückt die Feuilletonredaktion sie dem Leser aufs Auge, in bald täglichem Wechsel mit denen der verlagseigenen Krimi-, Kinderbuch- und was sonst noch Reihen. Täusche ich mich oder trifft mein Eindruck zu, dass die Verfasser dabei überwiegend lustlos zu Werke gehen und laue Aufgüsse von früher Gedachtem und Geschriebenem liefern? Nirgendwo jedenfalls ein Ansatz zu spezifischer DVD-Kritik: wie dem Film der Transfer bekommt – als hätte man auf der DVD den Film eins zu eins, nicht mehr, nicht weniger.

Bevor der Süddeutsche Verlag selbst ins DVD-Geschäft einstieg, wurde in seiner Zeitung das Medium, in dem die Cinephilen heute die Filmgeschichte wie nirgends sonst erfahren, kaum gewürdigt. Anders als die FAZ hat die SZ auch heute noch keine DVD-Seite. Wie könnte die auch aussehen? Wo nähmen die Autoren die Chuzpe her, die Produkte der Konkurrenz zu kritisieren?

Angesichts schwindenden Anzeigenaufkommens, diagnostizerte die „Zeit“ anlässlich der Romanreihe, die ein Jahr zuvor den Reigen eröffnete – auch deren Auswahl definiert durch das Angebot der Lizenzgeber –, solle so „die seriöse Presse saniert werden um den Preis ihrer Seriosität“, denn „die Glaubwürdigkeit eines Kritikers besteht gerade darin, dass man von seinem Urteil annimmt, es sei von ökonomischem Interesse frei“.

Wie soll man das den SZ-Filmschreibern noch abnehmen? Das Schlimme am Bullshit, sagt Harry G. Frankfurt („On Bullshit“, deutsch bei Suhrkamp), sei nicht, ob er grade mal der Wahrheit entspräche oder glatt gelogen wäre, sondern „dass jemandem, der im System des Bullshit denkt und lebt, irgendwann das Gefühl dafür abhanden kommt, dass er womöglich auch mal die Wahrheit sagen könnte“. Beziehungsweise dem Konsumenten, dass er die Schreiber prinzipiell als Lobbyisten wahrnimmt.

Natürlich spreche ich aus enttäuschter Liebe. Am Filmfeuilleton keiner anderen Zeitung habe ich über Jahrzehnte hin vergleichbar Anteil genommen. Gunter Groll stellte sich mir dar als das exemplarische Muster einer Filmkritik, die zu überwinden wäre. Mit Hans-Dieter Roos fühlte ich mich in intellektueller Konkurrenz verbunden. Zu Alf Brustellins Zeit unterwanderten einander das SZ-Feuilleton und die von mir redigierte „Filmkritik“. 1970 zettelten die Filmschreiber der SZ einen Streik an, der zu einer Erhöhung des Zeilenhonorars für freie Mitarbeiter führte – wo hat es das sonst gegeben? In den Siebzigern und Achtzigern ermöglichten Siegfried Schober und Peter Buchka Filmseiten, die den Rezensionsbetrieb transzendierten – illustrierte Essays über Autoren und Aspekte des Kinos. Vieles vom Besten, das Frieda Grafe geschrieben hat, ist so erschienen – bis der Chef vom Dienst der Cinephilie einen Riegel vorschob. Dass Fritz Göttler lieber ganz zur SZ ging, als sich als mein Assistent beim Münchner Filmmuseum auf meine Nachfolge zu spitzen, fand ich in seinem Interesse und dem des Kinos in München gerechtfertigt. Bis heute ist die SZ die einzige Tageszeitung, die ich täglich lese – weshalb hier auch von ihr nur die Rede sein kann.

Längst räumt ihr Feuilleton dem Film mehr Platz ein. Filmbesprechungen erscheinen auf der ersten Feuilletonseite – wo gab’s das früher, wo gibt’s das sonst? Auch Filmseiten gibt es wieder, allwöchentlich zum aktuellen Starttermin ein Mosaik aus Meldungen, Besprechungen, Interviews, Porträts – eine Reihe mit Starporträts wurde mit der 195. Folge (übertreibe ich?) beendet. Das Kino ist angekommen in der Kultur. Damit scheint die Reflexion über sein Spezifisches, wodurch es die alten Künste und die durch sie inspirierte Lebenserfahrung in Frage stellt, überflüssig geworden zu sein. Viele Bäume, kein Wald. Sowieso finden nur Filme Erwähnung, die die Gnade der Verleiher finden – also zum Anzeigengeschäft beitragen. Wann hat die SZ je darüber reflektiert, warum französische, auch amerikanische Filme, die in den „Cahiers“ oder in „Film Comment“ interessant besprochen werden, bei uns nicht erscheinen?

Die Rezension jedes halbwegs prominenten Films ist eingebettet in Interviews, nicht nur mit Regisseuren, die zu ihren Filmen Substanzielles zu sagen haben, auch mit Schauspielern, die bekunden, wie glücklich sie bei den Dreharbeiten waren, wie sehr sie mit ihrer Rolle sich identifiziert haben und uns einladen, ihnen darin zu folgen. Es gibt einen gleitenden Übergang von der Spalte „Leute“ im Vermischten (neuerdings „Panorama“), wo man erfährt, wie Star Sowieso zu seinem Körpergeruch steht („Meine Mutter mag ihn“) über die Schauspielerinterviews auf „Gala“-Niveau zu den Besprechungen der betreffenden Filme. Ein Extremfall, aber ein exemplarischer, war die Behandlung des „Untergangs“ – als interessiere ein Film primär nicht als Film, sondern als „Fall“. Als solcher wurde Eichingers Machwerk erstmal durch alle möglichen Beiträge interessant gemacht, sodass die nachgeschobenen Vorbehalte folgenlos verpuffen mussten.

In Gestalt von Zitaten schwappt die Selbsteinschätzung der Macher aus den Interviews über in die Rezensionen. Die Rezensenten kennen sich gut aus – besser als ihre Vorgänger – in Leben und Werk von Regisseuren und Darstellern. Deren frühere Rollen schnurren zusammen zur Genealogie eines Charakters, als welche sie sich nun darstellen. Als Leser wird man auch den Verdacht nicht los, dass auf jeden irgendwie wichtigen Film nur Wohlwollende angesetzt werden. Kästner vom Kopf auf die Füsse stellend, möchte man fragen: Herr Doktor, wo bleibt das Negative? Keiner, der angesichts falscher Ansprüche die Ärmel aufkrempelte und sagte: Jetzt lasst mich mal ran. In der Feier des gut Gemachten und politisch Korrekten geht die Wahrnehmung wirklicher Autorenqualitäten, in denen das Spezifische des Kinos individuell sich artikuliert, unter.

Ja, als französische Kritiker in Cannes solche bei den „Neuen Berlinern“ feststellten, hielt der Korrespondent der SZ dem entgegen, beim Publikum müssten sie sich erst noch bewähren. Statt gegen dessen angenommene Indifferenz anzuschreiben, sieht man ihr erwartungsvoll entgegen. Von Walter Benjamins Forderung, das Publikum müsse durch den Kritiker stets Unrecht erhalten, sich aber doch vertreten fühlen, bleibt nur die zweite Hälfte übrig. Da stutzt der Leser, wenn in der Neujahrs-Umfrage nach den Haupteindrücken des vergangenen Jahres eine befragte Kritikerin einen Film negativ nennt, der am Kopf der Seite mit Foto und Legende gefeiert wird, wie früher schon in der Besprechung, und wenn zu diesem Film schliesslich in einem Aufmacher der Wochenendbeilage ein Literaturkritiker das Wort ergreift, um ihn mit seinen Kategorien zu verreissen, mit deutlicher Verachtung der vermeintlich „cineastischen“ Ambitionen des Regisseurs. (So malt sich mir in der Erinnerung die Behandlung von „Die fetten Jahre sind vorbei“.) Über Branchenprobleme wird geschrieben, dass man denkt, man hätte sich in den Wirtschaftsteil verirrt. Der individuellen Formulierung feindliche Produktionsbedingungen, Projektförderung, Filmpolitik sind seit Peter Buchkas Tod kein Thema mehr, auch H.G. Pflaum schweigt dazu. Dass die Bundesregierung die Wahl des Deutschen Filmpreises nach jahrelang lustloser Vergabe in die Hände der Branche legt, die sich dazu nach Hollywood-Vorbild als „Akademie“ konstituiert, weckt Widerspruch wohl bei unabhängigen Filmern, nicht aber bei den Schreibern. Auch über das Gewicht, das über Gremien und TV-Redaktionen die akademische Dramaturgie gewonnen hat, klagen Filmer, nur nicht in den Interviews, die in der SZ erscheinen, und für die Kritik ist das kein Thema. Sie scheint sich bei dem Identifikations- und Interpretationskino, das die Dramaturgen fördern, ganz wohl zu fühlen.

Die Idenfikation mit dem Markt treibt viele Blüten. Bei jedem Festival kann man verfolgen, wie die Korrespondenten sich als die Jury aufführen, in die sie zu ihrem Bedauern nicht berufen werden. Statt dass sie, drei Sätze genügten, dem Leser sagten, welchen Strukturen die Wahl von Juroren, Wettbewerbsbeiträgen und Preisträgern gehorcht, weshalb er sich davon nicht der Weisheit letzten Schluss erwarten solle. Und dann kein Wort mehr über Preischancen.

Und den ganzen Winter über hechelt das SZ-Feuilleton in Meldungen und Interviews den Oscars entgegen, als erwarte sie davon eine Offenbarung des Weltgeists. Würde man die Worte „Oscar“, „Oscar-Preisträger“, „Oscar- Nominierung“ aus den Besprechungen mancher SZ-Schreiber streichen, wäre der Effekt wie wenn man aus einem Wärmkissen den Pfropfen rauszöge – pffft!

Am Vorabend der Verleihung beklagt Fritz Göttler in seiner Besprechung von „Ang Lees großartigem Film“ (kein Untertitel ohne schmückendes Adjektiv), der direkte Weg zu „Brokeback Mountain“ sei „völlig verstellt durch Statements, Lobeshymnen, Oscarspekulationen“ – nachdem man an dieser Stelle eben damit über Monate hin belämmert worden ist, bis hin zu der vorausgehenden Seite derselben SZ, wo zwei sich fragen: „Einigen wir uns darauf, dass ‚Brokeback Mountain‘ als bester Film ausgezeichnet wird?“ Göttler: „Am liebsten würde man, angesichts dieses Hypes, eine Schweigephase ansetzen und die Zuschauer in die Kinos schicken …“ Und bitte nicht nur in diesem Fall, sondern ein für alle Mal.

No more bullshit, please!

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