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Interview: Zbigniew Rybczynski

Revolver: Was ist Ihr Verhältnis zum Kurzfilm?

Zbigniew Rybczynski: Was ist ein Kurzfilm? Das ist schwer zu definieren. Wir haben uns an diesen kategorisierenden Begriff gewöhnt. Ein Kurzfilm ist demnach ein Film, der kürzer ist als eine Stunde. Aber die Länge eines Films ist relativ, und eine solche Kategorisierung ist künstlich. Für viele Leute ist ein Film, der kürzer ist als eine Stunde, noch nicht einmal ein Film.

Zum anderen verbindet man mit Kurzfilm Unabhängigkeit, Experimentierfreude und niedrige Herstellungskosten. Auch das ist eine künstliche Definition, denn das sind Aspekte, über die sich jeder Filmemacher Gedanken macht. Für mich war aber die Möglichkeit zu experimentieren in Verbindung mit der Frage ihrer Finanzierbarkeit tatsächlich der Grund meiner Entscheidung, Kurzfilme zu machen.

Wenn man wie ich über das Phänomen der Zeit experimentiert, reichen unsere Ideen und intellektuellen Erfindungen für längere Werke gar nicht aus. Unsere Imagination ist nur in der Lage, eine kurze Zeitspanne zu kontrollieren. Deswegen sind die größten Filme kurz. Die besten Filme des 19. Jahrhunderts waren die sehr kurzen Filme der Brüder Lumière. Und der beste Film des 20. Jahrhunderts war für mich die „Landung auf dem Mond”.

Der achtminütige Kurzfilm „Tango“ war ein Experiment, für das Sie Anfang der 80er Jahre den Oscar erhalten haben.

Weil ich den Oscar bekam, konnte ich danach in den USA arbeiten. Das war für mich ein großer Sprung, weil mir dadurch die beste Technologie zur Verfügung stand. Wenn ich in Polen geblieben wäre, hätte ich niemals so ein Handwerkszeug für meine Arbeit gehabt. Heute arbeite ich auf der Höhe der Technologie, und der Oscar war dafür die Eintrittskarte. Natürlich ist mir klar, dass mich in den USA niemand braucht. Ich muss hier meinen eigenen Weg finden, und ohne Unterstützung ist das ziemlich hart. Das ist in Europa anders, wo die Filmkunst einen starken Rückhalt hat. Leider stehen dort die schmalen kreativen Ergebnisse nicht im angemessenen Verhältnis zu der großen öffentlichen Unterstützung. Es funktioniert nur in der Theorie, nicht in der Praxis. Polen habe ich aber aus politischen Gründen verlassen, schon bevor ich den Oscar bekam. Ich ging nach Österreich und von Österreich in die USA. 1977 war ich schon einmal nach Österreich gewechselt, bin dann jedoch erneut nach Polen zurückgekehrt, als dort die Zeit der Solidarnosc begann, von der ich eine Veränderung der politischen Situation erwartete. Ich habe mich daran beteiligt und war ein Zeuge dieser Unruhen. Ich hegte die Hoffnung, dass sich die Situation im positiven Sinne unter Kontrolle kriegen lassen würde.

Als dann aber von Jaruzelski das Kriegsrecht verhängt wurde, habe ich mich entschlossen, das Land zu verlassen, weil ich eine düstere Zukunft anbrechen sah. Keiner aus meiner Generation konnte sich damals vorstellen, dass das kommunistische System im Laufe von sieben Jahren zusammenbrechen würde. Deshalb habe ich mich entschieden zu gehen. Aber das war nicht einfach, weil das Kriegsrecht herrschte. General Jaruzelski war schneller als ich, und ich wurde sieben Monate lang ins Gefängnis gesperrt. Mit Gefängnis meine ich symbolisch den Zustand, in dem sich das ganze Land und jeder einzelne dort befand, und genau so empfand ich mein Leben damals auch. Zur Zeit des Kriegsrechts konnte niemand einen Film drehen. Nichts passierte, alles war tot. In der ganzen Gesellschaft kamen alle Aktivitäten zum Erliegen. Niemand konnte etwas machen, und niemand konnte weg.

So steckte Andrzej Wajda etwa in der Vorbereitung seines Films „Danton“, den er in Frankreich drehen wollte, wo die Crew vergeblich auf ihn wartete. Er konnte Polen nicht verlassen, man hielt ihn dort ein halbes Jahr fest. Krzysztof Kieslowski wurde als Jury-Mitglied bei den Kurzfilmtagen Oberhausen erwartet, aber er kam nicht weg. Niemand schaffte das. Ich selbst hatte eine Produktion in Österreich geplant und gehörte damit auch zu dieser Personengruppe mit Verträgen im Ausland. Mit viel Glück war ich später eine von vier Personen, die als erste eine Ausreisegenehmigung erhielten, und habe Polen in einem leeren Zug verlassen. In einem Zug, der von Leningrad kam und über Warschau und Prag nach Wien fuhr, war ich der einzige Passagier. Noch einmal war ich auf dem Weg nach Österreich, wo mich die Nachricht erreichte, mein Film sei für den Oscar nominiert. Dann habe ich ihn bekommen und entschied mich, in die USA zu wechseln.

Osteuropäische Kurzfilme jener Zeit werden im Westen gern als politisch-subversive Allegorie gelesen und damit in eine Tradition gestellt, die sich bis in die Zeit von Roman Polanskis klassischen Kurzfilmparabeln zurückverfolgen läßt.

Kritiker fragen sich, wo kommt der Film her und was herrschen dort für Verhältnisse? Dann sehen sie, dass der Film aus Polen ist, und wissen, das politische System dort ist der Kommunismus. Und jetzt verstehen sie ihn als Abbild einer Gesellschaft, in der die Menschen zusammengepfercht in zu kleinen Wohnungen leben. Den Raum in „Tango“ habe ich mit zweiunddreißig Personen angefüllt, dann war der Käfig voll. Mir wäre es lieber, man würde nur schreiben, dass das ein seltsamer Film ist und ein Leinwandereignis. Denn es ist nur ein Film, der nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun hat. Chaos ist nicht nur ein Charakteristikum in der Geschichte europäischer Gesellschaften, sondern des ganzen Universums. Dass gerade osteuropäische Filme Allegorien der Gesellschaft sind, glaube ich nicht.

Natürlich enthalten die meisten kurzen Experimentalfilme und gerade auch Animationsfilme, wie ich sie selbst weltweit hergestellt habe, Symbolisierungen von Menschheits-, Umwelt- oder Gesellschaftsproblemen. Als Jury-Mitglied bei diversen Filmfestivals konnte ich immer wieder feststellen, dass es kaum Filme gibt, die nicht mit solchen generellen Symbolen arbeiten. Das gleiche gilt für all die für den Oscar vorgeschlagenen Kurzfilme, die ich für die amerikanische Filmakademie gesichtet habe. Das ist nicht länderspezifisch.

So sind in der Tschechoslowakei oder Ungarn in der Zeit vor 1968 interessante Filme entstanden. Das hängt mit den herausragenden Persönlichkeiten zusammen, die zu der Zeit zufällig dort lebten und Filme machten. Das ist ein Geheimnis der Kreativität und des zufälligen Zusammentreffens. Manchmal ist es natürlich auch verbunden mit einer politischen Situation.

Michelangelo Antonionis „Blow Up” zum Vergleich ist ein phantastisches Symbol der 60er Jahre. Kein Film hat diese Zeit so gut erfasst, und er wurde zum Symbol unserer Kultur. Die Zeit, in der er entstand, war die goldene Ära der Kunst in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die einen Zeitraum vom Ende der 50er bis zum Anfang der 70er Jahre umfasst. Das bedeutet aber keine Tradition, aus der heraus sich Filme klassifizieren lassen. Es ist womöglich Zufall, dass ein italienischer Regisseur zu dieser Zeit einen solchen Film in Großbritannien macht. Ein Regisseur wie Roman Polanski wiederum ist ein außergewöhnlich talentierter Filmemacher. Sein zuletzt fertig gestellter Film „Der Pianist“ ist wunderbar, und schon seine frühen Kurzfilme sind exzellent. Was er in den 60er Jahren gemacht hat, zählt zu seiner besten Arbeit. Dass er sowohl interessante kurze als auch interessante lange Filme machen kann, überrascht mich nicht und bestätigt nur meine These, dass sich Kurz- und Langfilme in nichts unterscheiden außer vordergründig in der Länge. Polanski drehte seine großen Filme in den 60er Jahren in Polen, Frankreich und England, so wie auch ich Filme in vielen Ländern gemacht habe und nicht nur in Polen.

Polanskis bemerkenswerter Kurzfilm „Säugetiere“ zum Beispiel entstand zwar Anfang der 60er Jahre zur Zeit der polnischen Neostalinisierung und damit in einem bestimmten politischen Klima. Dennoch glaube ich nicht, dass der Film eine politische Aussage macht, die das reflektiert. Vielmehr beschreibt sein „Herr und Sklave”-Modell mit seinem kontinuierlichen Wechsel der Positionen eine universelle „condition humaine”. In diesem Sinne ist er dann politisch.
Solche Filme sind poetische Visionen, die ich auch nicht als subversiv empfinde. Subversion wurde vor hundert Jahren zu einem Kunstprogramm und ist inzwischen zu einem Trendbegriff geworden. Subversion macht aber nur Sinn, wenn man eine Alternative hat. Dann kann man etwas als eindeutig schlecht definieren und in direkter Umsetzung das Gegenteil machen. Auch Kafka halte ich nicht für subversiv, obwohl ihn Kritiker so klassifizieren. Für mich ist er im Gegenteil ein Konstrukteur – mit einer satirischen Zielsetzung.

Was mich angeht, so mache ich in „Tango“ überhaupt keine Aussage. Meine Aufgabe war nur, ein Experiment zu machen, um im Rahmen eines bestimmten Ablaufs eine Idee zu visualisieren, die jeder Mensch im Kopf hat. Das habe ich realisiert und leider auf eine sehr primitive Weise.

Ich wollte ein Problem lösen, das war meine Motivation. Wie lassen sich innerhalb einer Einstellung, in der der Ort gleich bleibt, verschiedene Zeiten komprimieren? Dafür habe ich eine einfache und eben vielleicht auch primitive Lösung gefunden. Dahinter verbirgt sich keine Philosophie. Ich hatte nicht die Intention, irgendjemand etwas mitzuteilen. Es ging nur um mich selbst, die Technologie und eine Idee. Und um die Frage: Wie kann man das machen, ist das überhaupt möglich? Ich musste das mit dem Handwerkzeug bewerkstelligen, das ich zu der Zeit kannte. Wir können uns immer nur mit den jeweiligen technologischen Mitteln ausdrücken. Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte des Wissens.

Sie betrachten Ihre Arbeiten als reine Experimente?

Nicht unbedingt. Aber ihrem Wesen nach ist alle Kunst experimentell. Seit Hunderten von Jahren wird Kunst mit Novum assoziiert. Das bedeutet neue Erfahrungen, die man in ihr machen kann. Kunst ist immer seltsam, das finde ich eine gute Definition. Generationen später findet man sie vielleicht schön und fängt an, sie zu interpretieren, aber im Moment ihrer kreativen Hervorbringung ist sie experimentell. Was bei dem Experiment herauskommt, kann man nicht wissen; es öffnet die Tür zu etwas Unbekanntem.

So gibt es in „Tango“ und meinen anderen Filmen immer eine Problemstellung mit Versuchsanordnung. In der Realisierung muss ich herausfinden: Ist es möglich, wird es funktionieren und wie wird es wirken? Die endgültige Wirkung betrachte ich dann als eine Visualisierung meiner Idee. Ich habe also keine Filme gemacht, weil ich damit etwas sagen wollte, sondern um zu einem Ergebnis zu kommen, von dem auch abhängt, ob ich in den nächsten Filmen daran anknüpfen kann.

Wenn wir morgens aufwachen, zu einem Blatt Papier greifen und uns daran setzen, ein Drehbuch zu schreiben über etwas, das wir wissen, wiederholen wir damit nur etwas, das andere Menschen schon vor uns aufgeschrieben haben. Es gibt natürlich Ausnahmepersönlichkeiten wie Albert Einstein, der eines Morgens aufwachte und etwas schrieb, das die Welt revolutionierte. Im Normalfall schafft man aber nicht im Handumdrehen Meisterwerke. Das ist harte Arbeit und erfolgt nach der Trial-and-Error-Methode, um auf diesem Weg vielleicht zu einer Entdeckung zu gelangen.

Auch Filmemachen setzt eine Recherche voraus, und ich sehe künstlerische Aktivitäten durchaus in der Nähe wissenschaftlicher Forschung. Zwar können wir unseren Entwurf nur mit dem Werkzeug ausführen, das wir haben, aber wir stehen damit an vorderster Front, um etwas mehr über die Welt und über uns zu erfahren, als wir bisher wissen. Solche Entdeckungen sind nur durch Experimente möglich. Dazu müssen wir etwas planen, dessen Ergebnis wir nicht kennen. Eine solche Aufgabe ist die größte Herausforderung für jemand, der an vorderster Front arbeiten will, um Verbesserungen in welcher Hinsicht auch immer zu erzielen, sei es um die Welt und unser Leben zu verbessern oder auch nur um bessere Filme zu machen. Nur über Experimente kann man den richtigen Weg dazu finden.

Können Sie Ihre Arbeit an „Tango“ näher beschreiben?

„Tango“ hat eine Konstruktion, die ich in Form einer graphischen Darstellung auf Millimeterpapier gezeichnet habe. Meine Storyboards oder Drehbücher sind graphische Schaufenster. Das Konstruieren ist sozusagen Teil meiner Frequenz. Ich bin kein Impressionist, sondern ein Konstruktivist. Eine perfekte Konstruktion vermag mich zu packen, und in „Tango“ gibt es eine ziemlich komplexe Konstruktion von Raum und Zeit. Dazu gehören zahlreiche Erzählschlaufen mit unterschiedlichem Timing, die aufeinander abgestimmt werden mussten. Die Figuren begegnen sich auf verschiedenen Zeitstufen, ohne dass es einen Handlungskonflikt gibt. Das ergibt ein kompliziertes Raum-Zeit-Gefüge.

Für einen Physiker oder Mathematiker ist das eine einfache Aufgabe, für einen Filmemacher dagegen ist diese Aufgabe schwierig. Die Art, wie ich hier und auch in meinen anderen Filmen experimentiere, habe ich über die Wissenschaft kennen gelernt: durch die Physik, die Mathematik, die Geometrie. Der größte Lohn meiner Arbeit war, dass sie mir möglich machte, tiefer in diesen Bereich einzutauchen.

Meine Filme sind Kunstanwendungen wissenschaftlicher Ideen von Menschen, die vor zweieinhalbtausend Jahren in Griechenland lebten oder im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich oder im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. „Tango“ war für mich damals meine komplexeste Arbeit, und ich suchte dafür nach Eingebungen aus der Wissenschaft, weil es um die Organisation vieler Zahlen, Materialien und unterschiedlicher Elemente ging, die ihrem Wesen nach geometrisch und mathematisch sind. „Tango“ hat mir dadurch die Tür zu Dingen geöffnet, die mir wesensnah sind und mit denen ich mich heute beschäftige: Computerwissenschaft und Programmierung.

Um ehrlich zu sein, beziehe ich meine Ideen in „Tango“ mehr oder weniger bewusst aus der Vergangenheit. In Gemälden Botticellis oder auch bildlichen Darstellungen der Gotik findet man beispielsweise im Rahmen eines einzigen Bildes eine Darstellung der ganzen Lebensgeschichte Jesu Christi – von der Geburt in Bethlehem über die Flucht nach Ägypten bis zur Kreuzigung. Zeitkompression ist ein Thema seit tausend Jahren. In „Tango“ widme ich mich nur Dingen, mit denen sich die Menschen schon seit vielen Jahrhunderten beschäftigen, nur dass ich das mit anderem Werkzeug, anderer Technologie und auf Film mache. Ähnliche Dinge sieht man auch auf den Wandgemälden ägyptischer Grabmäler oder auf griechischen und römischen Tympana und Fresken. Wenn wir über etwas nachdenken, geschieht das immer in solchen Kategorien. Wenn wir uns etwas vorstellen, wenn wir ein Problem analysieren oder auch wenn wir träumen, geschieht das stets in komprimierter Zeit. So funktioniert der Denkprozess. Die meisten Ereignisse, die in unserem Denken eine Rolle spielen, befinden sich in der Vergangenheit, und viele weitere Ereignisse finden schon in der Zukunft statt. Indem wir das so vor Augen haben, glauben wir, stets die ganze Zeit unter Kontrolle zu haben. In Sekundenschnelle sehen wir uns selbst als kleine Kinder, oder wir sehen uns gestern, vor einem Jahr oder vor zwei oder fünf Jahren. So befinden wir uns die meiste Zeit über in der Vergangenheit oder in der Zukunft. In der Gegenwart befinden wir uns nie.

Das ist das Grundgesetz, nach dem unser Gehirn funktioniert. Deswegen wundert es mich nicht, dass die visuellen Künste das zu allen Zeiten zum Ausdruck gebracht haben. Was mich schon überrascht, ist, dass wir linear erzählte Geschichten mögen, weil unsere Imagination und unser Denken überhaupt nicht linear funktionieren: Zeitbegrifflich sehen wir immer alles auf einmal.

Erstaunlicherweise gibt es dazu wenige Experimente in Film und Literatur, dabei ist die Kunstgeschichte voll mit Darstellungen dieser Art in der Malerei. Vor der Zeit der großen Entdeckungsreisen finden sich eine Menge Beispiele dafür. Die Menschen haben das zu allen Zeiten in ihrer Sprache und mit ihrem jeweiligen Zeichensystem, das sie immer weiterentwickeln, bewusst oder unbewusst nur wiederholt. Die Technologie kann nur in diese einzige Richtung weitergehen, um herauszufinden, wer wir sind, wie wir denken, wie unser Gehirn funktioniert.
So wird auch das Fernsehen inzwischen, was die Bilder betrifft, immer abstrakter und surrealer. Die Fernsehbilder bestehen aus immer größeren Summen von Elementen – mit Konversation, Nachrichten, graphischen Abbildungen. Während man in einem Bildteil einem Sprecher zuhört, kann man zur gleichen Zeit in einem anderen Bildteil die Wetter- und Börsennachrichten lesen, und dazu gibt es an anderer Stelle noch Menü-Anweisungen und alles zusammen in einem Bild. Das ist eine Menge gleichzeitiger Informationen. So ähnlich funktioniert unser Gehirn. Wir hören und beobachten verschiedene Dinge, während wir gleichzeitig schon wieder an etwas ganz anderes denken. Das sind Parallelhandlungen, die wir gut unter Kontrolle haben. So wie wir ein Auto lenken und dabei die Übersicht über Straße und Verkehr behalten, während wir uns mit unseren Gedanken an einem ganz anderen Ort befinden.

Wie kann man so etwas darstellen? Wie kann man visualisieren, wie das Gehirn funktioniert und wie wir Dinge wahrnehmen? Neben den Bildern aus optischen Informationen, die unser Auge produziert, gibt es ein geistiges Bild, das verschiedene Orte der Welt und verschiedene Zeitebenen permanent überblendet, vielleicht in der Art eines Morphing-Effekts. Irgendwann in der Zukunft wird die Technologie soweit sein, um das zu zeigen. Man sieht jetzt schon, wie sich das in diese Richtung entwickelt. Und „Tango“ war ein Experiment von mir, das dazu einen kleinen Beitrag geleistet hat.

Aber Sie sind mit Ihrem Experiment in „Tango“ nicht zufrieden.

“Tango” war nicht so sehr ein technologisches Experiment. Allerdings habe ich bei dem Film selbst Kamera gemacht, und für mich als Kameramann war die Arbeit mit dem optischen Printer schon ein Experiment. Das war ein äußerst komplexer Prozess, denn ich musste Tausende von Zahlen miteinander synchronisieren. Da waren rund dreißig inhaltlich verschiedene Filmstreifen unter dem Kondensor. Die Synchronschaltung von Projektor und Kamera, beide mit Bipack-Material, musste koordiniert werden. Jedes Einzelbild musste in extremer Mehrfachbelichtung funktionieren. Ich musste das alles in Kontrolle halten. Aber das war für mich nicht das Besondere, kein Novum, weil es mir nicht um das Erzählen einer Geschichte ging. Für mich war Tango” eher ein Zeitexperiment. Das Grundprinzip ist einfach: Man befindet sich in einem Interieur, das in allen seinen Detailansichten permanent überschaubar bleibt, während in ihm vergangene und zukünftige Ereignisse in komprimierter Zeit zur Schau gestellt werden. Dazu kombiniere ich etliche banale Handlungen miteinander, die sich in unterschiedlicher Zeit ereignen. Was wird passieren? Was werde ich sehen? Was für eine Bedeutung wird sich dadurch aufbauen? Wird sich daraus eine Bedeutung ergeben oder nicht? Das ist der Grund, warum ich das gemacht habe.

Inzwischen kenne ich viele Interpretationen, die dahinter eine Bedeutung vermuten, und mir gefällt, dass sie so unterschiedlich sind. Ich wollte aber gar nichts damit sagen; ich wollte selbst nur mit eigenen Augen sehen, was auf der Leinwand möglich ist. Das ist ein Film und keine Nachahmung des Lebens. Ob das jetzt Kunst ist oder nicht, das weiß ich nicht. Aber ohne diese Technologie hätte sich das nicht ausdrücken lassen.

Als ich das erste auf diese Art und Weise hergestellte Material gesichtet habe, war ich sehr enttäuscht, weil ich mir das viel besser vorgestellt hatte. Man hätte das damals aber nicht anders machen können als mit dem Werkzeug, das mir zur Verfügung stand, und das war primitiv.

Wie wenig hatte ich doch von meinem Konzept realisieren können, denn ich hatte mir das alles sehr realistisch vorgestellt. Ich hatte ein Raum-Universum gestalten wollen, in dem sich Handlungen über eine Zeitspanne von bis zu vierzig Jahren ereignen sollten. Was ich stattdessen sah, war eine statische Kamera und wegen der primitiven Maskentechnik die Lagen der diversen Handlungen, dazu noch eine starke Maserung und Körnigkeit aufgrund des verwendeten Filmmaterials und hunderttausend Fehler bei den extremen Mehrfachbelichtungen.

Wie ich gehört habe, mögen viele Leute das technisch Unperfekte an dem Film, was auch zu einer Interpretation des Films führt, indem er als Ausdruck eines bestimmten Stands der Kunsttechnologie gesehen wird. Unperfektion war aber nie mein Ziel, sondern ein unglücklicher Nebeneffekt. In unserer heutigen Zeit schreibt man solchen Nebeneffekten einen gewissen Wert zu. Ich bin kein Anhänger solcher Ideen, denn ich bin nur für absolut gute Qualität.

Ich bin für etwas, das unserer Menschheitsvision näher kommt als diese bescheidenen Nebeneffekte der Technologie. Als Schöpfer dieses Films war ich mit dem Ergebnis überhaupt nicht glücklich und bin es bis zum heutigen Tage nicht. Aber als Experiment war das für mich sehr wichtig, um etwas über die Organisation der Zeit herauszufinden und so in komplizierteren Produktionen und komplexeren Experimenten weiter daran arbeiten zu können.

Heute könnte man das mit bewegter Kamera machen, und das alles würde eine ganz andere Mobilität bekommen. Heute gibt es Tausende von Lösungen für dieses technische Problem. Inzwischen habe ich auch Filme gesehen, in denen das geschieht. Vermutlich hat mein Film das initiiert. Aber mit meinem eigenen Film bin ich nicht glücklich, weil er so statisch ist. Denn Bewegung ist ein Element der Realität. Wenn wir erwachen, uns bewegen und umhergehen, sehen wir unentwegt Bilder durch Kontakt mit der Welt. Auch in unserer Imagination sind wir beweglich. Was mich am Phänomen der Zeit fasziniert, ist immer die Bewegung. Auch Filme handeln von Bewegung. Ein statisches Bild dagegen ist künstlich.

Es hat so lange gedauert, die lineare Perspektive zu entdecken, weil im realen Leben niemand die Welt aus einer eingefrorenen Position heraus betrachtet. Vor der Entdeckung der linearen Perspektive waren die Bilder weitaus realistischer. Wenn wir etwas betrachten, wechseln wir die Perspektive und die Positionen. Das haben die Künstler vor dieser Entdeckung zum Ausdruck bringen wollen.

Die Kunst hat eine lange Zeit gebraucht, um die Welt einzufrieren. Entsprechend waren vom 15. bis noch ins 18. Jahrhundert hinein die Reaktionen auf die lineare Perspektive: Die Menschen lehnten das als „italienische Manier” ab, weil sie die Welt nicht eingefroren sahen. Die Realität war für sie nicht der Blick von einem festen Standort. Alles bewegt sich, und das gilt in ganz besonderer Weise für unsere Imagination. Die eingefrorene Welt war das, was ich an „Tango“ am schlimmsten fand. Was ich wollte, war Bewegung. Nach „Tango“ wusste ich, dass ich das in meinen nächsten Arbeiten schaffen musste. Im Theater wie im Kino ist der Zuschauer gezwungen, das Bild von einem festen Blickpunkt aus zu betrachten, und das ist eine unnatürliche Situation. Im Kontakt mit einem Kunstwerk sollten wir in Bewegung sein. Deswegen muss man, wenn man Zeit konstruiert, auch die dazugehörige Bewegung konstruieren – wie in der Realität. Das ist ein Interface-Problem und für mich eine große Herausforderung: Wie stellt man technologisch eine kommunikative Schnittstelle her zwischen uns als Beobachtern und der Realität?

Die Interpretationen zu „Tango” konstruieren einen narrativen Zusammenhang.

Das menschliche Gehirn konstruiert nie weiße Flecken. Wenn wir etwas beobachten und auch wenn wir einen Film sehen, fassen wir das nicht als eine Abstraktion auf. Wir sehen etwas, das wir kennen, und wir erkennen es wieder. Wir erkennen ein Gefühl, und wir sehen einen Raum, nehmen Liebe wahr und Hass, betrachten jemand beim Essen und registrieren weitere Details. Das Gehirn konstruiert unmittelbar eine Bedeutung und wird das alles immer in einen narrativen Zusammenhang bringen. Meist ist das Material bereits selbst narrativ. Bedeutung gehört zum künstlerischen Manifest, von daher gibt es keine Kunst ohne Bedeutung, selbst wenn es im 20. Jahrhundert Versuche gab, Kunst zu produzieren, die keine Bedeutung haben sollte. Es fällt immer schwer eine Grenze zu ziehen zwischen narrativer und nicht-narrativer Kunst. Gerade heute leben wir in einer Zeit, in der das narrative Element sehr wichtig genommen wird, weil die Leute danach verlangen. Immer jedoch hat es Künstler gegeben, die das in Frage gestellt haben, weil es in der Wirklichkeit keine narrativen Strukturen gibt. Wenn wir mit der Welt kommunizieren, leiden wir nicht darunter, dass wir das Narrative in unseren Aktivitäten vermissen. Narration ist etwas Künstliches und etwas Unrealistisches, das wir vielleicht erfunden haben, um damit technologische Mängel zu kaschieren. Man meint, eine verblüffende Geschichte erzählen zu müssen, weil das Publikum sich sonst nicht auf ein Kunstereignis einzulassen vermag. In einem Gefühl, einer Stimmung, einer Atmosphäre steckt mehr Wahrhaftigkeit.

Ich glaube nicht, dass es das Wesen des Films ist, eine Geschichte zu erzählen, sondern Zeit einzufangen. Das Fernsehen überträgt Ereignisse in realer Zeit und Hundert Millionen Menschen können jeden Tag mehrere Stunden zusehen, ohne sich zu langweilen. Niemals in der Geschichte der Kunst hat es eine Kunstform gegeben, die so erfolgreich war. So hatte die Übertragung des Simpson-Prozesses über mehrere Monate das weltweit größte Publikum aller Zeiten. Man kann darin nichts Narratives finden, auch wenn es einen Schauplatz gibt mit Haupt- und Nebenfiguren. Niemand wusste, was passieren würde, und niemand plante, was passieren sollte. Es war eine reale Beobachtung der Realität, und für solche Ereignisse gibt es viele weitere Beispiele. Kein Filmemacher hat jemals etwas produziert, das die Menschen so fasziniert hat wie die Übertragung realer Ereignisse. Als jemand, der in den Medien arbeitet, kann man das nicht ignorieren. Aber die größten Geheimnisse bleiben dem Zuschauer verborgen, denn er sieht nicht, was in den Köpfen der Personen vor sich geht. Deshalb ist man mit den Bildern doch nicht restlos zufrieden, weil man gerne noch weit mehr sehen würde: wie eine Tat sich ereignet hat oder sich ereignet haben könnte in unterschiedlichen Versionen.

Andeutungen davon sieht man heute schon in 3D-Simulationen zur Erläuterung eines Ereignisses. Ich glaube, dass das die zukünftige Richtung ist für technologische Experimente und künstlerische Aktivitäten. An die Stelle des Narrativen tritt die Improvisation und damit eine Erfahrung, die wir im realen Leben machen, wo wir auch nicht Ereignisse vorhersehen, wiederholen oder wieder löschen können. Den Einfluss, den der Film früher einmal auf die Zivilisation hatte, hat heute das Fernsehen. Im Kino können nur noch visionäre Künstler wie George Lucas, die nicht das Leben und die Realität nachahmen, der Imagination etwas Neues hinzufügen.

Das Grundelement in „Tango” ist der Loop.

Ein Loop im Sinne einer Zeitschleife ist etwas völlig Unmögliches, weil Zeit nur eine einzige Richtung kennt. Nur Handlung kann in Form eines Loops organisiert werden. Aber auch das ist in Wirklichkeit kein Loop, weil wir uns immer weiter vorwärts bewegen. Richtiger wäre es zu sagen, dass das Ende dem Anfang gleicht. Ein Ablauf, den wir beobachten, führt wieder zurück zu einer ersten Position.

Das lässt sich auch in der Realität beobachten, deswegen ist der Loop ein sehr realistisches und offenes Gestaltungsmittel und findet sich in jeder formalen Ausdrucksweise. In allem gibt es Repetitionen: in Sprachen, Verhaltensweisen, täglichen Aktivitäten. Wenn man realistisch sein will, kann man dem Loop nicht entkommen. Für mich ist der Loop deshalb ganz natürlich. In vielen künstlerischen Konstruktionen ist mehr oder weniger deutlich ein Loop das Hauptelement. Damit errichtet sich ein Film auf etwas Authentischem.

War „Tango“ ein avantgardistisches Experiment, von dem heute formal experimentierende Musikvideos wie Michel Gondrys „Come Into My World” profitieren?

Ich glaube nicht, dass meine Arbeit irgendetwas Neues darstellt. Ich war nur der Katalysator von Ideen, die andere Menschen schon vor mir gehabt haben. Vielleicht kennt Gondry meine Filme und ist von ihnen beeindruckt, aber er macht genauso wenig etwas Neues wie ich. Wir arbeiten nur mehr oder weniger an der gleichen Aufgabenstellung. Wir ahmen nicht das Leben nach, sondern präsentieren den Leuten etwas auf der Leinwand, das nicht real ist und die Zuschauer faszinieren kann, weil sie so etwas zuvor noch nicht im Kino gesehen haben. Mit der Realität hat das nichts zu tun.

Mir gefallen die Filme, bei denen mir bewusst ist, dass ich einem Leinwandgeschehen folge, und die sich mir deutlich als experimentelle Arbeit darbieten, indem sie zeigen, was für Bilder und was für Welten sie kreieren können. Ich könnte mir denken, dass Gondry das auch so sieht. Wir wollen nichts wiederholen, sondern zeigen, was wir mit unserem Werkzeug schaffen können.

Das ist ein Grundelement eines jeden Abenteuers und einer jeden Expedition ins Unbekannte. Was für eine Bedeutung wird zum Beispiel die Landung auf dem Mars haben? Was für eine Story, was für eine Narration wird sich daraus ergeben? Wir wissen es nicht, und das ist gerade das Phantastische. Es geht nur darum, es zu filmen und zu zeigen. Das ergibt dann tonnenweise Drehmaterial.

Die Dinge warten nur darauf, gefilmt zu werden, und mit unseren Maschinen werden sie zum Leben erweckt. In diesem Sinne warten sie darauf, freigesetzt  zu werden. Nur um unsere Umgebung zu filmen, brauchen wir die Technologie nicht unbedingt, sondern für die Geschichten, die wir in uns selber finden. Es gibt eine Realität, die wir in uns selbst haben und die freigesetzt werden muss, damit sie ins Leben kommen kann. So ähnlich hat schon Michelangelo gedacht.

Von Zeit zu Zeit entdeckt man ein paar Menschen mehr, die auf derselben Wellenlänge ticken wie man selbst. In Gondrys Werk sehe ich eine Menge Dinge, die ich auch gemacht, zum Teil auch nur entworfen habe, ohne sie dann zu realisieren. Natürlich sehe ich auf der Stelle eine Gemeinsamkeit in unserem Denken. Ich habe keine Ahnung, ob er meine Arbeit kennt. Jedoch auch meine Arbeiten machen keine unabhängigen Entdeckungen, sondern fördern nur etwas aus mir selbst zutage, das sich in jedem anderem auch befindet. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit oder reine Koinzidenz, wenn das dann jemand irgendwann auf diese Weise realisiert.

Hier geht es um ein Denken über Form und Konstruktion, und genau diese beiden Elemente sind es, die Gondrys Werk dominieren. So etwas wird dann immer eine Ähnlichkeit mit meiner eigenen Arbeit haben, weil ich eben ganz genauso denke. Schließlich findet man sonst auch nur selten Filme, bei denen sich ein Filmemacher Gedanken über eine Konstruktion macht, die sich auf Millimeterpapier zeichnen lässt, um auf diese Weise eine Idee in eine geometrische Form umzusetzen. Solche geometrischen Ideen haben aber Jahrhunderte hindurch im Werk von Künstlern eine Rolle gespielt, und das hat einen guten Grund. Weil unsere Fähigkeit zu denken dreidimensional funktioniert, bedeutet der Ausdruck einer Idee durch eine geometrische Zeichnung die Bestätigung, dass es eine Idee ist. Wenn man das nicht vermag, ist es nur eine Impression.

Mich haben viele Persönlichkeiten der Vergangenheit und Gegenwart beeinflusst. Wir sind Teil einer Entwicklung und leben nicht allein in der Welt. So haben mich selbst immer die abstrakten Filme von Lyonel Feininger und Norman McLaren fasziniert, die damit absolute Meisterwerke visueller Form geschaffen haben. Nicht zu vergessen die „Landung auf dem Mond”, der schönste Film des vorigen Jahrhunderts! Wenn ich nun selbst mit meiner Arbeit einen Beitrag leiste zu dem Werk von Michel Gondry, finde ich das gut.

Ist das Musikvideo heute eine Kurzfilmform, das offen ist für avantgardistische Fragestellungen?

Das war schon die Frage vor mehr als zwanzig Jahren, als die Musikvideos noch in den Anfängen steckten. Das ist ein sehr interessanter Bereich, mit dem sich eine große Chance eröffnen könnte, aber ich habe nicht das Gefühl, dass man sie richtig nutzt. Es ist jedoch schwer, über so ein Massenphänomen zu reden, weil Menschen auf der ganzen Welt Musikvideos konsumieren. Soll man Kritik üben und damit die Menschheit kritisieren?

Das Musikvideo hat der kurzen Form neue Impulse gegeben. Damit ist ein neues kurzes Ton-Bild-Konstrukt entstanden, das unglaubliche Möglichkeiten hat, denn plötzlich ist alles da: Geld, Marktinteresse, Publikum und potentiell interessante Autoren, die jung und subversiv sein dürfen, was alles zusammen ungeheuer viel versprechende Voraussetzungen sind. Das Musikvideo ist aber auch eines der kommerziellsten Produkte überhaupt, und etwas Neues sehe ich da nicht. Meistens ist es nur auf hässliche Weise repetitiv. Natürlich sieht man manchmal in Musikvideos auch interessante Sachen. Das hängt von den Autoren ab, also von den Musikern und Regisseuren. Es gibt überhaupt keinen Druck, die Autoren haben völlige Freiheit. Sie können dem Publikum, der jungen Generation oder auch der ganzen Welt Visionen nach Belieben anbieten. Es gibt keine politische, ökonomische, noch nicht einmal eine kommerzielle Zensur. Sie sind frei, und sie sind kreative Künstler. Wenn das nun das Ergebnis ist, das wir unter solchen Voraussetzungen zustande bringen, sollen wir darauf stolz sein? Da bin ich mir nicht sicher.

Wie kann man aus Bild, Ton und Musik etwas Kohärentes schaffen, um darüber in etwas höhere Regionen zu gelangen? Normalerweise illustrieren die Bilder bloß die Musik. In der musikalischen Komposition gibt es aber keinen Bildbezug. Deswegen finden diese Komponenten zu keiner wirklichen Vermählung, und man kann beobachten, wie sie miteinander kämpfen.

Einer der größten Künstler des neuen Zeitalters könnte jemand werden, der auf diesem Gebiet etwas ganz Bemerkenswertes zuwege bringt – im Sinne einer visuellen Musik. Vielleicht ist dazu noch ein neues Element notwendig, um eine Interaktivität auch mit dem Publikum herzustellen und alles in einem Web zusammenzubinden. Das wird dann ein immenser Durchbruch für die Kunst sein. Aber soweit sind wir heute noch nicht. Was man heute in Musikvideos sieht, sind visuelle Tricks. Eine neue Form der visuellen Musik sehe ich bisher nicht. Da es doch offenbar so ist, dass keine CD ohne visuelle Unterstützung existieren kann, ist es schwer zu verstehen, warum die Künstler sich nicht etwas kreativere Gedanken darüber machen. Wahrscheinlich ist das ein Vakuum, das erst die nächsten Beatles eines Tages ausfüllen werden.

Wenn in „Tango“ die um Realität bemühten Bilder noch völlig artifiziell erscheinen, so ist die Technologie inzwischen so weit perfektioniert, dass die artifiziellen Bilderfindungen in einem Musikvideo einen hohen Realitätseindruck hinterlassen können.

Das eigentliche Problem ist, dass die Leute das Fernsehen für die Realität halten. Dabei ist das nur eine ungeheure Simplifikation der Realität, die vom Zuschauer mit der Realität verwechselt wird. Die Gefahr beim Fernsehen liegt in der Doppelmoral der Wahrnehmung. Um uns herum ist Realität, nämlich unsere eigene Welt: die Küche, die Eltern, die Freunde… Das ist so real, wie es nur sein kann. Wir aber starren auf eine künstliche Vision der Welt, die uns vorgaukelt, wahr zu sein, und die für uns zunehmend realer wird als unsere Umgebung. Wenn man nun ein Bild wie das in dem Musikvideo von Gondry sieht, das eine poetische Interpretation der Wirklichkeit ist, reagieren die Leute verwirrt. Stattdessen sollten sie begeistert sein, denn es ist selten, dass man so etwas zu sehen bekommt.

Etwas stimmt nicht mit den Bildern, die wir produzieren. Die Leute wissen genau, wie man Menschen tötet. Das wissen sie aus dem Fernsehen, und das ist für sie real; doch in der Realität sieht das ganz anders aus. Im Fernsehen ist das nämlich nur eine spezielle Version, wie man das zeigen kann. Auch Sexualität, so wie sie im Fernsehen aussieht, sieht im realen Leben völlig anders aus. Manche Leute meinen jedoch, sie stehen in direktem Kontakt zur Realität, wenn sie den Fernseher anmachen, und sind sich nicht bewusst, dass sie nur Zeuge einer medialen Vermittlung sind. Wenn man statt dieser technologisch unzureichenden Imitationen des Lebens mehr solche künstlerischen Manipulationen der Wirklichkeit wie die von Gondry sehen würde, wäre das viel besser.

Interessanterweise hat die klassische Kunst nicht die Wahrheit über die „condition humaine“ gezeigt, sondern ein falsches, weil geschöntes Bild geliefert. Die klassische Kunst führt uns ein Märchenbild des Menschen vor – nicht um zu zeigen, wie er ist, sondern wie er sein soll. Dass der Mensch ganz anders ist, war immer offensichtlich. Der Mensch war schrecklich, und die Welt war abstoßend, dreckig und gemein. Aber in der Kunst gab es die schöne Vision, wie er stattdessen aussehen und in einem besseren Sinne Mensch sein könnte. Mit der Entdeckung der Maschinen zur mechanischen Aufzeichnung und mit der historischen Entwicklung von der Fotographie zu Film und Fernsehen war es mit diesem Märchen vorbei. Ab da hieß die Devise: Jetzt zeigen wir euch, wie ihr wirklich seid, denn jetzt haben wir die echte Welt.

Und heute wissen wir, wie wir sind. Es gibt kein Tabu mehr, die Kameras zeigen alles. Wir penetrieren mit ihnen alle verborgenen Wahrheiten. Aber die Frage ist: Haben wir auch ein Bild von der Zukunft, wohin wir gehen und wer wir sein werden? Da bin ich mir nicht so sicher. Aber vielleicht brauchen wir ja keines und wissen schon alles. Ich weiß zwar nicht, was richtig oder falsch ist, aber irgendwie liebe ich alles, was nicht real aussieht. Die interessanteste Vision der Welt sieht man im Übrigen heute in der Werbung, denn nur dort findet man noch etwas vom Märchen. Die Kunst der Werbung ist einfach großartig.

Das Gespräch führte Peter Kremski im Herbst 2003. Das Interview war Teil des Arte-Themenabends zum fünfzigsten Jubiläum der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Zuerst erschienen in: „Überraschende Begegnungen der kurzen Art. Gespräche über den Kurzfilm.” Schnitt Verlag, Köln 2005. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Danke: Nikolaj Niktin.

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