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Interview Thomas Heise

Saskia Walker: Ich würde gerne anfangen mit deiner Herkunft, mit deinen Eltern und deinen Großeltern.

Thomas Heise: Ist das wichtig?

Ich finde, deine Arbeit und dieses Konstante in dieser Arbeit hat damit zu tun, dass du aus einem Elternhaus kommst, wo, sagen wir mal, kritisches Denken anwesend war.

Also, was soll ich da sagen? Wo kommt man her? Also ich bin am Stadtrand von Berlin aufgewachsen mit einem Bruder, der ein Jahr älter ist als ich. Meine Mutter hat zu der Zeit gearbeitet als Dolmetscherin, Französisch-Deutsch, und auch bei der Neuen Deutschen Literatur. Mein Vater war an der Humboldt-Universität als Prof für Philosophie später, nach 1968, für Geschichte der Ästhetik. Das sagt sich so hin, dabei ist es eine lange Geschichte in der etliche Auseinandersetzungen vorkommen: um Robert Havemann, den Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag, um Wolf Biermann. Damit bin ich groß geworden.

Wir hatten Verwandte in Amerika und England, weil die aus dem jüdischen Teil der Familie kamen, aus Wien. Wer es geschafft hat, ist raus 1938, und wer es nicht geschafft hat, ist dann eben umgekommen. Meine Großmutter hatte es vorher schon nach Berlin geschafft, war dort verheiratet mit dem Vater meines Vaters, der Kommunist war, glaube ich, sogar zu den Gründungsmitgliedern der KPD gehört hat und Gymnasiallehrer war in Steglitz, und später nach dem Krieg die pädagogische Fakultät an der Humboldt-Universität mit aufgebaut hat. Daran ist er dann auch gestorben, Herzinfarkt.

Es gibt da dieses Gespräch zwischen Heiner Müller und deinem Vater von 1986. Ist dein Vater mit Müller befreundet gewesen?

Ja. Es ist so, dass immer ziemlich viel Besuch war bei uns zu Hause. Immer kamen irgendwelche Leute und wollten irgendwas wissen. Müller war relativ häufig da und auch andere. Dann haben die sich unterhalten und da saß man da natürlich mit rum, ist ja klar.

Wie bist du von da zum Film gekommen? Oder wie kam die Idee mit dem Film auf?

Es war eigentlich die blanke Verzweiflung. Ich hab ja erst Drucker gelernt, wollte Arbeiterklasse werden. Ich wollte kein Intellektueller werden oder so was. Das war nicht mein Ding. Abitur konnte ich nicht machen, das war kontingentiert. Und da ich nicht Arbeiterklasse war, hatte ich keine Zulassung zum Abitur. Das hab ich dann später auf der Abendschule nachgemacht, aber da war ich schon bei der DEFA. Mein sächsischer Großvater mütterlicherseits, der Sozialdemokrat war, der war Drucker. Deswegen bin ich Drucker geworden. Und außerdem, fand ich das ganz interessant. Ich habe gelernt in der Betriebsberufsschule Rudi Arndt, S-Bahnhof Jannowitzbrücke. Der Betrieb war genau am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Da haben wir die Berliner Illustrierte gemacht, die Fernsehzeitung und die Gärtnerpost und was weiß ich, Eulenspiegel. Da hab ich zwei Jahre Facharbeiter für Drucktechnik gelernt, und dann hab ich aufgehört, sobald ich die Prüfung hatte. Am nächsten Tag war ich nicht mehr da.

Und wann hast du die Super 8-Filme angefangen?

Super 8-Filme muss vorher gewesen sein. Also wann man so was macht, zwischen 14 und 18, sag ich mal so. Aber das hatte mit Film eigentlich auch nichts zu tun. Jedenfalls: Ich habe nach der Druckerlehre erst mal gar nichts gemacht und war drei Monate Gammler, wie man so schön sagte damals. Und hab dann an die DEFA geschrieben und gesagt, ich mache jeden Job, wenn ich zum Film kann. Dann hab ich bei der DEFA gearbeitet und wollte Abitur machen, und das konntest du nur auf der Abendschule. Dafür brauchte man aber die Delegierung des Betriebes. Und die hab ich nicht gekriegt von der DEFA, mit der Begründung, „Wir brauchen Regieassistenten, keine Regisseure. Regisseure haben wir genug.“ Was auch stimmte. Die DEFA produzierte ja bloß zwölf bis vierzehn Kinofilme pro Jahr. Ich hab dann eine Kündigung unterschrieben, einen Aufhebungsvertrag. Ich kannte aber die Frau von Heiner Carow, Evelyn. Ich hab immer wieder bei ihr im Schneideraum gesessen und hab ihr beim Schneiden zugeguckt. Und sie hatte das wiederum ihrem Mann erzählt, dem Heiner Carow, dass ich gar kein Abitur hab und so und keine Delegierung. Die haben mir die Delegierung damals nicht gegeben mit der Begründung, ich wäre dann nicht mehr geeignet für die DEFA, weil ich ja dreimal die Woche Abendschule hätte. Heiner Carow hat dann gesagt: „Der kann doch für mich arbeiten. Als Assistent.“ Und dann sollte ich für ihn recherchieren. Ehegeschichten für den Spielfilm „Bis dass der Tod euch scheidet.“

Du hast irgendwann mal ein Buch gehabt bei der DEFA, als du dann an der HFF warst.

Ach, das Ding, ja. An der Filmhochschule haben sie uns am Anfang gefragt, was wir so machen wollen. Und ich hab gesagt, ich würde gern was machen über Jugendliche aus Eisenhüttenstadt. Erste sozialistische Stadt der DDR, ehemals Stalinstadt und so. In Eisenhüttenstadt sind alle bei der Stasi vorgeladen worden, die da im Seminar erwähnt wurden von mir. Hatten ein kleines interessantes Gespräch. Und später hab ich den Film dann recherchiert. Dann haben wir das durchgesetzt mit Heiner Carow. Über, weiß ich nicht, fünf oder sechs Abnahmen. Eine Drehfreigabe. Wir wollten schon anfangen zu drehen, und am ersten Drehtag ist mir die Drehgenehmigung wieder entzogen worden. Von der Abteilung Innere Angelegenheiten. Ich durfte wieder abreisen. Aber es war insofern auch müßig, als ich an diesem ersten Drehtag meinen Hauptdarsteller vor dem Gasherd fand und eigentlich auch sowieso nicht mehr hätte richtig weiter drehen können. (lacht)

War er tot?

Nein, Tilo hat noch gelebt. Ich hab ihn gefunden. Er war der Held des Films. Mit ihm hab ich zwei Tage nach seinem Suizidversuch die Musikaufnahmen gemacht, die in dem späteren Film ‚Eisenzeit’ drin sind. Ich habe ihn dann nach Thüringen gebracht. Er wollte zu irgendeiner Pastorin, die er kannte, irgendwo in Thüringen. Er wusste aber nicht genau wo. Wir haben sie gesucht in Thüringen. Und dann hab ich ihn da abgeliefert. Nach einem Muster, das ich mal in einem Film gesehen habe: Hab ihn abgesetzt und sagte zur Pastorin: „Bitte, das ist Tilo, Ihr Problem. Auf Wiedersehen.“ Und bin gegangen. (lacht) Na ja… Dann wollte ich daraus einen Spielfilm machen, hab sogar einen Auftrag bekommen von der DEFA. Von Herrn Mäde. Der hatte einen Auftrag dazu von der Stasi. Es war Teil des OV „Schule.“ Und habe das auch geschrieben zusammen mit Wolf Rüdiger Schulz. Das ist dann aber nicht abgenommen worden. Das war die Methode. Es ging darum, mich zu beschäftigen. Man wurde einfach mit Arbeit zugedeckt, und dann hat man immer gearbeitet und gedacht, das wird irgendwas, aber es war klar, das wird nie was.

Ich versuche den Unterschied festzumachen zwischen damaliger DDR-Zensur und heutiger Nicht-Realisierung von Filmprojekten.

Das kann man gar nicht vergleichen. Geld hat z.B. in der DDR keine Rolle gespielt. Die DDR ist ja zusammengebrochen, weil sie eigentlich keine Ökonomie hatte. Oder eine Ökonomie, die keine Grundlage hatte. Die Gründe, warum heute Filme gemacht werden oder nicht, sind so verschieden von dem, was in der DDR eine Rolle spielte. Heute werden alle Filme gemacht in Co-Produktion mit dem Fernsehen. Das Fernsehen ist letzten Endes der Hauptproduzent für Filme, die in Deutschland gedreht werden und hat entsprechend Einfluss. Deswegen gibt’s bei uns im wesentlichen Fernsehfilme und keine Kinofilme. In der DDR gab es sehr wohl eine Trennung zwischen Fernsehfilmen und Kinofilmen, auch zwischen Dokumentarfilmen fürs Fernsehen und Dokumentarfilmen fürs Kino. Das waren ganz verschiedene Sprachen. Und diese Unterschiedlichkeit der Sprachen gibt’s so ja de facto gar nicht mehr. Wenn jetzt ein Film gemacht wird oder nicht gemacht wird, hängt das damit zusammen, dass das Fernsehen daran interessiert ist, einen Fernsehfilm zu haben, der vorher ins Kino kommt. Das heißt, dass du eigentlich abhängig bist von den Bedürfnissen des Fernsehens.

Und Sendeplätze werden gefüllt. Wir haben es ja vor allem mit Sendeplätzen zu tun…

Genau. Noch nicht mal Filme, sondern Sendeplätze. Das kannst du natürlich schlecht vergleichen, weil es in der DDR keine Sendeplätze gab. Es gab Filme, die im Fernsehen nicht laufen durften, aber bei der DEFA produziert wurden.

Und dann im Kino liefen?

Ja, na klar.

Die politische Linie im Fernsehen war härter als die im Kino?

Na, ja klar. In der DDR gab es ein Staatsfernsehen. Wenn da in einem Film etwas über China vorkam, dann ist das als außenpolitisches Fenster verstanden worden. Man musste sich genau überlegen, was man sagt. Für einen Spielfilm im Kino spielte das keine solche Rolle.

Und Dokumentarfilme im Kino? Gab es die überhaupt?

Natürlich. Das fing, glaub ich, schon an mit der Gründung der DEFA. Es gab vor jedem Kinofilm, der im Kino lief, einen so genannten Vorfilm von 20, 25 Minuten und dann kam noch die Wochenschau „Der Augenzeuge.“ Das ist alles im DEFA-Studio für Dokumentarfilme produziert worden.

Aber das meine ich ja. Das sind keine langen Filme. Das sind dann 20-Minüter.

Ja, aber es gab auch lange Filme. Die liefen nicht unbedingt im Fernsehen. Es gab diesen Zusammenhang gar nicht zwischen Fernsehen und Dokumentarfilm oder Spielfilm, so wie das heute ist. Das waren einfach zwei verschiedene Schuhe. Wir hatten auch an der Filmhochschule die Leute von der DEFA, die sich natürlich für was Besseres hielten als die, die vom Fernsehen kamen. Mit denen vom Fernsehen haben wir nicht geredet, weißt du, weil, das waren Staatsangestellte, Parteiangestellte.

Du hast Hörspiele gemacht zum Teil aus Stoffen, die du eigentlich zu Filmen machen wolltest. Gab es beim Hörspiel mehr Freiheiten?

Ja. Du konntest als junger Mann zu einer Redakteurin gehen und sagen „Ich möchte gerne was machen“ und hast ne gute Chance. Ist heute nicht anders. Wenn du nur einigermaßen jung, adrett da ankommst… Die wollen ja immer Frischfleisch. Und dann war das natürlich immer toll, wenn man so ein bisschen wild war. (lacht) Das war ein Hinweis, den ich gekriegt hab von dem Autor Peter Brasch, weil ich Film nicht mehr machen konnte, weil ich an der Filmhochschule abgebrochen habe. Da hab ich gedacht, dann machst du eben Originaltonhörspiel. Dann hab ich praktisch statt Film das gemacht. Hat aber auch nichts genutzt, die wurden dann auch alle verboten, also insofern war das alles egal.

Du hast sie herstellen dürfen, aber sie wurden nicht gesendet?

Das erste, das ich gemacht hab, war über Knastentlassung, die Geschichte von so einem Jungen, der im Knast saß. Ein Jahr nicht arbeiten gegangen, ein Jahr Knast dafür. Was passiert, wenn er wieder rauskommt? Die Bänder sind dann zum Löschen freigegeben worden. Na ja, ich hab sie später geklaut, und noch später hab ich sie dann in der Akademie der Künste im Tonstudio geschnitten und fertiggestellt. Später hab ich’s dann schlauer gemacht, da hab ich den Änderungswünschen erst mal zugestimmt, die dann aber nicht umgesetzt. Dadurch konnte ich was zu Ende produzieren.

Die Geschichte mit den verschwundenen Leuten aus dem Zug?

‚Schweigendes Dorf’ meinst du? Ja, das ist ein ziemlich altes Projekt. Das ist ne Geschichte von Bredel, die heißt ‚Das schweigende Dorf.’ Da hatte mich mein Vater drauf aufmerksam gemacht und gesagt: „Guck dir das mal an, das ist was Authentisches.“ Daraufhin hab ich den Bredel überhaupt erst gelesen, sonst hätte ich den nie gelesen, weil Bredel war… Naja, dann hab ich rausgekriegt, wie dieses Dorf heißt, im Original, und dann bin ich da hingefahren.

Wie heißt es denn?

Sülstorf mit „t“, ungefähr zehn, fünfzehn Kilometer südlich von Schwerin. Kleines Dörfchen. Also wenn du mit dem Zug fährst nach Schwerin, dann guckst du auf der rechten Seite aus dem Fenster kurz vor Sülstorf und dann wirst du kurz hinterm Bahnhof rechts einen kleinen Friedhof sehen. Und das ist das, die Geschichte mit den Toten da. Das hatte ich schon an der Filmhochschule als Diplomthema machen wollen, ist aber nicht akzeptiert worden mit dem Hinweis „Mit Bredel keine Experimente.“ (lacht) Was auch immer das heißen sollte.

Weil er ein bekannter kommunistischer Autor war?

Klar. Moskauer Emigration. – Und dann hab ich auch noch erfahren, dass Anna Seghers auch versucht hat, diese Geschichte zu bearbeiten, ist aber auch nicht fertig geworden. Da hab ich einfach den Ehrgeiz gehabt, den ganzen Kram zu recherchieren. Und habe das auch gemacht. In Schwerin, in Berlin, vor Ort. Alle möglichen Leute gesucht. Einwohnermeldeämter. Alles, was es gibt.

In welchem Jahr war das?

1984. Zusammen mit Uli Wüst, den hab ich mitgenommen. Der hat da fotografiert.

Und wolltest du daraus auch einen Film machen?

Damals wollte ich das, ja. Anfangs ist die Recherche mit vom Fernsehen finanziert worden. Ich hab 400, 500 Mark gekriegt. Das Unternehmen wurde dann aber mangels zündender künstlerischer Idee, so war die Begründung, abgebrochen.

Was soll denn das bedeuten jetzt?

Das ist ganz simpel. Ich hab rausgekriegt, dass… Einerseits ist die Geschichte natürlich schon merkwürdig, ja? Am Ende des Krieges hält da ein Zug, sind 6000 Frauen drin und die schreien vor Hunger, weil sie ne Woche unterwegs sind. Der Zug fährt nach drei Tagen weiter, es wird nicht mehr drüber geredet. Zwei Jahre später findet man ein Massengrab, es passiert aber auch nichts. Keiner hat was gewusst. Das ist das eine. Das zweite ist: Ich hab die Geschichte dieses Zuges recherchiert und bin im Außenlager von Neuengamme gelandet, Außenlager A III hieß das, bei Helmstedt, in dem schönen Ort Morsleben. Da ist ein Salzbergwerk gewesen. Da haben die Häftlinge Teile für die V2 und V1 hergestellt, wie in anderen Lagern unterirdisch. Nach dem Krieg ist dort eine Hühnerzucht eingerichtet worden. Da waren ja schon Schächte mit Betonfußboden, die auch schon industriell genutzt wurden im letzten Krieg. Eine tolle Begründung, die auch hörspieltechnisch eine Rolle spielt, von einem Dr. Günther, vom Veterinär- oder Gesundheitsamt. Der hatte eine Analyse gemacht, was man damit machen könnte und hat dann gesagt, man könnte die Erdwärme ausnutzen und was weiß ich. Und dann wurden dort zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Geflügelfleisch Hühnerzuchtstellen eingerichtet unterirdisch. Als oben genug Anlagen waren, hat man damit aufgehört. Hatte auch damit zu tun, dass durch die Hühnerscheiße die Schächte drohten einzustürzen. Und dann hat man diesen Salzstock benutzt für die Endlagerung radioaktiver Abfälle. Und in dem Wechsel zwischen den Hühnern und den radioaktiven Abfällen bin ich da unten gewesen und hab Unterlagen aus dem ehemaligen Konzentrationslager gefunden und die eimerweise nach oben geschleppt. Das ging natürlich schon nicht mehr zu erzählen in der DDR. Ein Endlager für radioaktiven Abfall in einem ehemaligen KZ, wo die Unterlagen noch unten sind. Die liegen jetzt immer noch da.

Die Unterlagen?

Ja, natürlich. Wer soll sie denn rausgeholt haben? Im Schacht Marie. Im Endlager für radioaktiven Abfall bei Helmstedt, Morsleben. War vor kurzem auch mal wieder in den Schlagzeilen wegen den Wassereinbrüchen.

Unglaublich.

Ja. Na ja. Und ich hab dann… Warte mal, wie war denn das? Das ist ja auch schon so lange her. Ich hab das dann geschickt nach Neuengamme, das Manuskript. Hab daraufhin eine Einladung gekriegt, zu einer Tagung. Da war ich dann das erste Mal im Westen. Irgendwer hat mir gesagt, schreib doch an den Höpcke. Höpcke war „Literaturminister“, also stellvertretender Kulturminister und war für Literatur zuständig. Der kannte meinen Vater. Lauter so Sachen spielten eine Rolle. Hab ich dann ne Genehmigung gekriegt, einen Pass mit der zehnjährigen Gültigkeit für eine einmalige Ausreise. Aber ich bin wieder zurückgekommen. Pünktlich.

Und da haben sich die Leute gewundert.

Ja, der Heiner Müller sagte, jetzt sind sie sauer. (lacht) Dass ich wieder da war. Ich hab nur gedacht, scheiße, was will ich denn da? Der Westen war schon ziemlich shocking für mich. Ich hab die ersten drei Tage, glaub ich, nicht gesprochen. Diese Fülle, das war unglaublich. Dieses Bunte und dieser Geruch, furchtbar. Du gehst in einen Laden und bei uns gab es dann die Praktika, im Westen gibt es für jeden alles, tausend Fotoapparate und für den, der nun wirklich alles hat, noch einen vergoldet. Insofern versteh ich natürlich diese 89er-Geschichte, was ich ja dann Gott sei Dank, muss ich mal sagen, schon 1987 hinter mir hatte, diesen Schock. Heiner Müller sagte, die müssen sich natürlich alle die Nasen an den Schaufenstern platt drücken, weil sie ja immer noch glauben, das sei alles für sie, was in den Schaufenstern ist. Ist es natürlich nicht. Das müssen sie lernen. (lacht) Dann wird es interessant. Das ist, glaub ich, auch der Grund, warum Nachdenken über Gesellschaft in einer Masse der Bevölkerung nach der Maueröffnung weitgehend eingestellt wurde, und warum auch so was wie, sagen wir mal, Bürgerbewegung, keine Rolle mehr spielte.

Weil die so wie du drei Tage stumm waren?

Glaub schon. Am Anfang ging es ja immer um die Veränderung, oder um die Herstellung von neuer oder anderer Gesellschaft. In ‚Material’ ist eine Frau drin, die sagt da was sehr Helles, sie sagt, dass es darum geht, dieses diskreditierte System Sozialismus überhaupt erst mal herzustellen, ehe man das abschafft. Gab es ja gar nicht.

Du hattest damals mit dem Thomas Harlan zu tun.

Das war vor dem Stollen, 83. Harlan hab ich kennengelernt bei Müller. Er hat gefragt, ob ich mitmachen würde bei seinem Projekt „Wundkanal“, das hieß damals noch „Suicide“. Hab ich natürlich Ja gesagt. Was heißt natürlich? Ich hab einfach Ja gesagt, weil ich nichts zu tun hatte. War halt frisch aus der Filmhochschule raus, und der hat gesagt, da können wir in Ungarn drehen und so, Ausland. Westgeld verdienen. Also lauter Blödsinn. Ich hab den Film vor einem Monat zum ersten Mal gesehen, wunderte mich dann, mich im Abspann zu finden. (lacht) Drehbuchmitarbeit. Was interessant ist an Harlan: Für den war Filmemachen nicht unbedingt, glaube ich, filmisches Arbeiten, sondern das war mehr was Existentielles. Film war nur der Ausdruck dafür. Das kann ich gut nachvollziehen. Bei dem Kram, den ich mache, ist das eigentlich egal, ob das Funk ist oder Film. Das ist einfach eine Ausdrucksform, eine Art Sprache oder Mitteilung, die man benutzen kann. Insofern war der Wechsel von Film zu Funk auch nicht so wesentlich, dass ich gelitten hätte, weil ich keine Filme mehr mache. Machst du halt was anderes. Ist nur die Frage, was man eben dafür nimmt, wie man sich so formuliert. Das sind mehr so Versuchsanordnungen mit dem Material, das gerade zur Verfügung steht. Das kann so ein Raum sein wie in der Akademie. Wenn man nur den kriegt, dann nimmt man den halt. Und wenn du ein Theater hast, dann nimmst du halt das Theater. Was gerade da ist. Du nimmst die Baustelle, die da ist, und fängst an, das Ding zu spielen. Das ist es eigentlich. Das ist vielleicht schwer vermittelbar, weil natürlich alle Filmleute schon immer Film und alle Theaterleute immer Theater und lauter so’ n Kram…

Wie lang ging die Arbeit mit Harlan?

Das war der ganze Herbst 1983, wenn ich das richtig in Erinnerung hab. Wir sind im Dezember 1983 oder Oktober nach Ungarn gefahren und haben da in Szeged gedreht. Ist mir erst später aufgefallen, erst nachdem ich den Film „Wundkanal“ jetzt gesehen habe, dass die Arbeit ‚Schweigendes Dorf’ viel damit zu tun hat. Sind ja bei ihm fast wie in der Kirche, wie wenn man einen Rosenkranz betet, die Texte. Also wiederholen und immer wieder und noch mal und noch mal diese unendlichen Fragen stellen und so. Ich hab direkt danach angefangen ‚Schweigendes Dorf’ zu recherchieren. Insofern glaube ich, dass das zumindest einen Zusammenhang hatte. Ich war im Thema durch das Harlan-Projekt.

Du benutzt die Sprache, um die Sachen zu erzählen, die dir ein Anliegen sind…

Nee, die mich gerade beschäftigen. Ja, was heißt Anliegen? Das ist immer so eine schwierige Sache. Ich hab keine Botschaft. Es geht eigentlich darum, einen Begriff zu finden für etwas. Ich will versuchen, für mich ein Bild zu finden, das einigermaßen stimmt. Das hat mehr mit Selbstverständigung zu tun als mit Verständigung, weißt du? So. Es ist ein bisschen autistisch. (lacht)

Gar nicht. Es ziehen sich einige Themenstränge durch viele deiner Filme. „Vaterland,“ den ich wahnsinnig gerne mochte, und auch „Im Glück (Neger).“ Grob gesagt, deine Herkunft und deine Familie und damit vielleicht auch diese jüdische Geschichte. Als ich ‚Vaterland’ gesehen hab, hab ich die Briefe, die du liest am Anfang, wahrgenommen als Briefe, die du irgendwo gefunden hast. Ich habe erst aus einer Rezension erfahren, dass sie von deinem Großvater und Vater sind.

Das spielt keine Rolle für den Film. Interessant ist der Text und nicht der Kontext der Verwandtschaft, sag ich jetzt mal. Das ist auch ein Grund, warum ich das nicht genannt habe. Ich fand es interessant, auf den Text zu hören, und nicht „Aha, Verwandtschaft“ dann als einziges Ergebnis zu haben. Ich wollte, dass die Leute sich den Brief anhören.

Du benutzt nie erklärende Untertitel. Genau aus demselben Grund?

Ja.

(lacht) Da würde ich mich gerne mit dir drüber streiten. Das Weglassen von Untertiteln hat immer was Kunstmäßiges, während Untertitel automatisch nach doofem Fernsehen aussehen, nach dem Motto „Jetzt erklär ich euch noch den letzten Mist.“ Ich finde aber, dass es da eine gewisse Verweigerungshaltung gibt, Informationen vorzuenthalten. Wenn man die weglässt, dann ist es sozusagen direkt auf einem Dokumentarfilmfest und sonst beim Fernsehen. Das mag ich nicht.

Das hat damit gar nichts zu tun. Es gibt einen Komponisten, Ornstein, der ist 106 geworden. Der ist mal gefragt worden, warum er seinen Stücken keine Titel gibt. Da hat er 1913 schon gesagt, er macht das nicht, weil, wenn er schreibt „Sommerwiese“, dann hören die nur „Sommerwiese, aha, fertig“, dann hört keiner mehr hin. Sie lesen die Überschrift und schon ist es zu Ende. Ich will, dass die Leute sich bewegen, wenn schon, denn schon. Und nicht sagen, „Ich finde, ne Sommerwiese ist aber ganz anders.“ Man sagt, „aha,“ geht mit dem Aha nach Hause, aber das hilft dir gar nichts, denn dann hör ich auf zu denken. Wenn du etwas nicht benannt kriegst, musst du dich damit beschäftigen, was es denn sein könnte oder was denn der Begriff ist. Wenn du auf einen Begriff Sommerwiese kommst, dann ist das okay für dich. Aber es kann auch etwas ganz anderes sein für jemanden. Das will ich eben nicht vorschreiben. Das ist nicht sehr neu, hab ich irgendwann bei Eco gelesen, „Das offene Kunstwerk.“ Es geht um die mehrfachen Interpretationsmöglichkeiten von etwas. Du kannst zum Beispiel so einen Film wie „Im Glück (Neger)“ konkret als Sozialgeschichte dieses Jungen lesen oder sehen, aber du kannst es auch ganz anders fassen, wo es gar nicht um die Frage Sozialamt ja oder nein geht.

Der Film ist enorm lyrisch.

Ja, na klar. Es geht ja um solche Fragen.

Der Sonnenuntergang mit dem Flugzeug drüber.

Das ist kein Flugzeug, das ist die Venus. Du siehst ein Mädchen, das kommt und geht. Das ist das Einzige, was man von ihr sieht. Sie fährt vorbei, kommt aus dem Dunkel, taucht auf, guckt und verschwindet wieder. Dann ist Schnitt und dann siehst du den Venusdurchgang. Und dann siehst du ein junges Pärchen mit Kinderwagen auf dem Sozialamt. Das ist der Weg. (lacht)

Das ist der Venusdurchgang?

Man kriegt eine Freundin, stellt ein Kind her und dann landet man auf dem Sozialamt. So einfach ist das. Was willst du da sagen, so ist das Leben. (lacht immer noch) Eine Kurzfassung, wie eine Moritat. Es macht mir Spaß, wie ich die Bilder aneinanderhänge und die Leute immer fragen: „Ja was heißt denn das nun konkret?“ Das ist Unsinn. Wenn ich mir das als Malerei angucken würde, dann hätte ich kein Problem, auf eine Assoziationskette zu kommen, aber im Dokumentarfilm ist offenbar die Erwartung, dass du das immer alles ja ranschreibst. Das ist einfach scheiße. Und so was Simples wie dieses durchfahrende Mädel, nachdem du vorher das Bett siehst von dem Soldaten. Lauter Pathos ist da drin. Und Ironie natürlich. Und was weiß ich nicht alles. Ist ja nicht meine Erfindung. Wir entdecken im Schneideraum bloß, was wir gedreht haben.

Du schneidest sehr gerne, nehme ich an.

Ich schneide sehr gerne. Was Spaß macht, ist, dass der Film weitgehend im Schneideraum entsteht. Ich versuche rauszukriegen, was wir da jetzt eigentlich getan haben, weil man das, was man tut, ja über weite Strecken sehr blind tut, wenn man sich denn drauf eingelassen hat. Das sind jedenfalls die besten Sachen, die entstehen, wenn man nicht mehr genau weiß, wie ist denn das passiert, und man das eben zugelassen hat. Dann muss man nach einer Weile rauskriegen, was man eigentlich zugelassen hat. Und entweder kann man damit arbeiten oder man schmeißt das weg. Schnitt ist ja nicht das Herstellen einer Sache, die klar ist, sondern ich muss erst mal sehen, was da ist.

Wie lange schneidest du meistens so einen Film?

Gar nicht so lange. Komischerweise hat es sich so eingepegelt. Reine Schnittzeit sind immer zwischen zehn und zwölf Wochen, ohne Reinladen. Wenn man das mal weglässt, dann kommst du so auf zwölf Wochen, drei Monate.

Du hast immer mal wieder den Müller bei der Arbeit gefilmt und hast dann diese Geschichte „Der Ausländer“ später montiert.

Nee, das ist anders. 1987 hat mich Müller ans Theater geholt. Die staatliche Filmdokumentation, wo ich „Das Haus“ und „Volkspolizei“ gemacht habe, die gab es nicht mehr. Ich hab praktisch keine Möglichkeit mehr gehabt zu arbeiten. Beim Funk war ich auch rausgeschmissen. Die haben mir mitgeteilt, es wäre keine Zusammenarbeit mit mir möglich. Und dann hat Müller gesagt, „Na, dann komm doch ans Theater.“ Die Akademie wollte, als Müller 1987 anfing mit „Lohndrücker,“ eine Arbeitsdokumentation. Ich bin praktisch von der Akademie dann beauftragt worden. Ich kannte den ja vorher schon, das war nicht der Punkt. Es war eine Möglichkeit, um Geld zu verdienen. Und dann hatte ich die Kamera und hab mit der einfach angefangen zu drehen.

Was für eine Kamera?

Eine Panasonic MV5, die ich bekommen habe von Bernhard Stampfer, wenn dir das was sagt. Der hat damals den Film von Thomas Harlan produziert. (Das Handy klingelt) Warte mal, Entschuldigung. Das ist die Akademie – Heise. Ja. Mhm. – In der Mainzer Straße, ob das ne Überwachungskamera war? Das ist ja absurd. Wie kommt er denn auf so was? Das ist ne ganz normale Beta SP. Kameramann Peter Badel.– Wunderbar, bitte. Tschüss. –

Das ist ja ne witzige Frage.

Ob das ne Überwachungskamera war. Was denken die? Was geht da in den Köpfen vor? Kannst du mir das mal sagen?

Sie werden was gefragt, und dann rufen sie dich an.

Ja. – Wo waren wir denn jetzt?

Warum du bei Heiner Müller warst, was das für eine Kamera genau war und…

…Bernhard Stampfer hat mir die Kamera eigentlich mit der Verabredung gegeben, Heiner Müller bei der Arbeit zu drehen, um den dabei entstehenden Film dann im bundesdeutschen Fernsehen zu zeigen. Die Kamera hab ich genommen. Aber mir war klar, dass ich so was nicht machen kann. Ich kann nicht Bilder drehen und dann kommen die im Fernsehen, und der Müller weiß gar nichts davon. Trotzdem wollte ich drehen, also hab ich das behalten, das Ding, und hab mir gedacht, was will er denn machen, ist ja ne Mauer da. Kann er gar nichts machen. Hab den Produzenten enteignet.

Und mit dieser Kamera hast du auch die ganzen anderen Geschichten gedreht? Im Gefängnis…

Alles. Bis zur Wende, ja. Und dann stand ein Rollkommando vor der Tür und wollte die Kamera wieder haben (lacht). Hat sie auch gekriegt.

Ach Quatsch.

Ja, natürlich. Jetzt hab ich mich mit ihm getroffen. Waren wir schön essen. War gut. Seitdem erzähl ich das. Er hatte die Kamera gekauft. Und Müller hat sie in die DDR gebracht und ich hab damit gearbeitet. Da hab ich noch die Zollquittung zu Hause. Mit Unterschrift, Autograph von Heiner Müller auf einer DDR-Zollerklärung für eine Kamera.

Mit der du auch viel von dem gedreht hast, was man in deinem letzten Film „Material“ sehen kann. Da schreibst du ja die DDR-Geschichte um…

Na ja, das bezweifle ich. Die Geschichte ist ja passiert. Ob sie geschrieben wurde oder nicht. Also kann ich sie nicht umschreiben.

Die Wahrnehmung zumindest veränderst du.

Also, ich hab ein paar Mal Post gekriegt von Leuten, die sagen, sie hätten längst vergessen, dass die Wende eben nicht der Mauerfall ist, sondern, dass Leute aufgestanden sind, sich was getraut haben, öffentlich redeten auf einmal und das Bedürfnis hatten, zu reden . Nicht um sich selbst darzustellen, sondern weil das die einzig mögliche Form war, mit dieser Gesellschaft umzugehen. Dass man das Wort ergreifen musste. Das find ich gut. Das andere hat mit der Form zu tun, mit der Verschiedenheit der Dinge, die der Film zusammenbringt. Was ja auch die Ausstellung „Übergangsgesellschaft“ macht in der Akademie der Künste. Diese ganz verschiedenen Blicke zeigen. Von Punk bis zur Modeattitüde, weil das alles Ausdruck des Aufbruchs ist, sag ich mal. Aus einer Anonymität heraustreten, was man ja auch macht, wenn man anfängt zu reden.

Du hast das jetzt für die Akademie umgearbeitet als Installation…

Das ist ne völlig eigenständige Geschichte. Das ist kein in den Raum übersetzter Film, sondern der Versuch, Material im Raum so zu sortieren, dass du damit irgendwie umgehen kannst. Film kann man als längliche Angelegenheit sehen, man kann aber auch einen Haufen draus machen. Das ist wie mit der Geschichte. Zuerst ist das eine große Müllkippe, dann fängst du an zu wühlen, gräbst ein paar Sachen aus und legst die nebeneinander. Insofern ist der Raum der Ausstellung so was wie ein Schneideraum. Man muss sich das Bild selbst herstellen aus dem, was man als Material zur Verfügung gestellt kriegt. Das ist die Aufgabe für das Publikum.

Wer alles produziert eigentlich deine Filme?

Also, der letzte Film ‚Material’ ist produziert von Heino Deckert von MaJaDe-Film. Es ist auch das ZDF daran beteiligt mit der enormen Summe von 40.000 Euro. Ich bin noch beteiligt mit 25.000 Euro, die ich da reingesteckt habe, das ist mein Archivmaterial. Aber es ist sehr schön, dass das ZDF/arte das in voller Länge im Nachtprogramm jetzt zeigen wird. Die sind über ihren eigenen Schatten gesprungen. Knapp drei Stunden Sendezeit für die Summe ist auch sehr billig.

Aber die kaufen es dir dann auch ab oder haben sie die Ausstrahlungsrechte für die 40.000?

Es gibt keinen Pfennig mehr Geld, das ist klar. Sie haben auch keine Rechte weiter an dem Film. Sie können nichts damit machen, außer ihn zu senden. Es ist mein Material. Wer es haben will, muss es bei mir kaufen. Aber es kauft keiner. (lacht) Und ich will es auch gar nicht verkaufen. Die BBC hat jetzt gefragt und ich weiß gar nicht, was ich denen geben soll.

Klammermaterial. 15 Sekunden aus der Mainzer Straße.

Das will ich eigentlich nicht.

Und was glaubst du, wo in Zukunft das Geld herkommt oder mal ein bisschen mehr Geld herkommt? Du brauchst ja nicht 800.000, sondern irgendwie, sagen wir mal, 100.000 für einen guten Dokumentarfilm.

Ich kann so gar nicht denken. Ich kann dir nur sagen, dass ich mich überhaupt wundere, dass es so lange geht, dass man noch Dokumentarfilm macht. Vor allem, dass ich das mache, weil ich nicht in der Lage bin, Dienstleistungskriterien des Fernsehens zu erfüllen. Ich hab keinen besonders guten Ruf beim Fernsehen. Beim industriellen Teil: Der macht immer, was er will, man weiß nie, was hinten rauskommt und so. Das passt nicht in die industrielle Produktion. Was wir erlebt haben in den letzten 20 Jahren, ist der Übergang vom Handwerk oder der Manufaktur Film zur industriellen Fertigung. Es gibt keine Autoren mehr, nur noch Massenprodukte, und die müssen sich ähneln, wiedererkennbar sein und und und. Das sind die Kriterien und die interessieren mich, ehrlich gesagt, nicht.

Sollte man da die Filmhochschulen nicht abschaffen? Die Leute, die ihr da ausbildet…

Wir bilden die nicht aus. Karlsruhe ist eine Kunsthochschule. Jede Woche kommt eine Anfrage von irgendeiner Klitsche, die Imagefilme und so was haben wollen und eure Kreativität und trallala. Ich sage dann immer „Leckt mich doch am Arsch.“ Ich versuch die Leute dazu zu bewegen, was anderes zu machen. Manchmal klappt das, manchmal nicht.

Aber wie sollen die Leute nachher arbeiten?

Keine Ahnung. Das weiß ich nicht.

Aber da muss man doch was machen.

(das Handy klingelt erneut) Ja. – Ja. – Ja. Ja sicher, können Sie grundsätzlich machen. Ist doch egal. Ist doch ganz simpel im Netz, also insofern muss man gar nicht…Kein Problem. Tschüss.

Also entschuldige, wenn ich mit Kampfattitüden nerve, aber ich versuch mir halt vorzustellen, wie das weitergehen soll.

Natürlich kann man sagen, man muss was machen. Auf der anderen Seite, die Filme, die ich mache, die sind vielleicht gut, aber sie haben kein Potential als Massengeschichte. Da braucht man sich keine Illusion zu machen. Ich rette mich dann immer, indem ich erzähle, dass Goethe zu Lebzeiten 12 Exemplare seines „Faust“ verkauft hat. Was damals gelesen wurde statt „Faust“, war Kotzebue, von dem heute keiner mehr weiß, wer das war, außer du hast Germanistik studiert. Das sind die Probleme, die wir haben. Fernsehen ist eine Maschine, die grundsätzlich für die Gegenwart produziert und sich als Gegenwartsmedium versteht und mit Aktualität zu tun hat. Und wenn du Dokfilm machst, hast du mit Aktualität gar nichts zu tun, sondern mit Geschichte. Die Quote des Abends müsste man in die Länge ziehen auf die nächsten zweihundert Jahre, und dann könnte man überhaupt erst drüber reden. Es gibt eine Werbung, die ich mal gemacht habe für die Hochschule Karlsruhe, da stand dann, dass ein Dokumentarfilm länger hält als die Redaktion, die ihn in Auftrag gegeben hat, und länger als der Staat, in dem er entsteht. Das ist das Problem von Kunst. Das ist das Kriterium. Ne Redakteurin, selbst wenn sie gut ist, gibt’s zehn Jahre später nicht mehr. Die sind abgeschafft. Und dieser ganze Quatsch, der als ewige Wahrheit verkauft wird, ist zwei Tage später vergessen. Immer wird erwartet, dass du den neuesten Schlenkern hinterher springst, als hätte es vorher und nachher nix gegeben. Das könntest du nur ändern, indem du die finanzielle Abhängigkeit der Filmproduktion vom Fernsehen wieder beendest, indem du die kompletten Förderstrukturen änderst, indem du die Filmakademie wieder auflöst. Das ist nur über eine Revolution zu machen. (lacht) Und das muss im Rahmen des Gesamtkonzepts dann miterledigt werden, und das werden wir auch tun.

(lacht) Mal gucken, was dann noch alles so verändert wird.

(Das Handy klingelt wieder) Hallo! Ja. – Nein, er hat ihn. Komm, lass ihn mal. Irgendwie kriegen wir das schon. Bin ja gleich da. – Ich hab mit ihm was anderes verabredet. Du kannst nicht immer Anweisungen geben, ohne mit mir wenigstens Rücksprache zu führen. –– Ja, aber ich wollte nicht, dass du ihm jetzt was überhilfst, das mein ich. Das ist problematisch. – Lass ihn das ruhig machen. Da nachdenken. Ich hol ihn da schon weg und sag: „Pass auf, jetzt machst du Pause, jetzt gehen wir ein Bier trinken. Morgen kannst du immer noch basteln.“ – Na ja. Ich rede hier mit Saskia. Ich hab ihm gesagt, dass ich in einer Stunde komme. Nun ist gut. – Ja. Alles ist eigentlich längst geklärt… Also…
(Das Gespräch wird beendet)

Ist mir doch scheißegal, ob er da hingeht. Wenn er keinen Bock hat, da zur Eröffnung zu gehen. Ich meine, ist doch albern. Wir sind doch alle wir. – Ein Chaos.

Das Gespräch führte Saskia Walker. Am 9.Juli 2009, im Café Schwarze Pumpe, Berlin. Transkript: Janine Drewes. Bearbeitung: Marcus Seibert

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