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Revolver Live mit Jean-Pierre und Luc Dardenne

Nicolas Wackerbarth: Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne wuchsen in dem Industrievorort Seraing bei Lüttich auf, Luc Dardenne studierte Philosophie, Jean-Pierre studierte Schauspiel und Dramaturgie an der Kunstakademie in Brüssel. Dann kehrten sie nach Seraing zurück, um über das Leben dort Dokumentarfilme zu drehen. Schließlich wandten sie sich dem Spielfilm zu. Ihr zweiter fiktionaler Film war „Je pense à vous“ (1992). In diesem Film ist noch eine Solidarität unter den Stahlarbeitern spürbar und in gewisser Weise noch so etwas wie ein gemeinschaftliches Leben zu sehen, während sie für ihre späteren Filme meist Außenseiter als Protagonisten wählten. Würden Sie sagen, dass dieser Film, obwohl ich weiß, dass Sie ihn nicht sehr mögen, Ihr persönlichster ist? Der Ausgangspunkt war ja auch der, Ihre eigene Jugend durch diese Arbeit wieder zu entdecken und zu schildern, wie Sie dort aufgewachsen sind.

Luc Dardenne: Wir sind nach Seraing zurückgekehrt, weil es die Stadt unserer Kindheit und Jugend war. Es war eine Stadt, die eine große Wirtschaftskrise durchlebte. Und unsere Idee war es, mit Video Porträts der Menschen in den Cités zu drehen, den großen Neubausiedlungen mit sozialem Wohnungsbau, wo mehrere tausend Menschen lebten – und in den Bars dort. Unsere Arbeit war etwas naiv und sehr einfach. Wir haben zu zweit bei den Leuten an der Tür geklingelt – es waren die siebziger Jahre – und haben gesagt, wir drehen ein Porträt all der Menschen, die hier in der Cité leben. Und Samstag oder Sonntag werden wir sie zeigen im Gemeindesaal einer Kirche, im „Haus des Volkes“ oder an anderen Orten, die wir dafür fanden – denn das Videomaterial erlaubte ja, direkt das zu zeigen, was man gemacht hatte. Wir waren gänzlich unbekannt. Trotzdem haben die meisten Leute mitgemacht. Wir haben mit jedem von ihnen ungefähr eine halbe Stunde ein Interview geführt. Sie sollten uns von einem Moment ihres Lebens erzählen, in dem sie sich gegen eine Ungerechtigkeit wehrten. Egal welcher Art. Was ihnen ungerecht erschien. Auf der Arbeit, in der Familie, in der Schule, auf der Straße. Wir haben uns gedacht – und das war zwar im Ansatz wahr, aber doch etwas übertrieben – dass die Menschen in den Cités vereinsamt leben. Unser Gedanke war, dass sie sich begegnen könnten über diese Videos, in denen sie von ihrem Umgang mit einer Ungerechtigkeit erzählten. Samstags und sonntags haben wir also diese Filme gezeigt, und das ging zwei Jahre lang so.

„Je pense à vous“ steht in der Tat im Zusammenhang mit dieser Wirtschaftskrise, die wir versucht haben zu filmen mittels einer Geschichte, die wir zusammen mit Jean Gruault geschrieben haben. Das war ein französischer Drehbuchautor, der mit Truffaut, Rossellini und Godard gearbeitet hatte. Wir halten es für einen schlechten Film. Wir sprechen nicht viel darüber. Wir haben vorhin den Studenten der dffb gesagt, dass wir ihn als das ungeliebte Kind betrachten – in vielen Familien gibt es so ein ungeliebtes Kind. Aber muss man deswegen darüber sprechen?

Nicolas Wackerbarth: Im Vorgespräch haben Sie einen Satz von Bresson zitiert: Man müsse immer gegen etwas sein, wenn man Kino machen wolle. In gewisser Weise war ihr nächster Film, „La promesse“,  komplett gegen den vorherigen Film gerichtet. In welcher Weise haben Sie sich bei „La promesse“ andere Prämissen gesetzt als bei „Je pense à vous“?

Jean-Pierre Dardenne: Das ist doch schon mal nicht schlecht als Prämisse! Gegen den vorherigen Film zu sein. Letztendlich gegen uns selbst. So wie wir eben zwei oder drei Jahre vorher gewesen waren.  Wir haben uns ganz konkret gesagt, bevor wir mit dem Film „La promesse“ angefangen haben, während wir also noch am Drehbuch schrieben, dass der technische Apparat, die „technische Vermittlung“ zwischen uns und den Schauspielern so gering wie möglich sein sollte. Dass wir den Drehplan schreiben würden, also was wir am ersten, zweiten, dritten Tag drehen würden, und nicht ein Assistent, der angeblich weiß, wie man das üblicherweise zu machen hat. Und wir wollten chronologisch drehen. Das heißt: Am ersten Tag drehen wir die erste Szene der Geschichte. Außerdem wollten wir – auch wenn wir das damals nicht so formuliert haben – mit Menschen arbeiten, die entweder schon unsere Freunde waren oder es bald sein würden. Was nicht heißt, dass das Set ein netter Ort ist mit lauter Leuten, die sich lieben. Aber dass wir alle dort sein würden, um Figuren zum Leben zu verhelfen, die es nicht gibt. Dass das vor allem unser größtes Interesse ist. Ich glaube, etwas Wesentliches bei uns ist, dass wir Angst haben, wenn wir anfangen zu drehen. Darauf ist Verlass. Nun, man darf dann einfach keine Angst vor dieser Angst haben! Man muss mit ihr leben. Wenn man anfängt, loszulegen, verschwindet die Angst. Wenn man Angst vor der Angst hat, bevor man anfängt zu arbeiten, dann erstarrt man – und dann übernehmen die Spezialisten, die einem sagen, wie man es zu machen hat. Man ist dann etwas traurig und gleichzeitig zufrieden, weil plötzlich einfach etwas passiert. Man weiß nicht ganz warum und weshalb, aber es tut sich etwas.

Jens Börner: Ich würde gerne mit zwei Fragen noch kurz auf Ihre Dokumentarfilmerfahrung zurückkommen. Die eine ist: Inwieweit gibt es Erfahrungen aus diesen frühen Videoarbeiten, die für Sie heute noch eine Rolle spielen? Die zweite ist: Wie kam dann der Wunsch auf, statt Dokumentarfilmen Spielfilme zu machen?

Luc Dardenne: Es gibt da mehrere Dinge, glaube ich. Unsere Dokumentarfilme hatten vor allem mit der Vergangenheit zu tun. Dinge, die vor vierzig oder auch nur vor einem Jahr stattgefunden hatten. Wir arbeiteten überwiegend mit Archivmaterial oder Interviews. Und mit Rekonstruktionen. Aber wir haben niemals einen Dokumentarfilm zeitgleich zu dem Ereignis gedreht, von dem er handelt. Wir haben uns mit der Erinnerung beschäftigt. Ich glaube, wir sind einfach an einige Grenzen gestoßen. Auf der einen Seite ganz konkret: Wir baten die Leute in einer Tour, etwas vor der Kamera zu tun, was sie eigentlich nicht wollten, und man musste sie dann bezahlen, damit sie es taten. Es stimmt zwar, dass man beim Dokumentarfilm häufig die Leute bezahlt, zumal, wenn man einen Film über Leute dreht, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Aber wir haben immer mehr gemerkt, dass wir diese Menschen zu Protagonisten unserer eigenen Konstrukte machen wollten – und dass es sie selbst eigentlich nicht interessierte.

Die zweite Grenze war damit auch erreicht. Wir fragten uns: Warum erzählen wir nicht unsere eigenen Geschichten? Eine ganz einfache Frage: Wie kann man jemanden in einem Dokumentarfilm sterben lassen? Das ist unmöglich. Das war eine der Fragen.

Aber bevor wir dann wirklich angefangen haben, unsere Spielfilme zu drehen, haben wir eine Adaptation des Stückes „Falsch“ von René Kalisky verfilmt. Vielleicht hatte der Rückgriff auf ein Theaterstück etwas damit zu tun, dass wir auf diese Weise noch einmal auf etwas  bereits in der Wirklichkeit Existierendes zurückgreifen konnten und noch nicht selbst eine Geschichte schreiben mussten. Jedenfalls haben wir da zum ersten Mal mit Schauspielern gearbeitet. Das war für uns eine entscheidende Begegnung. Wir haben das geliebt. Und wir haben dabei eine Sache gelernt von Bruno Cremer, einem bekannten französischen Schauspieler, der damals die Hauptrolle spielte. Wir neigten dazu, ihm minutiös zu erklären, was er machen musste, was er vorher gemacht hatte und was er in der Folge machen würde. Er sagte uns: „Meine lieben Brüder, es wäre mir lieber, wenn ihr aufhören würdet, mir mit euren ganzen Anweisungen auf den Wecker zu gehen, weil ich jetzt gleich, im Hier und Jetzt im Bild sein werde, und nicht vorher und nicht nachher. Lasst mich ein Idiot sein!“ Wir antworteten: (mit eingeschüchterter Stimme) „Aber gerne doch!“ (Lachen) Wir haben das mehr oder weniger begriffen, aber im Laufe der Arbeit haben wir es immer besser verstanden. Und ich glaube, das war für uns die wichtigste Entdeckung. Der Spaß, den wir hatten an dieser Art von Arbeit, an der Adaption mit den Schauspielern zu arbeiten, mit ihren Körpern, mit dem Rahmen, mit den Bewegungen, den Regieanweisungen… Man sagt dann als Regisseur, da bist du, und du gehst von da nach da oder nicht von da nach da. Das haben wir davor schon auch ein wenig getan – es kommt schon mal vor, dass man im Dokumentarfilm ein wenig inszeniert, aber nicht auf diese Art und Weise.

Nicolas Wackerbarth:  Wie haben Sie bei „La Promesse“ mit der Recherche gearbeitet? Wie ist die Recherche in das Drehbuch eingeflossen – auch in Bezug auf Ihre Erfahrungen mit Interviews, die Sie davor bei Dokumentarfilmen geführt haben? Meine zweite Frage bezieht sich auf das Schauspiel. Ich möchte da einen ganz konkreten Moment schildern: Nach dem tödlichen Unfall auf der Baustelle gibt es eine unterlassene Hilfeleistung von Roger, dem Vater. Er steckt den Sohn, der alles beobachtet hat, in die Dusche. Die Kamera geht runter, und der Sohn hat vergessen, seine Socken auszuziehen beim Duschen. Hier ist ganz meisterhaft ein innerer Vorgang in eine Handlung eingebaut. Es würde mich interessieren, ob Sie so einen Moment in den Proben herausfinden oder ob das eine Drehbuchidee war?

Jean-Pierre Dardenne: Ja und nein. Beides stimmt. Ja in Bezug auf ganz bestimmte Sachen. Ich gebe ein Beispiel für das „Ja“: Beispielsweise hatten vor über zehn Jahren Einwanderer, die ohne Papiere nach Belgien kamen, einen Anspruch auf Sozialhilfe in ihrer Gemeinde von 15.000 Belgischen Francs, also ungefähr 400 €, wenn sie dort einen Wohnsitz nachweisen konnten. Wenn man so will, war das Rogers Arbeit [solche Wohnnachweise auszustellen und das Geld dann abzugreifen – d.Ü.]. Da haben wir keine weitere Recherche durchgeführt, wir wussten, dass es das gibt, und wir haben nur zwei oder drei Fragen gestellt, um eine Erklärung zu bekommen, die uns fehlte.

Wir haben natürlich auch Recherchen angestellt in Bezug auf alles, was diese Riten betrifft. Es gibt da eine Afrikanerin, Assita, die sich ein Vogelnest beschafft und ihren Sohn mit dem Schlamm aus dem Nest einreibt, um ihn gegen die bösen Geister zu schützen. Das haben wir natürlich recherchiert. Dann gab es auch noch die zufällige Bekanntschaft, die wir ein paar Jahre zuvor gemacht hatten, mit einem Mann, der in Seraing das tat, was Roger tut. Er vermietete winzige Zimmer in einem großen Haus an illegale Arbeiter, denen er eine Wohnsitzbescheinigung ausstellte. Sie erhielten 400 € dank dieser Bescheinigung, und bezahlten davon 250 bis 300 € Miete. Wenn sie weniger bezahlen wollten, ließ er sie an der Renovierung des Hauses mitarbeiten. Ich weiß nicht, warum dieser Typ, der uns nicht kannte – wir waren auf der Suche nach einem Drehort für einen anderen Film gewesen –, ich weiß nicht, was ihn geritten hat, dass er uns all das erzählte.
Was war noch mal die zweite Frage?

Nicolas Wackerbarth: Die Socken…

Jean-Pierre Dardenne: Das war schon im Drehbuch. Die Situation mit diesem Jungen unter der Dusche, dem der Vater die Socken auszieht, und dann hat der Junge diesen Blutfleck und traut sich nicht, ihn zu berühren. Er reibt daher erst mit dem Fuß und langt erst später mit der Hand hin. Natürlich ist sie nicht exakt genauso geschrieben, wie sie dann gedreht wurde. Aber die Szene gibt es schon im Drehbuch.

Nicolas Wackerbarth: Ihre ganzen Filme sind sehr reichhaltig an diesen Gesten, Übersetzungen und Charakterisierungen. Es gibt diese tolle Szene, wo sich Igor, der Sohn, Tipp-Ex auf die Zähne malt. Es gibt immer diese physischen Übersetzungen, die andere Filme nur mit dem Dialog zu bewältigen wissen. Finden Sie in den Probenprozessen auch solche Gesten und Momente, die Sie dann integrieren?

Luc Dardenne: Wir versuchen sowohl in der Drehbuchphase als auch am Set solche Dinge zu finden, solche Details, die wir aus der Nähe beobachten können und die als physische Tätigkeit zunächst einmal nur das sagen, was sie sind. Gleichzeitig erzählen sie etwas über innere Zustände. Und in der Tat erzählen diese Socken, die er unter der Dusche vergessen hat, etwas über die Überforderung des Jungen in dieser Situation. Er hat einen Mann sterben lassen. Und er hat es noch nicht begriffen oder es nicht akzeptiert, das weiß man nicht genau, aber das wird dann das Thema des Films. So wird aus einer Requisite oder einem Kleidungsstück etwas, das uns darüber etwas verrät. Man darf dabei aber nicht symbolisch werden. Es geht um konkrete Dinge, die eine Nützlichkeit im Leben haben, im Leben der Figur, und die plötzlich etwas anderes erzählen als nur das, was sie sonst sind.

Was ich gerade gesagt habe, gilt übrigens auch in der anderen Richtung. Das heißt, hier ist der Junge, Igor, überwältigt von dem, was er getan hat, von dem Bösen, das er getan hat. Aber seine Veränderung, dass er schließlich Partei ergreift und dieser Frau [der Witwe des Verstorbenen – d.Ü.] die Wahrheit sagt – um es plakativ zu sagen, dass er sich für das Gute entscheidet –, auch das muss ein Prozess sein, den er nicht beherrscht. Man darf nicht sehen, dass er plötzlich begreift: „Ah, das muss ich jetzt tun!“. Es muss etwas sein, was zu ihm kommt, ohne dass er es erwartet, ohne dass er es selbst vorbereitet durch Begegnungen oder durch das, was er hört oder durch Widerstände, denen er begegnet. Diesen Weg der „Bewusstwerdung“ des Jungen musste man so gestalten, dass es passiert, ohne dass der Moment von Blicken oder vom Dialog verraten würde, ohne dass er sagt: „Jetzt habe ich es kapiert!“

Nicolas Wackerbarth: Das ist ja auch in „Rosetta“ so: Sie verrät ihren Freund und kriegt seinen Job. Sie ist eigentlich sehr glücklich. Und dann, völlig unvermittelt, ruft sie bei diesem Job an und kündigt ihn. In Bezug auf „Rosetta“ würde mich interessieren: Ich habe gelesen, dass Sie, wenn Sie an einem Drehbuch schreiben, immer zuerst einen Titel brauchen, um eine Art Zielfahne zu haben, wohin die Reise geht.

Jean Pierre Dardenne: Wir haben in der Zusammenarbeit mit Jean Gruault an „Je pense à vous“ doch einiges gelernt. Er hat gesagt: „Jungs, wir brauchen zunächst mal einen Titel.“ Sie haben teilweise auch schon auf die Frage geantwortet: Es ist die Zielfahne des Films. Indem wir den Vornamen des jungen Mädchens zum Titel gemacht haben, sagen wir: Sie ist der Film. Sie konstruiert ihre eigene Geschichte. Das sagt zunächst nicht viel mehr als das. Aber es war wichtig für uns, als wir begannen, darüber zu sprechen, wovon dieser Film handeln sollte. Wir wussten, dass die Hauptfigur Rosetta heißen und dass um sie herum die Geschichte gebaut sein würde. Sie würde sozusagen ihre eigene Geschichte erschaffen, und wir würden ihr nur folgen, wenn sie so wollen. Wir wollten keine Geschichte konstruieren, in der sie dann spazieren geht oder wo sie mal von hier nach da geschleudert wird. Sie war der Motor der Erzählung durch ihre Besessenheit – ihre Besessenheit, eine Arbeit zu finden. Wir wussten genau, dass unsere Figur wie besessen auf der Suche nach einer Arbeit ist und dass sie, weil sie keine Arbeit hat, glaubt, dass sie keinen Platz in der Gesellschaft hat. Und dass sie gewissermaßen tot ist, eben weil sie keinen Platz hat. Deswegen wollte sie um jeden Preis eine Arbeit. So wie Emma Bovary in die Liebe verliebt ist, ist Rosetta in die Arbeit verliebt. Und ich meine das nicht ironisch, wenn ich sage, sie sei in die Arbeit verliebt. Sie hat Recht in unserer heutigen Gesellschaft. Nur die Reichen, die drei, vier Jobs haben, können es sich leisten zu sagen: Arbeit ist nicht wichtig.

Den Vornamen unserer Figur als Titel des Films gewählt zu haben, sagte uns auch – wir wussten es damals noch nicht wirklich –, dass wir für die Mise-en-scène, die Inszenierung, nicht mit außenstehenden Figuren zu Rosetta kommen würden. Wenn es andere Figuren gibt, dann führt uns Rosetta zu ihnen. Nicht eine Figur wird in unserer Inszenierung auf andere Weise eingeführt. Und die Inszenierung antizipiert nie für den Zuschauer, was Rosetta gleich tun wird. Wir sind immer zu spät. Das mag vielleicht etwas konfus oder sehr abstrakt klingen, was ich da sage. Aber wir brauchen einige Leitgedanken wie diese, um mit der Arbeit beginnen zu können.

Jens Börner: Wie sieht diese Arbeit dann konkret aus. Wie schreibt man mit zwei Händen ein Drehbuch, das am Ende dann doch mit einer Stimme spricht? Gibt es da bestimmte Rituale? Ist es beispielsweise so, dass regelmäßig einer beginnt, oder wechseln Sie sich da auch ab?

Luc Dardenne: Wir sprechen viel über unseren nächsten Film. Wir sprechen und sprechen. Und nach einigen Monaten setzen wir uns dann hin und erstellen eine Struktur. Auf der Basis dieser Struktur schreibe ich die Szenenbeschreibungen, schon mit Dialogen darin. Dabei telefoniere ich ziemlich viel mit meinem Bruder, weil es gezwungenermaßen viele Schwierigkeiten gibt, wenn man ein Drehbuch schreibt. Ich schreibe eine erste Version und gebe ihm die, damit er seine Meinung sagt. So gibt es sieben oder acht Versionen, bevor wir sie unserem französischen Koproduzenten zeigen. Danach entstehen dann meistens noch ein bis zwei weitere.

Jean-Pierre Dardenne: Ich werde jetzt etwas sagen, weil er es nicht sagen wird: Es gibt immer diese Phase beim Schreiben, da ist mein Bruder der Motor der ganzen Aktion.

Nicolas Wackerbarth: Wenn wir jetzt mal speziell in den Prozess des Drehbuchschreibens zu „Rosetta“ einsteigen: Der Film ist ja wesentlich reduzierter von den Erzählsträngen her als „La Promesse. „Rosetta“ ist sehr konzentriert auf diese eine Hauptfigur. Wie kommt man zu dieser Reduktion? Gab es da noch andere Nebenfiguren, die später rausgefallen sind, die aber vielleicht eine wichtige Funktion im Buch hatten?

Luc Dardenne: Wir haben zwei Szenen gestrichen, unter anderem eine, in der wir mit einer anderen Figur zu Rosetta kamen. Denn die ganze Mise-en-scène in allen Details ist ja organisiert ausgehend von Rosettas Handlungen. All diese Handlungen stehen in Bezug zu den elementaren Dingen des Lebens: Heizen, Essen, Trinken, Wohnen, Schlafen. Ausgehend davon finden wir beim Drehen neue Sachen, wir kopieren natürlich nicht einfach nur das Drehbuch. Alles was wir noch gefunden haben, bezog sich immer auf diese elementaren Dinge. Die Szene am Schluss mit dem Gas, wo sie sich umbringen will und in der Gasflasche ist nicht mehr genug Gas, weil sie arm ist – das ist eine schreckliche Ironie. Einiges davon ist schon im Drehbuch, aber einiges entdeckten wir auch erst am Set, insbesondere die letzte Szene. Wir haben Rosettas Campingplatz vorwiegend wegen der Kieswege, die es dort gab, ausgewählt. Die anderen Campingplätze hatten asphaltierte Wege. Im Ton gibt das natürlich unterschiedliche Rhythmen: Wiese, Kies, Wiese, Steine, Kies. Und als wir angefangen haben, den Schluss des Films zu proben, da kamen wir dann auf den Gedanken, dass der Junge mit dem Moped seine Runden im Kies dreht – das stand ursprünglich nicht im Drehbuch – und dass sie mit Steinen auf ihn wirft.

Jens Börner: Wann beginnen Sie denn mit der Suche nach solchen Orten, mit der Locationsuche? Spielt das bereits während des Drehbuchschreibens eine Rolle, oder kommt das erst danach?

Jean-Pierre Dardenne: Es gab einen Moment, da haben wir entschieden, dass dieses Mädchen auf einem Campingplatz wohnt. Zwischen ihr und der Außenwelt gibt es nur eine ganz dünne Schicht Blech, sie ist fast schon draußen. Sie lebt also in sehr prekären Verhältnissen. Wo das genau sein würde, wussten wir nicht. Beim Drehbuchschreiben kann man das noch nicht wissen. Da schreibt man einfach „Campingplatz“. Wenn das Drehbuch weitgehend fertig ist, fangen wir an zu suchen.

Nicolas Wackerbarth: Wie vermeiden Sie es, dass Ihre Protagonisten als reine Opfer ihrer sozialen Umstände gezeigt werden?

Jean-Pierre Dardenne: Ich werde mit einer halben Antwort darauf antworten. Wir betrachten sie als Menschen und nicht als Figuren. Egal was sie tun – wir lieben sie. Und egal was sie tun, sie bekommen keinerlei mildernde Umstände.

Luc Dardenne: Wir lieben sie, weil sie aktiv sind, weil sie etwas tun, weil sie widerstehen. Ihr Opfer-Sein hindert sie nicht daran, amoralische Dinge zu tun. Und unsere Figuren tun schreckliche Dinge. Die Figuren sind Überlebende, sie versuchen immer, da rauszukommen. Und in einer Situation, wo man in Konkurrenz lebt wie Rosetta, da sagt man sich: „Ich nehme dem anderen seinen Platz weg.“ Denn einen anderen Platz gibt es ja nicht. Jemand anderes könnte anders handeln – warten, den Platz teilen. Sie kann das nicht. Sie ist eine echte kleine Kapitalistin. Sie ist Galileo von Brecht. In einer Nacht wird er zum Mörder. Sie auch. Wir klagen Rosetta nicht an. Ein Film oder ein Kunstwerk ist kein Gericht. Wir klagen Rosetta nicht an. Wir versuchen nur zu verstehen, wie es dazu kommt, dass sie das tut. Ich habe gerade Brecht zitiert. Statt einfach nur festzustellen, dass die Gesellschaft immer gegen das Individuum gewinnt, weil die Realität stärker ist, und dass das Individuum sich Illusionen hingibt, wenn es glaubt, dass es ihm gelingen kann, es besser zu machen, bleiben wir bei Rosetta und begleiten sie jenseits dessen, was die Gesellschaft von ihr verlangt. Die Gesellschaft verlangt von ihr, dass sie sich wie ein Biest verhält. Wir machen aus Rosetta jemanden, der versteht, dass er sich mit Riquet anfreunden kann, dem Jungen, den sie für ihren Feind hielt. Er kann aber ihr Freund werden. Ein objektives politisches Urteil würde dies als Illusion brandmarken. Die Gesellschaft erlaubt so etwas nicht. Aber der Film tut es! Und wir ziehen es vor, dass der Zuschauer oder die Zuschauerin sieht, wie eine Figur es schafft, besser zu werden, wie sie es schafft, jemand anderem zu begegnen. Eine so einsame Frau, die so hart ist gegenüber sich selbst und den anderen, findet einen Ausweg.

Jens Börner: Ich würde gerne kurz auf Ihr Arbeitstagebuch zurückkommen [„Au dos de nos images“, erschienen bei Le Seuil]. In diesem Buch ist immer wieder zu lesen, wie Sie sich gegen Drehbuchtricks wehren, gegen Erzählungen, bei denen zu sehr durchscheint, dass sie gebaut sind. Und dann gibt es eine sehr frühe Aufzeichnung von 1993, in der es heißt: „Über die Techniken zur Erzeugung von Spannung hinaus die reine Spannung finden.“  Ich würde gerne wissen, was genau Sie mit dieser „reinen Spannung“ meinen? Und vielleicht auch, wie Sie die erzeugen?

Luc Dardenne: Um es ganz einfach zu sagen: Indem wir einfach das Gesicht von Rosetta filmen, filmen wir eine Spannung. Ohne zu zeigen was hinter der Tür ist, was an der Decke, was unter dem Tisch ist. Was wird sie tun? Das ist es, was ich „reine Spannung“ nenne. Es gibt beispielsweise diesen Moment, wo Rosetta den Bäcker durch ein Fenster beobachtet, wie er seine Margarinepäckchen schleppt. Indem wir sie filmen, wie sie durch das kleine Fenster den Typen beobachtet… Sie beobachtet jemanden, und wenn man jemanden lange beobachtet, dann taucht so etwas wie die Möglichkeit des Todes auf. Was wird sie mit ihm tun? Worauf bereitet sie sich vor? Und wir haben keinen weiteren Hinweis gegeben weder vorher noch hinterher. Aber sie ist da und schaut und schaut – und schließlich geht sie hinein, und etwas ganz anderes passiert. Aber diesen Moment zu erschaffen, wo es letztendlich um Leben und Tod gehen könnte, nur durch die Figur… Nur durch ihr Verhalten. Dass man sich sagt: Was verdammt noch mal wird sie tun? Denn Rosetta ist zu allem möglichen fähig! Wir haben ja schon gesehen, dass sie Riquet ertrinken lassen wollte. Natürlich muss das vorher schon angelegt sein. Aber man darf keine Angst haben, eine Szene zu  erschaffen, wo das Team zu einem sagt: „Und? Sie tut doch gar nichts!“ (Gelächter) Aber ich behaupte nicht, dass wir da etwas erfunden hätten. Denn wenn Rossellini in „Deutschland im Jahre Null“ den Jungen vor dem Selbstmord durch die Ruinen laufen lässt, dann macht er genau dasselbe. Er filmt ihn nur beim Gehen. Aber in Anbetracht der Situation gibt es eine Erwartung. Was wird er tun? Der Tod ist schon da. Er hat seinen Vater getötet.

Nicolas Wackerbarth: Aber Sie halten manchmal die Informationen zurück, wie zum Beispiel in „Le fils“ in den ersten 20 oder 30 Minuten – und eine unglaubliche Spannung macht sich breit. Bei Hitchcock, funktioniert es ja genau andersherum. Dort wird über die Informationen Spannung erzeugt. Und diese Unmittelbarkeit ist etwas, das Ihre Filme auszeichnet.

Jens Börner: Ich würde gerne noch nach etwas anderem fragen. Bleiben wir dazu erst einmal bei „Le Fils“. Am Anfang gibt es dort eine Szene, wo die Frau aus dem Büro mit einem Zettel zu Olivier kommt und ihn fragt, ob er den Jungen in seiner Gruppe aufnehmen kann. Das Ganze wird zu einer sehr genau choreographierten Szene zwischen Kamera und Schauspielern. Inwieweit ist diese Choreographie, der Rhythmus der Plansequenz bereits auf der Ebene des Drehbuchs angelegt? Oder entwickeln Sie das erst später?

Jean-Pierre Dardenne: Das Drehbuch gibt uns die Fallhöhe der Szene. Und es gibt vor, wie wir an einem Ort ankommen, mit Körpern, die wir in Bewegung oder im Stillstand filmen werden oder beides zusammen. Wir fragen uns: Was erzählt diese Szene? Wie erzeugt man das Gefühl, dass die Frau Olivier Informationen gibt, die ihn erkennbar irritieren. Aber der Zuschauer weiß nicht, was das für Informationen sind. Und das wird der Treibstoff sein bis zu dem Moment, wo man die Situation begreift, wo Oliviers Ex-Frau ihm sagt: „Warum tust du das? Das ist der Mörder unseres Sohnes.“ Es ist also ein Treibstoff. Wir werfen einen Motor an, und wir geben ihm Treibstoff für 35 bis 40 Minuten. Da erzeugen wir also eine Spannung, einen Suspense. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Einstellung, aber ich weiß noch, dass man nicht die Gesichter sieht, wir sehen sie eher dreiviertel von hinten. Und ich glaube, das erzeugt ein Unbehagen. Wir wechseln über den Nacken von Olivier von einer Seite auf die andere zu ganz präzisen Zeitpunkten innerhalb der Einstellung, und dabei gibt es drei Punkte, die berücksichtigt werden müssen: der Platz der Körper im Raum, ihre Bewegungen und die Bewegung der Kamera. Dabei muss man natürlich auch den Text, der gesagt wird, noch zusätzlich berücksichtigen. Das heißt, jeder Text, der von dem einen oder dem anderen Schauspieler gesagt wird, wird zu einem präzisen Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten Kamerabewegung gesagt. Und ich denke, die Tatsache, dass es sich dabei um eine Plansequenz handelt – das heißt, dass die Zeit im Film genau der Dauer im Moment der Aufnahme entspricht – etwas dazu beiträgt, dass da etwas passiert, das wir als Zuschauer nicht verstehen und beherrschen können. Wir kreisen darum, etwas Wichtiges passiert gerade, und wir haben nicht alle Elemente, um es ganz begreifen zu können. Das ist vielleicht auch ein Erbe des Dokumentarfilms, auch wenn wir das im Dokumentarfilm nie gemacht haben, dass die Kamera in eine Geschichte dazukommt, die schon begonnen hat.

Jens Börner: Das klingt wirklich nach einer sehr genauen Planung. Machen Sie sich Zeichnungen, um sich den genauen Ablauf zu merken? Wir hatten mal mit Michael Haneke gesprochen, und er macht sich immer Zeichnungen, die ganz genau vorgeben, was wann wie wo zu sehen ist.

Luc Dardenne: Keine Zeichnungen. Kein Plan und auch keine Auflösung. Wir haben eine kleine Videokamera, und über drei oder vier Monate hinweg drehen wir an den Drehorten so schnell wie möglich; wir finden die Drehorte, und dann versuchen wir, in den jeweiligen Dekors zu zweit, möglicherweise mit einem Freund, der zur Ausstattung gehört oder zu einem anderen Bereich des Teams, mit unseren Videokameras die Bewegungen zu filmen, um zu sehen, wie das aussieht. Es geht dabei nicht darum, dass wir später beim Drehen genau das kopieren, was wir dabei entdeckt haben. Denn wir werden noch einen Monat mit den Schauspielern proben, bevor wir zu drehen beginnen. Und dabei werden wir noch andere Möglichkeiten entdecken. Wenn wir dann am Drehtag am Drehort sind, arbeiten wir zunächst nur mit den Schauspielern, nicht mit dem technischen Department. Dann suchen wir – und finden in der Regel auch etwas, das wir dann unserem technischen Team für die Umsetzung vorschlagen. Wir finden etwas, weil wir den Ort bewohnt haben, weil wir mehrere Monate dort gearbeitet und uns lange an ihm aufgehalten haben. Wir brauchen das, dass wir sozusagen von den Drehorten besessen werden, von den Orten, dass wir den Raum fühlen. Auf diese Weise finden wir das Gravitationszentrum des Ortes, an dem wir arbeiten, die sensible Zone für die Kamera, wo sie vorwiegend sein wird, um unsere Einstellungen von dort aus aufzubauen. Es gibt nicht tausend Möglichkeiten dafür. Ich würde nicht behaupten, dass es nur eine einzige gibt. Es gibt eine, zwei oder drei, aber nicht wirklich viele an einem Ort. Und um die zu finden, brauchen wir Zeit. Natürlich auch in Bezug auf die Bewegungen der Schauspieler. Bei uns läuft viel über „trial and error“. So kommen wir voran. Mit der Zeit. Wir sagen immer: Unser Geld investieren wir in Zeit. Denn das ist natürlich teuer. Normalerweise bucht man einen Schauspieler für 45 Drehtage. Wir brauchen ihn für 75 Tage. Denn er muss ja schon 30 Tage vorher für die Proben kommen. Er kann also möglicherweise einen anderen Film nicht machen. Und wir sagen unseren Hauptdarstellern immer, dass sie kurz davor keinen anderen Film machen sollen. Sie brauchen mindestens einen guten Monat Karenzzeit, bevor sie bei uns anfangen.

Nicolas Wackerbarth: Welche Bedeutung hat dann der Schnitt in Ihrer Arbeit? Ich möchte da auf Ihren neuesten Film kommen, „Le silence de Lorna“. Da gibt es einen, wie ich finde ganz brutalen Schnitt, der den Zuschauer völlig unvermittelt trifft, wie ein Schock. Wir sehen die Hauptdarstellerin, all ihre Probleme scheinen gelöst zu sein, der Tod des Junkies ist abgewälzt, man sieht sie fröhlich auf der Straße – und dann gibt es einen Schnitt, und sie kauft ein Leichenhemd. Und wir sehen, dass sie sich etwas vorgemacht hat. Wie ist diese filmische Lösung entstanden? Ist das im Schnitt entstanden?

Jean-Pierre Dardenne: Der Anfang einer Antwort: Wir zählen zu den Regisseuren, die, wenn sie sich entscheiden, etwas zu filmen, zunächst entscheiden, was sie verstecken. Und was die Ellipse betrifft: Am Anfang, als wir begonnen haben, dieses Projekt zu entwickeln… Wir wussten, es würde dabei um die Geschichte einer Hochzeit gehen, die mit dem Verschwinden des Ehemanns enden würde und nicht mit einer Scheidung, wie behauptet werden sollte. Die Frage des Verschwindens würde durch einen Mord gelöst werden. Von Anfang an haben wir gesagt, eine der Herausforderungen bei diesem Film wird diese Ellipse sein, dass man das nicht zeigt, den Moment des physischen Verschwindens der Figur. Und es schien uns interessanter, dass die gesamte Wucht dieses Verschwindens auf den Schultern von Lorna liegt, dass Lorna die Brücke in der Narration herstellt. Claudys Verschwinden erleben wir durch Lorna. Lorna ist die Figur, die wir sehen, wenn sie sich trennen und Claudy auf dem Fahrrad davon fährt. Und dann sieht man wieder sie, wie sie das Leichenhemd aussucht. Ganz langsam führt sie uns dahin, dass wir das Verschwinden Claudys begreifen. Wir glaubten, dass die Tatsache, dass wir sein Verschwinden nicht zeigen, dieses Verschwinden nur umso größer machen würde. Stärker. Und ich denke… Das sind natürlich Erklärungen, die mein Bruder und ich im Nachhinein gefunden haben, dass durch die Tatsache, dass Claudy zwischen zwei Einstellungen verschwindet, es möglich ist, dass er in Form des Kindes zurückkommt, mit dem Lorna schwanger zu sein glaubt. Denn diese Geschichte mit dem Kind, das sie sich erfindet, kam erst sehr spät in der Entwicklung des Films. Ich weiß nicht, ob wir Recht haben oder uns täuschen, aber wir glauben, dass wir diese Idee niemals gehabt hätten, wenn es nicht vorher die Entscheidung gegeben hätte, Claudy in der Ellipse verschwinden zu lassen.

Luc Dardenne: Wie Sie eben sehen konnten, glauben wir an Gespenster.

Jens Börner: Ich habe etwas gelesen, was mich sehr verblüfft hat. In „Le fils“, wo Olivier Gourmet fast nur ein Kostüm trägt, sollen Sie mit ihm vorher bei den Kostümproben 30 unterschiedliche Kostüme ausprobiert haben. Warum macht man so etwas? Welche Rolle spielt das Kostüm bei Ihrer Arbeit mit den Schauspielern für die Entwicklung der Figuren?

Luc Dardenne: Ich glaube, Olivier brauchte nur ein einziges Kostüm. Er ist über den Tod seines Sohnes erstarrt. Er bewegt sich immer in denselben Farben auf der Ebene der Drehorte. Seine Wohnung hat dieselben Farben wie die Werkstatt, wo er arbeitet. Und wir haben uns gesagt: Er braucht nur ein Kostüm. Er ist in Trauer. Er wechselt nicht die Kleidung. Das war eine ganz einfache Idee, auf die wir im Lauf der Arbeit kamen. Sein Leben widmet er den Jugendlichen, die er ausbildet. Mit den Nachrichten auf dem Anrufbeantworter begreift man sehr früh, dass sein Leben beherrscht wird von der Ausbildung, die er diesen jungen, straffälligen Jugendlichen gibt. Es ist ein Mann, der ganz und gar besetzt ist vom Tod seines Sohnes. Und es gibt ein Element… Natürlich musste das Kostüm einen Bezug haben zu seinem Beruf. Er trägt natürlich keinen dreiteiligen Anzug, sondern er trägt die Arbeitskleidung eines Schreiners. Er musste entsprechend Platz haben für sein Werkzeug. Aber es gibt dann noch den Gürtel. Und ich glaube, das hat der Figur ihr Rückgrat verliehen, ihr ihr Aussehen gegeben. Er sieht dadurch auch etwas gefährlicher aus, nicht ganz so wie ein gütiger Vater. Er wirkt nicht so großherzig. Er sieht ja auch merkwürdig aus, wie er durch seine Brille schaut, als hätte sein Blick niemals ein genaues Ziel, was sicher auch daran liegt, wie wir ihn gefilmt haben. Aber ich glaube, der Gürtel hat eine wichtige Rolle gespielt. Wir haben ihn ja auch gleich am Anfang des Filmes benutzt. Dann hatten wir noch die Idee, ihn den Gürtel ablegen zu lassen, um allein seine Gymnastik zu machen. Olivier lebt allein in diesem eigenartigen leeren Raum. Man sieht nur sein Bett, die Werkzeugkiste, das Telefon, das auf einem Stuhl steht. Er hat nicht mal einen Schrank. Und den Gürtel abzulegen und seine Rückengymnastik zu machen, das war wie das Ritual eines Einzelgängers. Etwas, das er allein macht. Und zumindest für uns liegt darin eine Art Anrufung. Natürlich macht er seine Gymnastik. Die braucht er auch, um keine Rückenschmerzen mehr zu haben. Aber es gibt da noch etwas anderes. Es ist wie ein weltliches Gebet, wenn sie so wollen. Dieser Mann würde gerne den Schmerz hinter sich lassen, in dem er sich befindet. Auch deswegen geht er auf diesen Jungen zu, nicht weil er von Geburt aus so ein guter Mensch ist. Er interessiert sich für den Mörder seines Sohnes. Er schafft es nicht zu verstehen, dass sein Sohn tot ist. Und das ist auch völlig normal.

Nicolas Wackerbarth: Ich würde gerne noch kurz nachhaken: Stimmt es, was ich gelesen habe, dass Olivier Gourmet 30 verschiedene Kostüme anprobieren musste? Wo man doch eigentlich denkt, so ein Arbeitskostüm müsste schnell gefunden sein. Ist dieses Wechseln auch schon Teil der Schauspielführung?

Jean-Pierre Dardenne: Sie haben schon auf die Frage geantwortet, sehr gut. Es ist Teil der Regiearbeit und Teil der Schauspielführung. Das ist für uns einer der wichtigsten Momente. Wenn ich etwas überzeichne, dann gibt es für uns zwei zentrale Momente: Das ist die Entscheidung für einen Schauspieler oder eine Schauspielerin. Und dann die Begegnung mit uns, während der Kostümproben. Im Drehbuch ist Olivier mit einem Blaumann in seiner Werkstatt, und ich glaube nicht, dass wir im Drehbuch Hinweise auf einen Kleiderwechsel hatten. Außer vielleicht, dass er seinen Gürtel ablegt. Aber wenn wir die Kostümproben machen, ist noch alles offen. Was würde denn passieren, wenn wir andere Kleider ausprobierten? Ich glaube, wir haben damit nicht viel Zeit zugebracht, aber es wird Sie überraschen: Es gibt sehr unterschiedliche Blaumänner. Wirklich! Wir brauchten einen Overall, der oben eine kleine Tasche hat. Ich glaube, die Szene haben wir rausgenommen, aber wenn er raucht, dann ascht er wie viele Handwerker direkt in seine Tasche, um keinen Schmutz zu hinterlassen und weil es in einer Tischlerei gefährlich ist, glühende Asche fallen zu lassen. Man könnte ja einen Brand auslösen. Aber natürlich ist dieses Herauszögern der Entscheidung für ein bestimmtes Kostüm etwas, was wir ganz bewusst tun. Wir zögern es bis zum allerletzten Moment hinaus. Sicher ist da auch etwas Sadismus dabei in Bezug auf die Schauspieler und die Kostümbildnerin, die uns drängt, wir sollten uns beeilen. Aber ich denke, wir tun das nicht nur deswegen. Dieser Moment der Unschärfe und der Unklarheit ist wichtig für den Dreh, der kurz bevorsteht. So sind die Sachen nicht schon festgelegt und erstarrt.

(Beifall)

Publikum: Sie haben viel von Ihren Figuren gesprochen, vom Drehbuch, aber recht wenig von der Kamera. Die Kamera in Ihren Filmen zeichnet sich durch eine große Nähe zu den Figuren aus. Sie verwenden viel Schulterkamera. Sind das noch Überbleibsel Ihrer Dokumentarfilmarbeit?

Luc Dardenne: Ich würde nicht sagen, dass es einen Bezug gibt, zwischen dem, was wir im Dokumentarfilm gemacht haben und dem, was wir danach in „La Promesse“ gemacht haben. In unseren Dokumentarfilmen gab es eher statische Einstellungen oder langsame Fahrten, vorwärts, rückwärts, seitwärts. Ich könnte jetzt vieles sagen. Ich werde mich auf zwei Punkte beschränken. Bei „Rosetta“ haben wir beispielsweise gesagt, dass die Kamera immer zu spät ist. Denn Rosetta ist ein kleiner Soldat im Krieg, eine Arbeit zu finden. Und sie sieht den Feind und weiß, was zu tun ist, bevor wir es sehen. Wir sind die Reporter, die ihr folgen, die versuchen, ihr zu folgen. Dieser Soldat wird von uns als Kamerateam im „Krieg“ begleitet, wie von Kriegsreportern. Wir haben diese Momente natürlich gebaut – das ist nicht improvisiert! –, wo die Kamera nach links zu gehen scheint, während sie nach rechts geht und wir sie dann wieder einfangen. Oder das Gegenteil. Oder sie macht auf dem Absatz kehrt, und wir sind nicht darauf gefasst und folgen ihr erst mit einem kleinen Versatz. Das zweite ist, dass wir versuchen, dass unsere Kamera in unseren Plansequenzen, die zwischen drei und sechs Minuten dauern, dass unsere Kamera da zwischen den Körpern und dem Dekor ist. Sie soll keine Beschreibung der Körper und des Dekors vor sich sehen. Sie soll immer mittendrin sein. Und sie soll über ihre Bewegung den Zuschauer hineinziehen. Jedenfalls hoffen wir, dass das passiert.

Publikum: Ich habe gestern Abend den Film „Falsch“ von Ihnen gesehen, der auf einem Theaterstück basiert. Gibt es bei den späteren Filmen, die sich sehr von Ihrem ersten unterscheiden, auch so etwas wie eine Theaterreferenz?

Jean-Pierre Dardenne: Mir scheint, die Plansequenz hat etwas zu tun mit einer Darstellungsform, die etwas mit dem Theater gemein hat. Die Dauer der Darstellung entspricht der Dauer der Handlung, die wir gerade filmen. Das haben wir vielleicht vom Theater behalten. Und ich glaube, diese Theatralik stammt bei uns von unserer Zusammenarbeit mit Gatti, der ein Mann des Theaters war, obwohl er auch Filme gemacht hat. Damals waren wir 18 Jahre alt. Das waren unsere Ausbildungsjahre.

Franz Müller: Sie haben gesagt, dass Sie, wenn Sie in den Dreh gehen, sich noch möglichst viel offen halten. Wie viel ist denn im Schnitt noch offen? Schneiden Sie auch manchmal gegen das Drehbuch und tauschen Szenen?

Luc Dardenne: Um mich kurz zu fassen: Ich glaube, es geht vor allem darum, etwas von dem, was gedreht worden ist, wegzulassen. Ich weiß nicht warum, aber wir neigen dazu, in der ersten Hälfte des Films zu viele Szenen, zu viele Einstellungen zu haben. Da schneiden wir also. Und es kommt durchaus vor, dass wir die Reihenfolge von Szenen verändern. Vor allem bei „La promesse“, bei „Rosetta“. Bei „Le fils“ haben wir auch viel weggeschnitten. Aber wir gehen letztendlich von Plansequenzen aus. Und die Plansequenz trägt ihre Montage schon in sich selbst. Man geht von einer näheren Einstellung in eine weitere etc. Und diese Einstellungen geben auch schon einen Rhythmus vor. Wenn ich mir unseren Schnitt vergegenwärtige, dann haben wir vielleicht 110 bis maximal 250 Schnitte mit Anschluss. Nicht mehr. Wir versuchen herauszufinden – Jean-Pierre hat das vorhin schon gesagt –, was wir verstecken und was wir zeigen – was eben davon abhängt, was wir verstecken. Das Schönste, was uns einmal jemand gesagt hat – ich glaube, es war ein englischer Filmkritiker in London, und ich weiß nicht ob er uns damit eine Freude bereiten wollte oder nicht –, war, dass er immer, wenn er einen unserer Filme gesehen hat, das Gefühl habe, zu spät gekommen zu sein. Ein Teil des Films fehlt. Und wir haben uns bei ihm bedankt, weil das genau das Ergebnis ist, das wir erzielen möchten. Wir wollen, dass der Zuschauer etwas rekonstruiert und sucht, dass er Hypothesen bildet und Widersprüche entdeckt.

Jean-Pierre Dardenne: Jemand hat einmal gesagt: Bei den Dardennes hält einer die Kamera, und der andere kitzelt ihn. (Gelächter) Dieser Jemand war Chabrol.

Publikum: Ich würde gerne noch eine Frage zu den Produktionsbedingungen stellen, die Sie heute schon angesprochen haben. Sie haben sehr lange Proben und sehr lange Drehzeiten, auch sehr lange Castings. Wie können Sie das finanzieren?

Jean-Pierre Dardenne: So teuer ist das dann doch nicht. „Lorna“ hat wie viel gekostet?

Luc Dardenne: Vier.

Jean-Pierre Dardenne: Vier Millionen Euro. Von diesen vier Millionen ist ein Teil für die Vorbereitungen reserviert, für die Motivsuche und das Casting. Und weil wir kleine schlaue Jungs sind, suchen wir unsere Drehorte immer ganz nah bei unseren Produktionsbüros. (Luc lacht.) Die meisten technischen Mitarbeiter wohnen ganz in der Nähe unserer Produktionsbüros. Das heißt, wir müssen ihnen weder das Abendessen noch die Nacht im Hotel bezahlen. Wir arbeiten mit wenig bekannten Schauspielern. Deshalb hat Olivier Gourmet immer kleinere Rollen in unseren Filmen, weil er jedes Mal teurer wird. (Gelächter) Und deshalb arbeiten wir auch in Super 16, weil es billiger als 35 Millimeter ist und weil auch Video teurer ist, im Gegensatz zu dem, was man meinen sollte. Wenn man die Gesamtrechnung aufmacht.

Luc Dardenne: Und so können wir dann 13 Wochen drehen.

Jean-Pierre Dardenne: Wir drehen 13 Wochen.

(Beifall)

Das Gespräch führten Jens Börner und Nicolas Wackerbarth im Rahmen von Revolver Live! am 18.11.2009 im Kino Arsenal in Berlin.
Dolmetscherin: Caroline Elias
Transkription: Eva Simminger, Carmen Kuhn
Übersetzung: Jens Börner
Bearbeitung: Jens Börner, Franz Müller

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