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in eigener Sache

Pierre Gras
Good Bye, Fassbinder!
Der deutsche Kinofilm seit 1990

Übersetzt und herausgegeben von Marcus Seibert
Mit einem Vorwort von Christoph Terhechte

Verlagsinformationen: „Die erste umfassende Bestandsaufnahme des deutschen Kinofilms seit 1990 – kommt aus Frankreich!

Nach
der Ära des Autorenfilms von Fassbinder, Wenders und Herzog in den
siebziger Jahren überrascht heute ein neues, facettenreiches deutsches
Kino, dem man auch international mit Interesse begegnet. Der
Filmwissenschaftler und leidenschaftliche Kenner deutscher Filme Pierre
Gras stellt das deutsche Kino seit 1990 in einem klar strukturierten und
gut lesbaren Gesamtbild dar, in dem er einzelne Autoren vorstellt, die
unterschiedlichen künstlerischen Strömungen und Schulen beschreibt, die
diversen politischen und ästhetischen Ansätze sowie die
filmwirtschaftlichen Gegebenheiten der aktuellen deutschen
Kinolandschaft analysiert.

Mit Texten über Tom Tykwer,
Wolfgang Becker, Christian Petzold, Angela Schanelec, Thomas Arslan,
Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg, Valeska Griesebach, Maren
Ade, Fatih Akin, Andreas Dresen, Hans-Christian Schmid, Thomas Heise,
Volker Koepp u.v.a.“

Aus dem Text:

Die
Situation ist paradox: Einerseits haben gerade Petzold, Arslan,
Schanelec und Hochhäusler ihren persönlichen Stil entwickelt, der auch
auf den großen Festivals und international Anerkennung findet. Petzold
und Arslan haben sogar in Frankreich inzwischen eine Fan-Gemeinde bei
den Programmkinobesuchern. Andererseits genießen sie als Propheten im
eigenen Land keine nennenswerte Anerkennung beim deutschen Publikum.
Ihnen schlägt sogar offene Feindseligkeit aus den eher kommerziell
orientierten Teilen der Kinobranche entgegen und nicht selten der Hohn
der Kritiker überregionaler Zeitungen, die gerne die talentiertesten
Regisseure als Intellektuelle verspotten, die unfähig seien, das große
Publikum für ihre Filme zu interessieren. Junge Filmemacher wie
Brüggemann haben sich den offenen Feindseligkeiten inzwischen mit dem
erkennbaren Wunsch angeschlossen, auch ihren Teil vom Kuchen
abzubekommen. Sein Pamphlet Fahr zur Hölle, Berliner Schule
zielt ganz klar darauf ab, den Älteren ihren Platz in der
intellektuellen Landschaft streitig zu machen. In Oh Boy wird an einer
Stelle über die »Berliner Sonderschule« gespottet.

2013
waren deutsche Filme im heimischen Kinomarkt so erfolgreich wie nie
zuvor. Kein einziger der Filmemacher von Deutschland 09 hat davon
profitieren können. Und 2014 ist mal wieder kein deutscher Film in
Cannes eingeladen worden, obwohl mit Fatih Akıns The Cut, Christian Petzolds Phoenix, Christoph Hochhäuslers Die Lügen der Sieger und Andreas Dresens Als wir träumten gleich vier Filme von Regisseuren eingereicht worden sind, die mit anderen Filmen bereits zum Festival geladen waren.

Es
folgt einer erkennbaren Logik, daß viele der genannten deutschen
Filmemacher sich heute in Genres wie Western, Komödie, Historienfilm
oder Thriller versuchen, um der drohenden Starre der eigenen Vorgaben zu
entkommen. Das im Ausland angesehene Etikett Berliner Schule scheint
inzwischen vor allem eine Last für die Beteiligten zu sein. Die
Retrospektive im MOMA in New York Ende 2013 war eine schöne, wenn auch
reichlich späte Würdigung des Phänomens, wenn man den Wendepunkt
bedenkt, an dem sich die meisten Karrieren der in dieser Schau gezeigten
Filmemacher befinden. Das erklärt auch deren Mißtrauen gegen den
Begriff, den keiner von ihnen selbst verwendet und der inzwischen eher
eine vergangene Epoche des deutschen Kinos bezeichnet.

Die
Umstellung, zu der die deutschen Filmemacher gezwungen scheinen, ist
eine Chance. Sie müssen liebgewonnene Positionen verlassen, wenn sie
nicht darin erstarren wollen und somit aufhören, Filme vor allem in
erklärter Opposition zu dem von ihnen abgelehnten kommerziellen und
derzeit so erfolgreichen deutschen Kino zu machen, um zu einer
Erneuerung ihres Kinos zu finden und bestimmte selbst auferlegte
Beschränkungen abzustreifen, die sich inzwischen zu neuen
Kinokonventionen verfestigt haben. Sie müssen zu einem erneuerten
Begriff der Fiktion zurückfinden. Sie haben inzwischen die Möglichkeit,
ihre Filme international zu finanzieren, insbesondere in Koproduktionen
mit französischen Firmen – eine Öffnung hin zu einem vielversprechenden
europäischen Markt, die erlaubt, andere Produktions- und
Verleihzusammenhänge kennenzulernen. Sie sollten durch diese
Koproduktionen nicht im europäischen »Mainstream« untergehen und
weiterhin jeder Tendenz einer Normalisierung mißtrauen, wie sie derzeit
auch große Teile des französischen Kinos lähmt.

(eingestellt von Marcus)