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Traum und Erinnerung an Christiane 1985, in der Reeperbahn 77.

Foto: Katrin Eißing.

 

Den Weg vom Kino nach Hause, auf der ganzen langen Reeperbahn und noch im Treppenhaus stritten wir uns über das Ende des Films. Science-Fiction Klassiker mit Bücherverbrennung, in dem die Rebellen Bücher rezitierend durch einen Winterwald (das Versteck) gingen, den Neuankömmlingen ein Buch als ihr neues Leben gaben. Das sollten sie dann auswendig lernen, um ihr Leben dann also ein Leben lang aufzusagen und den Text vor ihrem Tod an jemand anders weiterzugeben. Die anderen wurden dann auch ein neues lebendes Buch. Ein alter Mann sagte einem kleinen Jungen den Text eines der materiell für immer verlorenen Bücher vor. Der wiederholte es. Welcher Text war das eigentlich?

Oskar Werner jedenfalls verbrennt in FAHRENHEIT 451 von Truffaut als Feuerwehrmann mit einem Flammenwerfer Bücher und nicht zu knapp. Die Leute, die die Bücher unter Lebensgefahr verstecken, kommen ins Gefängnis. Seine Frau liest aus Versehen ein Gedicht und muss dann weinen. Das dient als Beleg für die Schlechtigkeit der Bücher und der Schrift überhaupt.
Ich fand also auf der Reeperbahn gehend, die Wahrheit sei nicht gleich „Wissen”, also eine Art Materialsammlung. Es gab nicht nur in FAHRENHEIT 451 noch keine Computer für alle. Ein Text existierte also noch in den 80zigern nur tatsächlich aufgeschrieben. Ein Foto wurde immer kompliziert und im Dunkeln hergestellt. Ein Film war Licht durch Plastik geschossen. Ich weiß gar nicht mehr, was digital damals bedeutete? Fieberthermometer?

Christiane verkündete, drei Treppenstufen über mir, im hoch angeschlagenen Ton („Ansprache ans Volk”): Die Materie (Wissen/Text als chemische Substanz?) sei das Einzige, was von ihr (der Wahrheit?) kündet und das müssten wir, wie unser eigenes Leben bewahren. Ich meinte ein bisschen auch um sie zu ärgern: die Wahrheit gibt es nicht, schon gar nicht aufbewahrt, wenn nur dann, wenn sie gerade entsteht. Ich dachte damals sowieso ein richtiger Dichter sei auch einer, wenn er nichts aufschreibt. Er produziere nämlich durch seinen Erkenntniswillen so eine Art „Ausdünstung einer Umwandlung” So wie Feuer Qualm zum Beispiel… (Also vielleicht muss man dazu sagen: Jugend der Achtzigern: Punk, Zen, Fluxus, Konzeptkunst, der Künstler der sich in heiligem Nichts auflöst oder totdrogt.)

Christiane wurde richtig sauer: „Diese blöde Hippiekacke”. Sie wollte, die „Wahrheit” als materielle, feste Form sehen können, also ein Buch zum Beispiel eben auch als chemisches Konzept. Bewahren , Aufheben, Weitergeben, in den Dingen sollte die Wahrheit sein. Ich fand das Schreiben und Geschichten ausdenken wichtiger, als dann den ganzen Kram zu lagern. Wir wurden unversöhnlich und schrien uns an. 

C.: „Wie blöd du bist, wir reden hier doch mit Worten! Das ist alles was übrig bleibt von uns! Das was wir mal in diesem beschissenen, beschränkten Code abgeliefert haben.”

K.: „Wieso soll überhaupt etwas übrig bleiben. Menschen haben Bücher geschrieben um sie zu vergessen.”
„Andere lesen sie dann aber, um sie zu bewahren.”
„Wen oder was denn? Die Gedanken? Den Text? Spinnennetze und Bäume vergehen auch und sind viel größer, wieso nicht ein Text?”

Ich wollte sie umarmen.
„Lass mich in Ruhe mit dieser ganzen Gefühlsscheiße. Lass mich bloß in Ruhe damit!!!” Wir hatten uns auf der Treppe einfach missverstanden denke ich heute. Später tat mir meine irre Dickköpfigkeit wahnsinnig leid, weil es eines der letzten Male war, dass wir uns lange unterhalten hatten.
Als ich nach Indien losfuhr rief sie mir in den U-Bahnschacht hinein nach: „Werd wie du bist.” Und ich rief mit meiner kaputten Stofftasche im Arm zurück: „Sei wie du willst.” Vor mich hin dachte ich voller großer und ärgerlicher Liebe: „Christiane muss ja wieder wissen wie ich bin. Arrogante Kuh.”

Es war ein Abschied für immer. Ich kam zurück, wollte sie besuchen und ihre Wohnung in der Reeperbahn 77 (gegenüber vom Club 88) war leer. Was sie in der kurzen Zeit in der sie lebte gezeichnet und aufgeschrieben hatte, ist in der Silbersacktwiete geblieben. Ich wollte den Koffer sehen, aber ich wusste auch nicht wohin damit. Es war auch ein so elend trauriger Ort und N. und eine Stripteasetänzerin zu beschäftigt um den Dachbodenschlüssel zu finden.
Und was auch so ist, wenn ich das hier aufschreibe, kann ich ihre Stimme hören.

Katrin Eissing