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Interview: Hans-Jürgen Syberberg

“Man muss so tief in die Wunde gehen, dass man in Verdacht gerät.”

Revolver: Sie haben einmal behauptet, die Irrationalität sei eine der größten Stärken deutscher Kultur, eine Stärke, die verlorengegangen sei. Was ist aus diesem Gedanken geworden?

Hans-Jürgen Syberberg: Der Begriff der Irrationalität, der mich vor über 20 Jahren, als ich den Hitlerfilm gemacht habe, sehr beschäftigt hat, ist für mich heute nicht mehr aktuell. Ich habe das Gefühl, dass diese Idee durch die gegenwärtige Realität überholt worden ist. Aber damals, nach ’68, war das ein wirkliches Thema, Brennstoff, wenn man das Wort nur in den Mund nahm. Ich bin damals einfach von der Frage ausgegangen, was der Gegenbegriff zur herrschenden Realität sein könnte, der Gegenbegriff zur Aufklärung, die damals so groß in Mode war. Und so kam ich zur Irrationalität. Wenn man sich geistig entwickeln will, muss man ja immer andersherum denken – das, was auf dem Markt gerade gehandelt wird, umkehren. Und ich merkte bald, wie fruchtbar das war, wenn man bestimmten Phänomenen speziell in der deutschen Geschichte begegnen will. Und es ist sehr produktiv, wenn man versucht, ästhetische Kategorien dafür zu finden. Die Gestaltung und Nachgestaltung des Lebens mit künstlichen Mitteln ist ja immer der Versuch, die Realität in den Griff zu kriegen. Es geht ja in der Kunst nicht darum, Leben einfach zu reproduzieren. Das tut man ja sowieso, indem man sich fortpflanzt und sein Leben lebt. Aber wenn man eine Form finden will, und zwar so, dass man Leben versteht, dass man sich darüber erhebt und es erhöht, dann wird man versuchen müssen, solche Begriffe zu fassen.

Ist das ein Plädoyer für den artifiziellen Film?

Im Film ist natürlich alles in dem Sinne artifiziell, also gemacht, als dass man Leben festhalten will. Im Augenblick interessiert mich der Gebrauch der neuen Techniken sehr und diese neuen Techniken erlauben beinahe die 1 : 1 Dokumentation dessen, was man um sich hat. Man braucht kein besonderes Licht, kein Team um sich herum, man kann also eigentlich überall aufnehmen. Ich kann mich mit einer kleinen Kamera ins Theater setzen – was ich schon gemacht habe – oder ins Kino, wenn der Film nur einmal zu sehen ist auf einem Festival. Manche werden sagen, das ist ein großer Verlust. Ich finde, es kommt darauf an, was man damit macht, denn einen Bleistift und ein Stück Papier hat ja auch jeder zur Hand, aber nicht jeder ist ein Brecht oder Benn.

Ihre Filme gehen sehr weit weg von der Illusionsmaschine Kino, die den Zuschauer in einer Voyeursposition miteinbezieht. Viele ihrer Filme versuchten eine Art episches Kino im Sinne Brechts zu verwirklichen, ganz und gar antirealistisch.

Wenn Sie die Filme ganz genau anschauen, dann sehen Sie, dass sie sehr einfach gemacht sind, und zwar nicht nur, weil so wenig Geld da war. Diese Filme setzen sich aus dem einfachsten zusammen, was es gibt. Zum Beispiel die Aufzeichnungen von Hitlers Diener, das ist das Einfachste, was man an Trivialliteratur, auch an Realliteratur finden kann. Ein Dienstbotenbericht. Dann habe ich dazu die Umwelt, von der er berichtet, projiziert. Das war billig, weil die Realität ja nicht mehr existierte. Aber dadurch, dass ich ihn da hineinstelle, bekommt die Erzählung einen Wert, der über das Realistische hinausgeht.

Der Film hat Mittel, Dinge sehr real darzustellen, überhaupt Dinge sichtbar zu machen, was im Theater oder auch im Roman so nicht möglich ist. Aber sobald ich schneide, muss der Zuschauer Bilder überbrücken, also eine gedankliche Verbindung herstellen. Mit diesen Verbindungen arbeitet der Film von Natur aus, weil der Eindruck von Bewegung erst durch die schnelle Abfolge stehender Bilder entsteht. Film ist also von Anfang an ein Medium, das mit Täuschung arbeitet, mit einem Fehler des Auges. Aber aus diesem Fehler heraus hat man etwas gemacht, aus einem Nachteil wurde ein Vorteil. Und so arbeitet Film immer, wenn er klug ist.

Mein Film “Ludwig” wurde zum Beispiel im Studio in zehn Tagen gedreht, zur selben Zeit wie Viscontis “Ludwig II”, und lebte dann auch davon, dass ich das Budget nicht hatte und in den Schlössern nicht drehen konnte und dann auch nicht wollte. Durch die Künstlichkeit der Projektionen konnte man etwas herstellen, was Visconti mit 12 Millionen nicht schaffte. In die Projektionen von Zeichnungen der unrealisierten Schlösser, die die Idee des ganzen Universums Ludwig besser als jede Realität zeigen, habe ich dann Leute gestellt, größtenteils Laien, darunter auch Rocker. Damals wurde das in Paris als der interessantere Ansatz empfunden. Mein Film appellierte an den Geist des Zuschauers. Auch die Leute in Frankreich, die ja mit der Geschichte weniger vertraut sind als wir, merkten sofort, das ist mehr Realität, als das, was Altmeister Visconti damals mit viel Aufwand nachzustellen versuchte. Mehr Realität im Sinne einer Überhöhung. Ich habe Ludwig zu der Opernfigur gemacht, die er in gewisser Weise war, der letzte König der abendländischen Geschichte. Ich wollte einen Film machen, in dem man nicht nur etwas liest oder entdeckt, sondern durch den man auch manches versteht …

Sie arbeiten mit einer Fülle von Referenzen, Quellen und Verweisen …

Ich bin – man kann sagen leider – nach meinen ersten Versuchen mit Film und Theater auf die Universität gegangen und habe dort die Zeit genutzt, mir sehr viele Quellen zur Geschichte anzueignen. Ich habe Lehrer gehabt, die darauf sehr viel Wert gelegt haben. Hinzu kam meine Brechtsche Schule. All das zusammen hat bewirkt, dass ich die Dinge gerne von vielen Seiten untersuche, also weniger Geschichten erzähle als Geschichte. Man kann schon sagen „erzählen“, aber im Grunde entsteht da ein Muster aus Bildern und Tönen, unterteilt in verschiedene Kapitel. Das war damals die Phase, in der ich versucht habe, kaleidoskopartig Geschichte darzustellen. Nach dem Hitlerfilm habe ich das ja dann abgebrochen – man kann sagen, dass der Parsifal noch so ein letzter Ausläufer war, aber schon nicht mehr so ganz. Diese Dinge habe ich hinter mir. Heute interessieren mich andere Sachen.

Wenn man sich den Hitlerfilm heute anschaut, dann fallen einem viele Bezüge zur heutigen Kunst ein, Cindy Sherman, Anselm Kiefer oder auch Filme von Regisseuren, die ihre Filme sehr mögen, z.B. Coppolas “One from the heart” oder Lars von Triers “Europa”. Filme, die den Versuch machen, diese Künstlichkeit und diese Techniken – Rückprojektion z.B. – in das populäre Kino hineinzunehmen.

Ja, man kann mit dieser Technik sehr viel machen. Aber man ist ja auch ein Forscher, wenn man sich in der Nacherzeugung von Realität übt – und das heißt natürlich auch, dass man Dinge hinter sich lässt. Natürlich kommt es vor, dass man in seinem “Forschungslabor” etwas erfindet, das andere dann aufgreifen – oder ihre Systeme darauf aufbauen. Manchmal übernehmen sie etwas und verändern es so sehr, dass ich erschrecke. Wo ich denke, ja das kommt daher, das war doch ganz anders gemeint. Was mich betrifft, so gehe ich immer wieder einen anderen Weg, mit dem Risiko, Freunde zu verlieren, die mit der alten Sache noch zufrieden sind. Und dann muss man abwarten, bis das verstanden wird, und es wird oft erst verstanden, wenn ich schon wieder woanders bin.

Überrascht war ich von der Resonanz bei der Documenta in Kassel. Ich habe nicht erwartet, dass das von so vielen verstanden wird. Ich habe da einen Raum gemacht mit einunddreißig 60-Minuten-Filmen, die zusammen einen Film ergeben. Und dieser eine Film ist der Raum, durch den man hindurchgeht. Aber in der Weise, dass man, wenn man sich gehend bewegt, nach allen Seiten hin hörend und sehend etwas mitgeteilt bekommt. Man kann stehenbleiben oder weitergehen, den Raum verlassen oder wiederkommen. Es wiederholt sich dann nach einer gewissen Zeit, aber es läuft immer weiter und je nachdem, wo man dann gerade wieder anfängt, ist man an einer anderen Stelle. Das ist eigentlich eine ganz seltsame Situation, in die man sich begibt. Man spricht ja gerne von dem Film des Lebens, der vor einem abrollt. Eigentlich ist es das, was ich da gemacht habe. Die Idee von meinem Film ist eigentlich nicht die, dass man irgendwo starr hinschaut und da wird etwas projiziert. Ich entscheide, wo ich hingehe, wo ich stehenbleibe und wie ich das kombiniere. Dieses Kombinieren ist eigentlich der Film.

Stichwort “Interaktiver Film”. Inwieweit sollten die Zuschauer Einfluss nehmen können auf das, was im Film geschieht?

Naja, das tun sie insofern, als dass sie sich je nach Interesse da- oder dorthin bewegen. Sie sehen den Film wie im Auto die Landschaft: sie können darauf Bezug nehmen oder nicht. Natürlich ist der Raum festgelegt. Aber sie können sich auch mit dem Nachbarn unterhalten, es ist ja relativ laut, sie stören niemanden. Und sie können aussteigen, das können sie im Kino nicht.

Aber die Konzentration des Kinos geht verloren in einer solchen Anordnung.

Nein, das ist eben der Unterschied. Es gibt die technische Anordnung, wie ich sie eben beschrieben habe, ja auch bei Anderen – zum Beispiel bei Pipi Lotti Rist. Die macht auch Räume, in denen man sich bewegt, und sie benützt dafür irgendwelche präfabrizierte Sachen. Das ist – und darauf legt sie Wert – relativ bedeutungslos. Technisch ist es sehr ähnlich, aber gedanklich ganz anders. Bei mir sehen Sie das, was ich will, was Sie sehen sollen, nur können Sie entscheiden, an welcher Stelle Sie stehenbleiben. Aber wenn Sie der Sache folgen, dann ist das sehr organisiert, nicht beliebig.

Im konventionellen Film ist es ja so, dass klar organisiert ist, wann ich etwas sehe. Diese Chronologie gibt es in Ihrem Filmraum nicht mehr.

Ich empfinde das aber auch als Zumutung. Sie kennen das: Sie sitzen in einem Konzert, und plötzlich sind Sie weg und denken an etwas ganz anderes. Ich finde das schön. Man macht Kombinationen mit eigenen Erfahrungen, davon lebt das Ganze. Alles lebt davon, dass Sie selber etwas dazutun müssen.

Es gibt Filme, in denen das Verhältnis zwischen Zuschauer und Regisseur beinahe diktatorisch ist. Und es gibt andere, zum Beispiel Ihr Hitlerfilm, bei dem ich das Gefühl habe, es ist mir erlaubt, diese Geschichte wichtiger zu nehmen als jene.

Natürlich, manche Actionfilme lassen überhaupt nichts zu und zwingen einen nun wirklich in die Schnittfolge, und das hat man dann gern oder weniger gern. Aber auch bei “Hitler”, wenn Sie den Film überhaupt annehmen, sind Sie im Untergrund Ihres Bewusstseins sehr stark gefordert. Sie müssen immerfort überlegen und wenn Sie meinen: “Aha, jetzt weiß ich, wie es läuft”, dann mache ich meistens etwas ganz anderes. Ich entlasse Sie da eigentlich gar nicht so sehr.

Sie haben damals mit einem beeindruckenden Zorn gefordert, man müsse sich von der Schuss-Gegenschuss-Diktatur befreien und den Film als “Musik der Zukunft” begreifen.

Ich habe auch da wieder nachgedacht und mich gefragt, was im Konzert der Völker eigentlich die Stimme Deutschlands sei. Und so bin ich auf die Musik gekommen. Hollywood steht für das erzählerische Kino, das machen die ganz gut, Frankreich und Italien für eine bestimmte Realitätsnähe – wir könnten die Ästhetik des Films pflegen, die der Musik entspricht. Da gibt es sehr viele Möglichkeiten. Man kann viele Instrumente zusammenbringen oder man kann in ein Instrument alleine einen ganzen Kosmos legen. Wenn sie genau nachdenken, welche deutschen Filme besonders interessant waren und sich unterschieden haben von anderen, dann waren das in ihrer Machart sehr stark musikalische. Das ist unsere Chance. Man braucht nicht sehr viel Geld, aber man müsste sich von Vielem freimachen, was heute auf dem Markt geschieht. Und das sehe ich überhaupt nicht. Weder im Fernsehen noch in den Förderrichtlinien, in der Finanzierung oder in der späteren Prämierung. Es würde bedeuten, dass man total anders denkt.

Wie könnte ein musikalischeres Fernsehen aussehen?

Man könnte ganze Theaterabende live aufnehmen, mit einer kleinen Kamera, wie ich sie hier habe (Mini-DV), auf den Knien, in der ersten oder zweiten Reihe. Und ich würde dann zuhause die Aufführung durch das Auge einer bestimmten Person sehen, ein besonderes Auge, ein kluges, das mit seinem Blick schon kommentiert  – das könnte man technisch alles machen, das wäre viel billiger, viel authentischer, viel schöner. Auch die dokumentarische Berichterstattung könnte man ganz anders machen. Es ist heute immer noch so, dass mit einer elektronischen Kamera ein ganzes Team anrückt, obwohl es auch einer alleine machen könnte. Das wäre viel besser. Zum Beispiel die Berichterstattung im Kosovo, wenn man da hinter die Kulissen schaut, dann ist das immer ein Kameramann, ein Tonmann und einer, der kommentierend davor steht. Das führt letzten Endes dazu – was ja auch passiert ist – dass die nachts schlafen und während der Nacht werden 30 000 Menschen weggebracht und am nächsten Morgen weiß keiner, wo die abgeblieben sind. Selbst wenn der Reporter gut ist, kann er nichts machen, weil er die Kamera nicht bei sich hat. Die Möglichkeiten, die uns die Technik heute gibt, werden nicht genutzt.

Sie fordern also, nicht zuletzt für die Berichterstattung in Krisengebieten, dass die Macher mit ihrem Werk leben.

Das würde ich schon verlangen. Das gibt der mir auch vor, wenn er vor der Kamera steht und mir etwas erzählt. Aber er tut es nicht und kann es fast gar nicht, weil es das System seiner Aufnahme nicht zulässt. Wenn er die Kamera alleine hätte, wäre er schon besser. Am besten wäre, andere Leute hinzuschicken. Zum Beispiel Handke, der läuft da jetzt im Kosovo herum und schaut sich auf der serbischen Seite um und lässt sich dort abfilmen – aber eine Kamera hat er bestimmt nicht dabei. Das wäre natürlich sehr schön, wenn er sich nicht ablichten ließe, sondern die Kamera selbst in die Hand nähme und filmte, aus seiner Sicht, die sehr konträr und persönlich ist. Aber warum gibt ihm die keiner? Warum geht keiner hin und sagt: “Hier, nimm sie, wir senden das, Du kannst machen, was Du willst. Du musst gar nicht sprechen, nur schauen!” Ich will sein Auge sehen. Man könnte auch noch weiter gehen und sagen: “Du bist in Belgrad, wo andere gar nicht hinkönnen, plädiere für Deinen Mandanten! Aber wir hätten auch den Wunsch, die andere Seite zu sehen, nimm doch auch ein Lager auf.” Erstaunlicherweise hält kein Mensch den Kontakt aufrecht und macht das. Das ist technisch alles möglich. Ein Laie kann mit so einer Kamera umgehen.

Man will sich heute aus allem heraushalten, objektiv sein.

Das ist ja der Irrtum. Diese “Objektivität” ist ja eigentlich das Dilemma.

Eine Guerillataktik brächte nicht unbedingt mehr Information.

Nein, aber es wäre die Chance für ganz besondere Blicke. Wie wäre das, wenn etwa der Kluge dahin führe? Wenn ich dort wäre, würde ich schon innerhalb von 24 Stunden etwas anderes zeigen, als das, was wir täglich sehen.

Politisches Denken ist im Film zu einer Randerscheinung geworden.

Ich finde das eigentlich gut. Es muss ja nicht so billig werden wie im deutschen Film heute. Aber das direkte Plädoyer für eine Frage der Zeit finde ich langweilig. So Sachen wie “Deutschland im Herbst”, das war ja ganz schön, aber eigentlich nicht sehr produktiv, weil es dazu verführt, letzten Endes political correctness abzusondern. Wenn jemand direkt politische Filme machen will, ist die Gefahr natürlich groß, dass er Angst bekommt wegen seiner Gelder und sich wegduckt. Oder dass er ein Bekenntnis abgibt, selbst in der Protesthaltung. Das war ja das Verführerische, die Falle der 68er, dass der Widerspruch schon wieder uniform wurde. Vorher durfte man nicht widersprechen, jetzt musste man. Und wer mit Scheiße geworfen hat, war plötzlich ein Künstler, weil er widersprochen hat. Und die, die beworfen wurden, haben das auch noch finanziert, weil sie dadurch gezeigt haben, wie frei sie sind. Diesen Zwang, der sich da einstellt, diesen Mechanismus, dass der Beste ist, wer am besten stinkt, finde ich lächerlich. Das führt ja zu noch mehr Verkrüppelung. Denn der Widerspruch muss doch da kommen, wo es wirklich weh tut. Aber wenn sich der Protest von den Herrschenden finanzieren lässt – das ist pervers. Da wird politische Kunst unglaubwürdig. Sie ist für mich nur glaubwürdig, wenn sie etwas riskiert. Man muss so tief in die Wunde gehen, dass man in Verdacht gerät.

Nochmal zum Film als Musik der Zukunft. Was hat das mit der neuen Technologie zu tun?

Sehr viel. Man kann Filme wie Musik machen, auch größere Filme – mit der selben Freiheit und Einfachheit. Zum Beispiel diesen Raum in Kassel – das habe ich alles selbst aufgenommen, ohne Kameramann, ohne Assistent. Gut, ich musste dann an den Avid gehen mit jemanden, der das kann. Aber das war die einzige Mithilfe – gemacht war der Film von mir ganz alleine. Wenn ich irgend etwas brauchte, bin ich in die Bibliothek, habe mir ein Buch bestellt und habe das einfach Seite um Seite abgefilmt, neben den anderen, die gelesen und Notizen gemacht haben. Alles unerlaubt natürlich. Rechtlich kommt man da gar nicht nach. Oder ich habe Kataloge benutzt, Troja in Moskau … der Memelingaltar in Danzig – ich bin nicht hingefahren, sondern habe in Großaufnahme von schlechten Drucken abgefilmt, nach der Musik im Kopfhörer, Requiem, Mozart. Der ganze Raum war so – mit der eigenen Hand gemacht. Na gut, die Leute haben nicht realisiert, wie das hergestellt wurde, aber das ist auch nicht wichtig. Ich muss auch die Partitur nicht lesen können, um zu hören, dass die Musik gut ist. Ich glaube, es wird noch lange dauern, bis diese Möglichkeiten hier wirklich wahrgenommen werden. In den Schulen, im Fernsehen oder auch im Museumskontext. Den Kassel-Film kann ich zwar jederzeit rekonstruieren, aber wer gibt mir den Raum? 12 x 30 Meter, solche Räume werden in Museen anders besetzt. Dieser Kunstkontext ist aber auch heikel, denn strenggenommen ist das ja keine Videoskulptur, so wie Bill Viola das macht, sondern eine neue Möglichkeit, mit Film zu arbeiten.

Es überrascht mich, dass Sie im Film eine solistische Kunst sehen. Gehört es nicht zu den großen Vorzügen des Mediums, dass man gemeinsam arbeitet?

Ich bin in einem Alter, in dem ich diese Gesellschaft nicht mehr so sehr suche. Außerdem ist es eine Geldfrage. Aber man könnte durchaus auch anders arbeiten. Und ich habe früher im Gegenteil sehr dafür gekämpft – in meiner frühen, kämpferischen Phase – dass man ähnlich wie bei der UFA oder DEFA stehende Teams schafft, Gruppen von Menschen, die zusammenbleiben. Ich war ein großer Förderer von solchen Organisationseinheiten wie beim Theater. Mal ein anderes Drehbuch, mal ein anderer Regisseur, aber die Gruppe bleibt zusammen. Das hat nun unser System nicht zugelassen, auch vielleicht, weil man von der UFA weg wollte und die DEFA ein Schreckgespenst war – aber deswegen muss es ja nicht ganz schlecht gewesen sein. Ich könnte mir vorstellen, dass das sehr viel Spaß macht, in solchen Gruppen zusammenzuarbeiten, noch viel mehr, als es heute der Fall ist, wo das immer so fluktuiert und es auch so furchtbar teuer ist. Wenn man sich vorstellt, dass Eisenstein oft über Jahre an einem Projekt gearbeitet hat!

Es kommt ja auch niemand auf die Idee, die Philharmoniker für jedes Konzert neu zu gründen. Ich glaube, Diskontinuität ist eines der größten Probleme des deutschen Films.

Ich springe darüber hinweg, indem ich anders denke. Man müsste die neuen technischen Möglichkeiten produktiver einsetzen, und zwar so, dass andere etwas von uns haben und etwas lernen können. Man müsste etwas erfinden, wo wir schneller und beweglicher sind, als die anderen.

Dieses Bewusstsein für einen gemeinsamen deutschen Film scheint mir in unserer Generation kaum mehr vorhanden.

Aber es ist doch so: Hollywood ist ein amerikanisches Produkt, auch wenn Leute aus anderen Ländern dort arbeiten. Aber wir sind hier. Also müssen wir immer wieder darüber nachdenken, wo unsere Stärken liegen. Genau wie ich meine, dass Mann und Frau verschieden sind und verschiedene Stärken haben. Und wenn man gut sein will, muss man seine Stärken kennen.

Sehen Sie im Fernsehen – mit all den Kanälen, die uns noch erwarten – Chancen für die neuen Techniken?

Erstaunlicherweise geht das Fernsehen auf diese Dinge nicht ein. Obwohl das Fernsehen immer mehr Sendemöglichkeiten hat, hat es immer weniger Sendeplätze. Dabei wäre es so einfach. Ich habe zum Beispiel einen Film gemacht, der auch in Kassel lief – den könnte ich mir auch im Fernsehen vorstellen, aber ich finde dafür keinen Freund. Und zwar habe ich einfach eine handgeschriebene Partitur von Mozart genommen, immerhin die letzte, das Requiem, und habe dann eine Pianistin gebeten, diese Partitur auf ihrem Klavier mit dem Finger mitzulesen. Und dann habe ich die kleine Kamera genommen und ganz einfach bei Tageslicht die Partitur Note für Note nach eingespielter CD gefilmt. Wort für Wort, Note für Note, immer mit dem Finger auf dem lateinischen Text und je nachdem, ob es nun der Chor war oder die Solisten, ist sie dann mal zum Bass, mal zum Alt gegangen. So haben wir die ganze Partitur, 45 Minuten, aufgenommen. Das ist ganz schnell gegangen, das hat nicht länger gedauert als eine Stunde. Und das ist phantastisch, man hört die Musik und versteht etwas, was man sonst nicht versteht. Man sieht die Handschrift Mozarts, das letzte, was er geschrieben hat, krank im Bett, kurz vor seinem Tod – das kann man im Konzert nicht. Nirgendwo kann man das sonst, das kann ich nicht einmal zuhause so gut. Eine so einfache Idee – sendet keiner. Die verstehen gar nicht, was ich sage. Langweilige Übertragungen senden sie, da sieht man diese aufgeblasenen Gesichter mit ihren Instrumenten – das ist doch langweilig. Ich sage gar nicht, dass es schlecht aufgenommen ist, aber vom Konzept her langweilig.

Ich finde es charakteristisch, dass solche Sachen nur noch im Kunstkontext funktionieren.

Leider. Das ist ein Verlust für den Film. Das liegt aber auch daran, dass es an Filmhochschulen nicht gelehrt wird und nicht finanziert wird durch die Millionen der Filmförderung, obwohl das Geld da wäre. Es gibt ja noch nicht einmal die Möglichkeit, elektronischen Film vorzuführen – das ist völlig ausgeklammert. In den Filmmuseen ist alles Teufelszeug, was nicht Zelluloid ist.

Es ist ja auch in der Kunst so, dass sich nur wenige Kunstrichtungen beim Publikum durchgesetzt haben, während andere – wie zum Beispiel die Konzeptkunst – extrem unpopulär blieben.

Aber bei 30 Kanälen müsste es eigentlich Möglichkeiten geben. Ich glaube, dass es schon Leute gibt, die sich dafür interessieren würden. Was über Lars von Trier in Eurem Heft zu lesen war, hat mir Mut gemacht. Dass es auf der Welt noch andere Leute gibt, die ähnliche Gedanken haben.

Ich glaube, ein Hauptproblem sind die Zuschauer, die eine wirklich inhaltliche Auseinandersetzung nicht mehr leisten können oder wollen.

Ja, das habe ich auch gedacht. Ich war verzweifelt über die Situation der Menschen, nicht nur der sogenannten Entscheidungsträger in den Medien und Förderungssystemen, sondern auch der Leute im Mittelfeld, die für sich selbst konsumieren. Und dann war ich überrascht in Kassel. Ich habe das Gefühl, dass die Leute doch viel freier und intelligenter sind, wenn man sie lässt. Man lässt sie einfach nicht. Die Bevormundung ist so stark.

Herzog sagt, er könne in Deutschland nicht arbeiten, weil es hier keinen Mut, keine Ideen, kein Leben mehr gäbe.

Naja, ich spiele nicht mehr mit. Es gibt wenig Antrieb, mich einzumischen. Das letzte Buch, das ich gemacht habe, das habe ich nicht mehr herausgegeben. Ich habe nur mehr einen Selbstdruck gemacht, ein paar Exemplare für Freunde … Nicht, weil es so brisant gewesen wäre, sondern weil es so gut wie nichts bewirkt, auch nicht im Sinne einer produktiven Gegnerschaft. Von mir erfährt eigentlich kaum mehr jemand etwas. Herzog ist nach Amerika gegangen und ich gehe weg, indem ich dableibe, in meinen vier Wänden.

Was ist Film für Sie?

Der Film arbeitet sehr stark mit den Schaltvorgängen im Gehirn. Ich sehe etwas und reagiere darauf. Ich bekomme etwas geliefert und muss damit umgehen. Die Kunst und auch der Film leben von Fehlern. Aber es geht nicht nur um Korrektur und Ausbesserung, sondern um das Meistern der Krise. Und diese schöpferische Kraft, die aus der Bewältigung der Tragödie entsteht, genießen wir. Das ist es, was wir dann als menschliche Glanzleistung wahrnehmen. Das Handwerk ändert sich, die Technik erneuert sich, aber dieser Kern bleibt.

Was haben Sie als nächstes vor?

Ich verwalte meine Dinge. Als nächstes zeige ich ein paar Filme aus Kassel in New York und Buenos Aires. Ich bin gespannt, wie das wirkt, denn für die normale Kinoleinwand war es ja eigentlich nicht gemacht. Und für mich mache ich allerhand. Das erwähnte Oskar Werner-Buch zum Beispiel, “Letzte Dinge” heißt es. Ich könnte mir noch immer riesige Projekte vorstellen, nur will es keiner. Die Berliner Debatte um den Wiederaufbau des Schlosses interessiert mich. Ich könnte mir vorstellen, dass man genau an der Stelle einen großen schwarzen Kubus mit Projektionsräumen baut. Die ganze preußische Geschichte in Form von Projektionen, ein virtuelles Preußen.

Wie wichtig ist Anerkennung für einen Künstler?

Eigentlich wesensbestimmend. Aber auch die Legende ist etwas. Das heißt, nicht in der Realität, sondern in der Virtualität zu existieren.

Was würden Sie angehenden Filmemachern mit auf den Weg geben wollen?

Man muss die Systeme wieder ändern. Kino ist für mich heute fast wie Theater, tot. Man wird in eine Form gezwängt, die nicht das Leben ist. Es gibt auch heute noch schöne Filme, aber die Leute, auch die Zuschauer, sind in einem engen Korsett. Menschen, die im Dunkeln 90 Minuten in eine Richtung schauen – das ist alles sehr eng, wenn man an die Möglichkeiten denkt, die die Technik bietet. Film kann viel mehr. Ich finde, man sollte immer die Chancen bedenken, die nicht Hollywood heißen. Sucht Euch eine Produktionsweise, eine Technik, die nicht konkurriert, außer in der Qualität. Und dann würde ich einfach lebendig sein und wahnsinnig frech auftreten.

Das Interview führten Benjamin Heisenberg, Christoph Hochhäusler und Sebastian Kutzli am 30.04.1999 in München. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler. Mitarbeit: Tamara Danicic.

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