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Interview: Michael Haneke

Revolver: Sie schreiben gerade an einem Drehbuch. Wie gehen Sie vor?

Haneke: Es gibt ja immer nur Ausnahmen. Meistens fange ich erst an zu schreiben, wenn ich die Geschichte komplett strukturiert habe und ändere dann beim Schreiben relativ wenig. Die Struktur herzustellen, das ist die unangenehme Arbeit. Das Schreiben ist angenehm, das geht viel schneller. Aber wenn ich jetzt so aus dem Nähkästchen plaudern soll – wie kommt man dazu? Man hat irgendwelche Ideen und die sammelt man. Ich schreibe mir die zusammen, über Monate und Jahre hinweg. Und wenn ich das Gefühl habe, genug Material zu haben – dann setze ich mich hin und beginne. Es ist eine Gefühlssache, wann es genug ist. Zum Beispiel bei diesem Film habe ich vielleicht nicht genug gesammelt, deswegen ist die Schreiberei jetzt so mühsam. Aber im allgemeinen ist es so, dass ich ab einem bestimmten Punkt das Gefühl habe, dass das Material reichen müsste – ohne genau zu wissen, wie es gehen wird. Und dann fange ich eben an zu strukturieren. Ich schreibe alles auf kleine Zettel, also die klassische Methode. Die picke ich dann auf ein schwarzes Brett und bastle lange herum. Ich mache eine Abfolge, die ändere ich und das ist eigentlich die Hauptarbeit.

Sie schreiben alleine?

Ja. Ich bin leider ungeeignet für Kooperationen. Ich habe zweimal in meinem Leben mit einem Autor zusammen gearbeitet. Einmal mit Peter Rosei, dessen Roman „Wer war Edgar Allen?” ich adaptieren wollte. Das war ein Fernsehfilm, ich weiss nicht, ob sie den mal gesehen haben. Der hatte selbst ein Drehbuch geschrieben und ich habe gesagt: So geht’s nicht. Und dann habe ich alles umgeschrieben. Das war für ihn sehr unangenehm, was ich mir auch vorstellen kann, schliesslich ist das sein geistiges Eigentum und dann komme ich daher und mache damit, was ich will. Das andere Mal war auch ein Projekt, das von jemand anderem kam. Schlussendlich lief es darauf hinaus, dass ich die Version gedreht habe, die ich geschrieben hatte – weil das Projekt vom Produktionsablauf so vorprogrammiert war, das es gemacht werden musste. Und das war für den Autor nicht sehr lustig, denn es war nicht, was er wollte. Nach diesen Erfahrungen habe ich gesagt: Es ist sinnlos. Ich kann nur mit meinem eigenen Kopf denken und nicht mit dem Kopf eines Anderen. Ich bin da zu unflexibel offenbar.

Welche Rolle spielt Recherche in Ihrer Arbeit?

Das kommt darauf an, was Sie unter Recherche verstehen. Wenn Recherche heisst, ich mache einen Film über Araber und recherchiere in dem Umfeld, dann ist das klar. Das ist eine Voraussetzung. Für mich war es bei „Code: Inconnu” eine Ausnahme, weil ich eben Welten, oder Weltausschnitte zu beschreiben hatte, die mir völlig fremd waren und da habe ich mich halt ein paar Monate hingesetzt und recherchiert, so gut ich konnte. Das Problem bei Recherche ist immer, das es schwer ist zu wissen, wann man aufhören muss. Man kann in Recherche ertrinken. Dann weiss ich so viel, aber ich weiss nicht mehr, wie ich den Film mache… Alle meine anderen Filme habe ich ohne Recherche gemacht, weil ich überall nur Sachen beschreibe, die ich zu kennen meine. Ich sage immer – wenn mich die Journalisten löchern: „Wie stehen sie zum Sadomasochismus…” – ich muss kein Mörder sein, um Richard III zu inszenieren.

„Die Klavierspielerin” ist für mich ein Film, bei dem es weniger um die Geschichte ging, als um eine – gewissermassen aussersprachliche – Erfahrung. Wie wichtig ist Ihnen die Geschichte? Sehen Sie sich als einen Geschichtenerzähler?

Na ja, ich komme noch mal zu der Frage zurück: Wie schreibt man? Ich kann das nicht generalisieren, aber ich gehe erst mal nicht von Geschichten aus, sondern von einem Thema, das mich interessiert, oder von irgend einer Erfahrung, die mich bewegt hat. Es kann auch eine Konstellation oder nur eine Szene sein, wo ich sage, die würde ich gerne machen, da muss ich jetzt eine Geschichte dazu erfinden, damit ich das erzählen kann. Also die Geschichte ist dann nur das Transportmittel, um das, worum es eigentlich geht, zu erzählen. Deswegen ist die Konstruktion ja auch so schwierig, weil ich mir alles aus den Fingern saugen muss, damit herauskommt, was ich erzählen wollte.

Mein erster Kinofilm – das war „Der Siebente Kontinent” – basierte auf einem alten „Stern”-Artikel über eine Familie, die sich in ihrer Wohnung eingesperrt hat, dort alles zerstört und dann Selbstmord begangen hat. Was mich fasziniert hat, war nicht, dass sie sich umgebracht haben, sondern der Gedanke: „Mach alles kaputt, was Dich kaputt gemacht hat – und dann mach Dich selber kaputt”. Das hat mich fasziniert, das fand ich eine geniale Metapher. Ich wollte nicht recherchieren, weil ich keinen individuellen, sondern einen paradigmatischen Fall erzählen wollte. Ich habe in Griechenland geschrieben und habe mich drei Monate gequält. Ich wollte den Film in Rückblenden erzählen und habe dauernd lauter unglaubliche Sachen für die ganze Familie erfunden, für jeden eine Biographie usw. Und dann gab es immer die Frage: Wo setzt Du jetzt diese Rückblende ein? Also der eine macht das und das, nimmt, was weiss ich, dieses Glas in die Hand – und Puff! Assoziation! Jetzt kommt das und das. Der Witz war, dass jede Rückblende automatisch eine Erklärung wurde. Ich habe dann die Rückblenden so ausgetüftelt, von hinten durch die Brust ins Auge, dass sie in keinem Fall erklärend waren, also immer ganz gegen den Strich gebürstet, was unglaublich mühsam war, weil ich eigentlich dauernd auf der Stelle trat. Und irgendwann plötzlich, nach zwei Wochen eines Morgens, habe ich gesagt, das schmeisse ich jetzt alles weg und erzähle ganz chronologisch die Geschichte. Das sind also drei Teile: ein Tag im Leben, noch ein Tag im Leben und als letztes machen sie das. Dann brauche ich nichts erklären. Genau das haben die Journalisten in dem Artikel getan: „Sie hat ihren Mann betrogen, er konnte sie nicht befriedigen, sie haben Schulden gehabt…” und den ganzen Scheissdreck, den man da immer liest. In dem Moment, in dem ich das weglasse, muss der Zuschauer die Lehrstellen füllen. Nicht ich gebe ihm die Erklärungen, denn die sind immer blöd, weil jeder sagen kann, das geht mich nichts an…

Das war für mich eigentlich der Beginn meiner Filmästhetik. Meine Fernsehfilme vorher waren normal erzählte Geschichten, in denen der Zuschauer dauernd mit Erklärungen bedient wird, vielleicht weniger als in anderen Fernsehfilmen, aber trotzdem, im Prinzip war es so und das habe ich da grundsätzlich aufgehoben. Das hat natürlich sofort dazu geführt, dass der Sender den Film nicht machen wollte. Da hab ich gesagt, das ist jetzt ein Zeichen des Schicksal, das werde ich jetzt als Kinofilm machen. Im Versuch, eine Geschichte zu erzählen, hat sich dann die richtige Form gefunden, die mir auch ein bisschen die Augen geöffnet hat. Natürlich gab es solche Filme auch schon vorher, ich hab’s wahrgenommen, aber nicht für mich objektiviert, nicht fruchtbar gemacht.

Kommt es Ihnen im Nachhinein als eine gute Schule vor, konventionell anzufangen und sich erst dann zu radikalisieren?

Das weiss ich nicht. Es ist auch so viel Zufall dabei, bei solchen Sachen. Was ich für eine gute Schule halte ist, wenn ein Regisseur ans Theater geht – was ich auch getan habe, lange Jahre. Weil er dort einfach lernt, mit Schauspielern zu arbeiten, was die meisten Leute von den Filmakademien nicht können. Natürlich, wenn jemand begabt ist, ist er begabt, dann wird er es auch können. Aber ich sage jedem, der es hören will: Geh nach Hinterdupfing, ans kleinste Theater, mach völlig wurscht was für ein Stück, mit zwei oder drei Personen und quäle dich mal zwei Monate mit den Schauspielern und schau, dass was Gescheites herauskommt. Auch mit schlechten Schauspielern, da lernt man noch mehr. Ich habe in der Provinz begonnen, in Baden Baden. Da habe ich meine ersten Inszenierungen gemacht, zum Teil mit Begabten, aber natürlich auch zum Teil mit völligen Idioten. Da habe ich unheimlich viel gelernt, wie helfe ich einem Schauspieler, oder wie trete ich ihm ins Kreuz, damit irgend etwas passiert. Das lernst Du nicht beim Film, weil gar keine Zeit dafür ist. Du bist sowieso der grosse Zampano und was Du sagst, muss passieren. Am Theater muss nichts von dem passieren, was Du sagst. Da sagt der Schauspieler: „Jetzt bring mich mal dazu.” Aber ob man vorher Fernsehen machen soll…? Also ich glaube eher, dass es eine Gefahr ist, im Fernsehen lange zu arbeiten, weil diese Form von Erklärungsdramaturgie, die das Fernsehen unabdingbar fordert, fatal für das Kino ist.

Aber Konvention müssen erst begriffen werden, bevor man sie brechen kann.

Ich glaube, es ist unabdingbar, dass man sein Handwerk versteht. Das ist aber überall so. Es ist ja leider Gottes nur beim Film so, dass es so unendlich viele Dilettanten gibt. Im Ballett oder in der Musik ist ein Dilettant sofort erkennbar. Wenn der es technisch nicht drauf hat, dann ist er eben kein Musiker. Aus. Punkt. Die Regisseure beim Film – die müssen ja nichts tun. Ein Regisseur, der gute Leute um sich hat, braucht nur dastehen und dumm schauen. Alle anderen arbeiten für ihn. (Lachen) Ja es ist so! Die Mitarbeiter kann man am wenigsten täuschen, die merken es ziemlich schnell, wenn einer nichts weiss und sagen dann: „Mit dem nie wieder” – aber bis sich das in der ganzen Branche herumgesprochen hat, hat der schon zwanzig Filme gemacht.

Wie arbeiten sie mit Ihren Darstellern?

Fred Zinnemann wurde mal gefragt, wie er das macht. Und er hat geantwortet: „Das ist ganz einfach, es gibt nur zwei Sachen. Das eine ist ein richtiges Casting, und das andere ist Irrtümer vermeiden.” (Lachen) Ich finde, er hat völlig recht. Ein gutes Casting heisst ja nicht gute Schauspieler, sondern gute Schauspieler in der richtigen Rolle. Und Irrtümer vermeiden… Die Schauspieler, gerade die, die vom Theater kommen, wollen ja alles aufgelistet haben, die ganze Biographie und so – und da sage ich immer: Weiss ich nicht. Ich habe Dich besetzt, weil Du ideal in der Rolle bist. Reagiere in der Situation, als wärst Du es. Alles andere weiss ich nicht, und es interessiert mich auch nicht. (Lachen) Und das funktioniert. Und dann gebe ich natürlich technische Anweisungen, zum Beispiel (in „Die Klavierspielerin”) in der Szene, als er den Brief gelesen hat und Isabelle (Huppert) dann sagt: „Du redest nicht mehr mit mir”. Da bin ich vorher zu ihr in die Garderobe gegangen und habe ihr Satz für Satz gesagt, wie ich das möchte: Da sollen die Tränen kommen, da soll das, da soll das passieren… Und sie hat das eins zu eins so gespielt – die ist ja wie ein Computer. Ich bin ihr nachher um den Hals gefallen und hab gesagt: Super! Da war ich selber baff. Es sind so viele verschiedene Nuancen in Ihr. Das kann man natürlich nur mit guten Schauspielern machen.

Am Theater hat man den ständigen Kampf, dass der Schauspieler sagt: „Ja, aber der (Autor) hat das ja ganz anders gemeint, als Sie das sehen.” Da hat der Schauspieler seine eigene Vorstellung, hat natürlich nur seine eigene Rolle im Auge und hält alles, was ihm Wirkung wegnimmt, erst mal für falsch… Wenn Du selber der Autor bist, kann er Dir schlecht was erzählen, dann sag ich: Erzähl mir nichts, ich weiss, was ich gemeint habe. (Lachen) Das ist der Vorteil, wenn man seine eigenen Filme macht. Und es ist der Vorteil des Filmregisseurs, dass er diese Machtposition hat. Nur die Machtposition nützt nichts, wenn Du bei den Schauspielern kein Vertrauen wecken kannst. Das Entscheidende ist, dass sich der Schauspieler aufgehoben fühlt, wenn er machen soll, was Du ihm sagst. Er darf nicht das Gefühl haben, der hält mich nicht – ja, der verrät mich vielleicht sogar. Das war zum Beispiel jetzt bei „Die Klavierspielerin” ganz wichtig für den Benoît (Magimel). Das war ja nicht leicht zu spielen. Die Szene auf der Toilette zum Beispiel, die erste „grosse Liebesszene”, das ist ja mehr als peinlich zu spielen. Der hat natürlich vorher ziemliches Bauchweh gehabt, aber er hat dann gemerkt, dass er nicht verscheissert wird. Dass er aufgehoben ist und ich im richtigen Moment auch eine Lösung weiss, um ihm rauszuhelfen, wenn er nicht weiter weiss. Und das ist wichtig. Wenn Du dieses Vertrauen kreierst, dann wird Dir der Schauspieler alles machen. Aber wenn er Dich zwei Mal dabei ertappt, dass Du ihm nicht helfen kannst, wird er anfangen, Dir auf der Nase herumzutanzen…

Welches Verhältnis besteht zwischen dem Prozess des Drehens und der Festlegung vorher?

Es ist schon so, dass ich ziemlich genau weiss, wie ich es möchte und natürlich alles daran setze, das zu erreichen. Wenn ich es nicht erreiche, bin ich frustriert, das ist klar. Denn man erreicht ja nie hundert Prozent, weil da auch 40 Leute mit ihrem eigenen Kopf denken müssen, sonst können sie nichts machen. Auch wenn sie sich bemühen, es in meinem Sinn zu machen, wird es immer etwas Anderes sein. Das ist das Unangenehme am Drehen. Drehen ist immer nur Stress. Das einzige, was lustig ist, ist die Arbeit mit den Schauspielern. Da kann auch etwas dazu kommen. Während bei meiner Art, mit der Kamera zu arbeiten, wenig oder nur Negatives dazukommen kann. Das heisst: Das Wetter ist nicht so, wie es geplant war, oder aus irgendeinem Grund schaut die Dekoration völlig anders aus, es gibt ein Baugerüst, oder irgendeinen Scheiss. Das gibt’s ja immer. Das sind die Dinge, die einen, wenn man aufwacht, zittern lassen, was einem begegnen wird.

In „Die Klavierspielerin” hatte ich immer wieder den Eindruck, es entsteht sehr viel am Set. Zum Beispiel in der Szene, wenn Isabelle Huppert im Pornokino am Taschentuch riecht…

Das täuscht. Zum Beispiel das Riechen am Taschentuch, oder das Reingreifen in diesen Papierkorb, diese Einstellung haben wir ungefähr siebenunddreissig- oder achtunddreissig Mal gedreht. Weil der Winkel nie gestimmt hat. Das war unheimlich mühsam, bis es organisch aussah mit dem Gegenschuss. Und das Riechen haben wir auch ziemlich oft gedreht. Es ist ja meisten so: Entweder ist es der erste Take oder der Letzte. Und dazwischen liegt manchmal ein langer Weg. Sehr oft machen wir dreissig Aufnahmen und dann nehmen wir doch die Erste – das kommt vor. Aber bei der Ersten sagt man sich, naja, vielleicht wird es ja noch besser. Das passiert auch manchmal. Es gibt ja sehr komplizierte Geschichten. Zum Beispiel die Szene am Eislaufplatz (in „Die Klavierspielerin”) – auch wieder so eine Plansequenz. Das war natürlich sehr mühsam und schwierig, denn es gibt so viele Imponderabilien, die schiefgehen können. Ich rede gar nicht von den Schauspielern, sondern einfach von dem, was technisch schiefgehen kann. Wir haben einen Tag probiert und einen Tag gedreht und da war es dann die Letzte. Wir hatten vorher eine, die war auch nicht schlecht, waren also endlich durch. Da sagt jemand: „Ich glaube, da war am Anfang in der Garderobe die Maskenbildnerin zu sehen.” Ich habe gesagt: Sag das nicht, bitte! Der Benoît (Magimel) geht in der Szene ins Off und da haben zwei Leute an ihm schwerst gearbeitet, um ihm in der kurzen Zeit die Schlittschuhe herunterzureissen, damit er rechtzeitig zum Dialog wieder herauskommen kann. Und aus irgend einem unerfindlichen Grund ist die auf einmal da lang spaziert. Da hat natürlich die Isabelle einen Anfall bekommen und ich auch. Dann sinkt die Stimmung und man sagt: Das wird ja nie was. Wegen des Lichts hatten wir dann nur noch eine oder zwei Stunden, und ich habe gesagt, das schaffen wir eh nicht. Und das war gut. Ich denke, es ist gar nicht anders möglich, als es so ausgetüftelt vorzubereiten, weil man es sonst einfach nicht schafft, dass das alles in der Zeit passiert, in diesen Räumen, in einer Einstellung.

Warum haben Sie diese Szene in einer Einstellung gedreht?

Die Szene war eine der anspruchsvollsten des ganzen Films und ich habe gesagt, wenn ich es schaffe, dass die Schauspieler es durchspielen können, dann kriege ich ein ganz anderes schauspielerisches Niveau. Das hat sich auch bewiesen, weil es immer besser ist, eine Szene durchspielen zu können, als so schnitzelweise die Gefühle zu produzieren – gerade für Schauspieler, die Theatererfahrung haben. Ausserdem kann ich auch als Zuschauer besser zuschauen, wenn ich nicht dauernd bevormundet werde. Aber es ist natürlich auch viel schwieriger zu drehen, weil man nicht mogeln kann. Bei einer anderen Szene stellt man einfach ein bisschen um und macht es etwas kürzer und es geht auch. Bei einer Plansequenz kann man es nur drinnenlassen oder wegschmeissen. Das ist halt das Risiko – aber ohne Fleiss kein Preis.

In einer konventionellen Auflösung, die sich aus vielen kurzen Einstellungen zusammensetzt, arbeitet man ja in der Regel so, dass jede Einstellung genau eine Bedeutung transportiert. Im Zusammenhang mit „Code: Inconnu” haben Sie einmal von einer „atmosphärischen Auflösung” gesprochen und davon, dass die langen Einstellungen dieses „Eine-Bedeutungs-Prinzip” überwänden und die Bilder so mehr ins Schwingen geraten könnten.

Es öffnet sozusagen die emotionale Eigenarbeit des Zuschauers. Also wenn ich Zeit habe, einen Vorgang zu betrachten, sehe ich ja nicht mehr nur den Vorgang, sondern es tun sich andere Bilder und Assoziationen auf. Dafür brauche ich aber Zeit, sonst habe ich eine Information, die schlucke ich und dann kommt die nächste Information. Das ist die klassische Fernsehdramaturgie. Deswegen werden die Filme auch immer schneller, weil man Informationen immer schneller begriffen hat. Das ist relativ langweilig, denn es passiert nichts mit mir. Ich schaue mir das an und sage: Aha. Und das ist ein bisschen wenig. Wenn ich einem Vorgang lange zuschaue, ist das anders, vorausgesetzt der Vorgang hat eine gewisse Tiefe. Also wenn ich da nur jemand sitzen habe, hängt es wieder vom Kontext ab. Wenn die Szene davor gezeigt hat, was dem gerade passiert ist, kann es wunderschön sein, minutenlang zuzusehen, wie er da sitzt. Weil ich ja dann für den, der da sitzt, denke und empfinde. Bei der Einstellung am Friedhof (in „Code: Inconnu”) ging es auch darum, die Unerträglichkeit der Scham zu zeigen, die die beiden füreinander haben. Weil sie beide schuldig sind, es aber nicht zugeben können. Weder dem Anderen, noch sich selbst gegenüber. Juliette Binoche hat da immer angefangen zu heulen, oder wollte immer heulen. Das hat sie nicht gemacht, um sich in Szene zu setzen – denn heulen durfte sie in anderen Szenen auch – sondern weil der emotionale Druck so gross war. Da habe ich gesagt: Du gehst ganz normal. Denn es ist wichtig, dass der emotionale Druck beim Zuschauer gross ist, nicht beim Schauspieler. Und dieser Druck entsteht durch die Dauer. Jedenfalls ist die Dauer ein entscheidender Punkt dabei. Auch die Unerträglichkeit, bestimmte Dinge auszuhalten. Ich kann noch mit grosser Begeisterung erwähnen, wo ich das zum ersten Mal so klar und evident wahrgenommen habe. Das war in „The woman under the influence” von John Cassavetes. Da gibt es die Szene, wo sie die Kinder ins Bett bringt und die rennen wieder runter und sie bringt sie wieder rauf und sie rennen wieder runter. Das geht, glaube ich, fünf oder sechs Mal so. Da habe ich gedacht: Das gibt’s ja gar nicht! Es war umwerfend. Ich habe noch nie so eine Intensität erlebt. Also, wäre es nur zweimal gewesen, wäre es genauso wunderbar gespielt, aber diese Qualität bekommt die Szene erst durch die endlose Wiederholung.

Wie kam es bei „Code: Inconnu” zu dem Konzept mit den Plansequenzen?

Ja, jetzt muss ich scharf nachdenken, das ist schon wieder so lange her. Es ging ja um „Film im Film” und darum, dass man den Zuschauer auf den Leim führt, dass man ihn täuscht. Also es ging um die Verunsicherung des Zuschauers in seinem Glauben an die Wirklichkeitswiedergabe im Kino. Meine Absicht war es, dem Zuschauer zu beweisen, dass er selbst, wenn ich ihm die Mittel in die Hand gebe, nicht erkennt, was „real” und was „Film im Film” ist. Obwohl er es eigentlich sofort erkennen kann – weil sich das „reale Geschehen”, das als Plansequenz gefilmt ist, klar von der konventionelle Montage der „Film im Film”-Passagen absetzt – aber er erkennt es natürlich nicht. Er fällt erstmal darauf rein, weil die Szene in sich eine gewisse Spannung hat und der Zuschauer so absorbiert ist von dem, was erzählt wird, dass er die Art, wie es erzählt wird, gar nicht wahrnimmt. Quod erat demonstrandum. Das war sozusagen der Anlass für dieses Prinzip.

Warum muss man den Glauben an die Wirklichkeitswiedergabe des Films brechen?

Na ja, weil ich glaube, dass man mit Film – das ist ja eine Binsenweisheit – manipulieren kann und diese Manipulation immer auch etwas gefährliches ist. Das heisst: Von Zeit zu Zeit ist es ganz praktisch, das wieder in Erinnerung zu rufen. Und zwar nicht als Gedanke… Gedanklich ist es ohnehin jedem klar, dass er, wenn er ins Kino geht, einen Film sieht und nicht die Wirklichkeit. Aber es gibt einen Unterschied zwischen wissen und empfinden. Und darum ging es mir: Das empfindbar zu machen.

Aber ist es sinnvoll, einen solchen Beweis so zu führen, wenn es gerade darum geht, die Manipulation in Frage zu stellen?

Aber sie manipulieren ja sowieso. Wenn sie die Kamera hier hinstellen (zeigt neben sich) ist das auch eine Manipulation. Es ist dann eben das und nicht das andere. Die Frage ist immer, wohin, wozu man manipuliert. Der Unterschied zwischen einer Manipulation, wie ich sie in diesem Film versucht habe zu betreiben, und der üblichen Kino-Manipulation besteht natürlich darin, diesen Prozess der Manipulation in sich selber durchschaubar zu machen. Insofern ist es auch legitimiert. „Funny Games” war in dieser Richtung ein Extrembeispiel. Es ging darum, den Zuschauer permanent zu manipulieren und ihm auf unangenehme Weise zu zeigen, wie manipulierbar er ist, es also empfindbar zu machen. Das halte ich durchaus für legitim. Mir hat man gesagt: „Sie vergewaltigen den Zuschauer”. Da habe ich geantwortet: Ja, aber zur Selbständigkeit. Das mache ich gerne. Wenn schon manipulieren – denn Kino manipuliert immer – dann zur Selbständigkeit.

Ich habe mich damals ganz unangenehm behandelt gefühlt von „Funny Games”, weil ich nicht das Gefühl hatte, zur Mündigkeit zu erwachen…

Nein man wird verurteilt.

Ja genau.

Ich habe den Zuschauer sozusagen zum Mittäter gemacht. Ich habe ihn zum Mittäter gemacht und ihm das dann vorgeworfen. Das war mir schon klar (lacht). Ich wollte ja, dass die Leute diesen Film als extrem unangenehm in Erinnerung behalten. Das war eine ausgesprochen fiese Methode.

Aber der Zweck heiligt die Mittel?

In diesem Fall: Ja. Es ist ja der einzige Film, mit dem ich versucht habe, also nicht zu schocken, aber eine Ohrfeige zu geben. Wenn das bei anderen Filme von mir gesagt wird, verstehe ich das nie. Dass sie vielleicht manchmal wehtun, ist etwas anderes, aber sie sind nie aggressiv gegen den Zuschauer. Während bei „Funny Games” war es auch ein bisschen das Resultat meiner Wut über die Wertschätzung von gewalttätigen Filmen. Für diese Zuschauer war er auch gemacht. Man kann dem Film natürlich vorwerfen, dass er gerade diese Zuschauer nicht trifft, weil sich die den nicht anschauen werden. Aber das ist ein Argument, mit dem man bei jedem Film konfrontiert ist, der irgendwelche unangenehmen Dinge berührt. Es wird immer so sein, dass vor allem die Leute den Film gut finden, die das ohnehin schon wissen. Aber es geht auch gar nicht darum, als Missionar neue Leute für irgendeine Idee zu gewinnen. Wenn ich etwas beschreibe, beschreibe ich es, weil es mir wichtig ist.

Ausserdem hat „Funny Games” ja gleichzeitig ein sehr spielerisches Element. Wenn ich den Film sähe, hätte ich nachher nicht das Gefühl, belehrt worden zu sein. Dazu ist das Ganze zu ironisch, jedenfalls für mein Verständnis. Zu ironisch und zu spielerisch. Der Film ist ja sehr selbstreflexiv, aber auf eine ironische Weise. Er sagt ja nie mit einem erschütternden Ernst, so muss es sein, oder so wird es sein. Selbst in den schrecklichsten Momenten ist ihm eine gewisse Komik nicht abzustreiten – na ja, vielleicht in der Szene nach dem Tod des Kindes. Aber das mussten wir einfach machen, um die Leute zu kriegen. Aber sonst ununterbrochen. Selbst, wenn sie ihn ins Wasser schmeissen, was auch nicht sehr lustig ist, ist das, was rundherum passiert und gesagt wird, so ironisch… Das ist für mich eben immer das Verblüffende, dass man es, trotz der Brüche, trotz der Ironie, schafft, dass die Leute hereinfallen, dass sie es für den Moment als Wirklichkeit nehmen.

Im Zorn über diese Gewaltfilme haben Sie also einen Film gemacht, der den Effekt Gewalt ganz ähnlich benützt, nur für einen anderen Zweck?

Ja. Es geht ja immer darum, wofür man etwas macht. Sie können einen Film über Gewalt nicht nach dem Prinzip machen: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass”. Das hat der Wim Wenders gemacht mit „The End of Violence” und das war, meiner Meinung nach, ein völlig missglückter Film. Da wird irgendwie ganz nett geplaudert über dieses Phänomen, und das ist das Sinnloseste. Man braucht niemanden zu sagen, wie schlecht Gewalt ist, weil das ohnehin jeder weiss. Es geht nicht darum, dass man die Leute aufklären muss, dass Gewalt etwas schlechtes ist, sondern man muss es eben empfindbar machen – was Gewalt im Kino kaum je ist. Gewalt wird ja immer lustvoll konsumiert, sonst würde sie sich nicht verkaufen. Insofern finde ich es nötig, Mittel anzuwenden, die dem Zuschauer ein Gefühl davon geben. Das kann ohnehin nur eine Andeutung sein, weil jede physische Watschn stärker ist als der Film – weil der Demütigungseffekt grösser ist. Also, wenn wirklich an ihnen Gewalt ausgeübt wird – selbst, wenn sie im Vergleich zu dem, was im Film gezeigt wird, ganz harmlos ist – ist die Wirkung auf Sie viel stärker. Wenn man sich aber im Film damit befassen will, dann muss man zumindest versuchen, es so zu zeigen, dass der Zuschauer ein Gefühl für das bekommt, was dahinter steht, für die Realität. Aber es gibt sehr wenige Filme, die Gewalt auf eine zulässige Weise darstellen. Für mich ist „Salo” („Die 120 Tage von Sodom”) von Pasolini der einzige Film, der Gewalt so darstellt, wie man sie darstellen muss. Deshalb ist er auch so unerträglich.

Es gibt für Sie eine bestimmte Masstäblichkeit in der Abbildung dessen, was man wirklich nennt, die erhalten werden muss. Und der Gewaltfilm, den Sie beschreiben, verliert aus den Augen, dass es eine Realität der Gewalt gibt.

Jein. Ich glaube, dass diese Leute, die solche Filme als Konsumartikel herstellen, sehr wohl wissen, was Gewalt ist. Es ist nur eine Frage des Zynismus: Wie mache ich etwas konsumierbar? Wie mache ich aus einer Sache, die in Wirklichkeit unerträglich ist, etwas, was ich ausser Gefahr konsumieren kann, dankbar, dass es auf diese Weise zu mir kommt? Die Angst vor dieser Wirklichkeit zu nutzen, um ein Produkt zu verkaufen: Das ist einfach ein zynischer Vorgang. Oder es ist extrem naiv. Ich finde zum Beispiel „Natural Born Killers” einen fatalen Film. Ich glaube dem Herrn Stone sogar, dass er es ernst meint. Ich kenne ihn zu wenig, um das beurteilen zu können… aber so naiv kann man nur als Amerikaner sein, sozusagen mit einer faschistoiden Ästhetik einen antifaschistischen Film machen zu wollen. Das geht halt nicht, weil er genau in die Kerbe hineinfährt, die die Leute geil finden. Die schauen sich das an und sagen: „Boah, das war aber geil.” Das war auch – auf einem viel höheren intellektuellen Niveau – bei „Pulp Fiction” so. Weil „Pulp Fiction” sozusagen den Humor dazu benutzt hat – absichtlich oder unabsichtlich, das kann ich nicht beurteilen, aber ich glaube absichtlich, denn der Tarantino ist wirklich nicht blöd – das konsumierbar zu machen. Ich habe den Film im Kino mit jugendlichen Publikum gesehen und die haben gejohlt vor Begeisterung. Bei mir hat keiner gejohlt.

Man könnte natürlich auch argumentieren, eine Welt, die nun mal grausam ist, werde dadurch erträglich… Märchen machen doch nichts anderes.

Nein, das ist etwas anderes. Ein Märchen ist eine Metapher. Ein Märchen beschreibt die Wirklichkeit sehr konkret, aber auf eine metaphorische Weise. Die Abbildung von Gewalt ist nicht metaphorisch. Man muss es nicht mal am Thema Gewalt fest machen. Durch die Art, wie ich abbilde, gebe ich der Sache einen Wert. Also alles das, was man in der ersten Klasse Filmschule lernt – wissen wir ja alles – wird normalerweise vom Normalpublikum nicht wahrgenommen, das wird nur empfunden. Und ich finde, je wichtiger, oder in der Realität gewichtiger eine Sache ist, um so mehr ist der Filmemacher in der Verantwortung, diesem Gegenstand gegenüber angemessene Mittel zu finden. Und zwar angemessen im Bezug auf die Kommunikation mit dem Zuschauer. Das heisst, die Manipulation, die immer stattfindet, nicht in den Dienst einer Sache, beispielsweise den Verkauf zu stellen, sondern zu versuchen, einem Gegenstand gerecht zu werden. Das heisst, eine Ästhetik zu finden, die das Gewicht dieser Sache auch transportiert. Das wird immer schwieriger, je grauenhafter die Sache ist und Gewalt ist dafür nur ein Beispiel.

Es gibt ja heute die Tendenz, die Wirklichkeit zu schönen, also diese Werbeästhetik, die ja Einzug in jede Art von Film genommen hat, vom Hollywoodfilm bis zum sogenannten Kunstfilm. Leider verweigern sich dem nur ganz wenige Filmemacher. Es ist mittlerweile schwieriger geworden, es nicht zu machen, als es zu machen. Wenn es irgendwie geil ausschaut, sagt jeder: Toll! Während, wenn es mal nicht so toll ausschaut, jeder denkt: Der kann das nicht. Der Unterschied zwischen einem dilettantischen Bild und einem absichtlich entschönten Bild ist nicht so gross, aber es sind Lichtjahre dazwischen. Und um das geht es: Die Ästhetik nicht zur Beruhigung und zur Beschönigung der Sachlage zu benutzen. Dazu gehört natürlich nicht nur das ästhetisch Ausgefeilte, sondern jede Form von Manierismus. Deswegen habe ich zum Beispiel mit Lars von Trier meine Schwierigkeiten, weil mir diese verordnete Ästhetik auf den Wecker geht. Ästhetik kann nicht für Film im Allgemeinen verordnet werden. Sie kann für einen Film passen und für den nächsten Film ist sie völlig falsch. Darum müsste es eigentlich gehen, wenn es mein Absicht ist, Filme zu machen: Dass man sich immer überlegt, wie kann ich mich mit der Realität auseinandersetzen? Es gibt ja viele Filme, die das nicht tun und ich hab auch nichts gegen, was weiss ich, irgendein Musical… Im Gegenteil, es gibt so viele Millionen Menschen, denen es so schlecht geht, dass sie das Recht haben, am Abend zwei Stunden abzuschalten und sich irgend etwas anzuschauen, die sie die Scheisse vergessen lässt. Nur diese Art von Film hat mit dem Film als Kunstform nichts zu tun.

Sie glauben also nicht, dass zum Beispiel Vincente Minelli, mit seinen Musicals…

Die sind genial. Die Liebe ich heiss…(lacht)

…Kunst gemacht hat?

Ja – ich meine, was ist Kunst? Es ist sehr kunstvoll gemacht. Ich habe da einen gewissen Rigorismus, das weiss ich. Es gibt diesen berühmten Text „An die Nachgeborenen” von Brecht. Wie heisst der schöne Satz: „Was sind das für Zeiten, in denen das Gespräch über einen Baum fast ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über so viel Verbrechen einschliesst.” So ungefähr ist das formuliert. Und genau das ist der Punkt.

Aber kann man denn nicht auch am Schönen wachsen?

… am Schönen wachsen, wie meinen sie das?

Na ja, ich würde zum Beispiel sagen, dass es mein Leben verändern kann, in einem gut gebauten Haus zu leben. Also die Architektur jetzt als Beispiel.

Es gibt einen schönen Satz von Nietzsche… über das Gute, Wahre und Schöne: „…aber wenn er auch noch behauptet, das die Wahrheit schön ist, soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist hässlich.” (Lacht) Das ist leider wahr und man kann sie nicht behübschen mit einer optischen Ästhetik…

In der Dramaturgie, beziehungsweise in der Geschlossenheit einer Geschichte liegt ja auch ein grosser Trost.

Ja, genau. Die Form, das ist der einzig zulässige Trost. Deshalb ist es so wichtig, dass die Form dem Thema angemessen ist. Wenn man fragt, was die Kriterien für Kunst sind, ist sicher das entscheidende die Identität von Inhalt und Form. Diese Einheit ist das eigentlich Transzendierende. Dem Chaos ein bisschen Form abtrotzen, das ist das Tröstliche. Das ist das Schönste, was sich die Menschheit erarbeitet hat im Lauf ihrer Entstehung.

Was für mich das Kino so interessant macht, gerade auch Ihr Kino, ist Konzentration und Intensität – was ja scheinbar im Verschwinden begriffen ist. Jedenfalls nehmen die Ablenkungsmanöver zu. Diese Konzentration ist ja an sich schon ein Glück – egal, worum es geht.

Konzentration entsteht beim Zuschauer nur, wenn die Sache so stimmig, so – ich will nicht sagen quälend, es muss nicht quälend sein – so genau wie möglich ist. Genauigkeit ist das oberste künstlerische Prinzip. Alles andere kann man darunter ansetzen. Wenn etwas genau ist, genau beobachtet und genau wiedergegeben – was gar nicht so leicht ist, wie es sich anhört – dann trifft es auch. Dann hat es Spannung und dann entsteht auch Intensität. Das ist ein völlig handwerklicher Begriff: Genauigkeit. Deshalb gefällt er mir auch so gut. Das hat nichts mit Wahrhaftigkeit oder so zu tun, das ist alles so verblasen, weil man eigentlich nicht weiss, was das wirklich ist. Während man Genauigkeit mehr oder weniger dingfest machen kann. Am Theater kann man das ganz leicht verfolgen, weil da immer die gleichen Texte gemacht werden. Wenn man eine Szene von Tschechov gemeinhin inszeniert sieht, dann rauscht die so vorbei und es ist halt mehr oder weniger langweilig, weil der von Leuten redet, die man selbst eh nicht kennt. (Lachen) Während, wenn das jemand macht, der genau ist, dann kennt man die Leute sehr persönlich, denn dann sprechen sie von Dir und mir.

Was hat sich für Sie geändert dadurch, dass Sie jetzt in Frankreich Filme machen?

Frankreich hat in der Tat sehr viel verändert. In erster Linie den Zugang zu diesen gesamten Raum, auch Schauspielerraum. Die haben ja wunderbare Schauspieler, was ein grosses Vergnügen ist. Und es hat natürlich auch die finanziellen Möglichkeiten enorm verändert. „Die Klavierspielerin” hat 70 Millionen Schilling (ca. 5 Mio. Euro) gekostet. Das wäre mit österreichischen Mitteln kaum aufzustellen gewesen. In Frankreich ist einfach mehr Geld für diese Art von Filmen da, weil die Wertschätzung höher ist. Dort gibt es ein Kinopublikum, das an solchen Filmen interessiert ist. Das gibt es ja bei uns eher weniger. Deutschland ist da ja eine amerikanische Kulturprovinz, Österreich auch. Die Franzosen haben mit ihrem Chauvinismus eine gewisse Form der Resistenz demgegenüber, was mir sehr symphatisch ist. Der Chauvinismus ist mir nicht sympathisch, aber die Resistenz gegen diese Junkfood-Kultur. Für die Arbeit ist es natürlich schwierig, denn wenn man die Sprache nicht wirklich beherrscht, ist es viel anstrengender, auf der Höhe seiner Möglichkeiten zu sein. Wenn ich mich selber ausdrücken kann, habe ich kein Problem, da kann ich mich streiten, da kann ich mich ausdrücken in Details. Im Französischen drücke ich mich nicht so aus, wie ich es möchte, sondern so, wie es mein Wortschatz erlaubt. Wobei das Ausdrücken das geringere Problem ist. Das grössere ist das Verstehen. Zum Beispiel sitzt man in einem Kaffeehaus und fünf Leute reden durcheinander. Ich verstehe zwar auch nicht alles, aber ich kriege so in etwa mit, was die alle reden. In Frankreich kriege ich bestenfalls den mit, auf den ich mich konzentriere. Die anderen rauschen vorbei… Und das ist natürlich bei einer Produktion, in der man ja immer mit solchen Löffeln umher gehen muss, um mitzubekommen, was möglicherweise falsch läuft, enorm stressig. Also der Stress ist schon grösser dort. Andererseits habe ich bei den Mitarbeitern eigentlich immer enormes Glück gehabt, mit geringen Ausnahmen. Ich kann jetzt nicht sagen, dass es abgesehen von diesem Sprachproblem schlechter wäre, oder komplizierter.

Aber es wird doch sicher Auswirkungen auf die Stoffe haben…?

Es gibt zwei Geschichten, die ich in Frankreich vor habe. Das eine ist eine Geschichte, die ich schon vor einiger Zeit geschrieben habe, „Wolfszeit”, mit Isabelle Huppert. Das sollte schon zweimal produziert werden, hat aber nie geklappt, weil es immer zu teuer war. Da wird man jetzt sehen, ob das stattfindet. Das Zweite ist die Geschichte, an der ich jetzt hier gerade sitze, eine persönliche Geschichte, aber sie meint auch ein bisschen mehr. Es geht unter anderem um diesen berühmten 17.Oktober 1961, als Papon diese Araber in die Seine geprügelt hat und zweihundert Leute umgekommen sind. Ein unglaubliches Gemetzel haben die Polizisten da aufgeführt und es ist jahrelang in Frankreich völlig verschwiegen worden. Jetzt haben sie es so ein bisschen wieder ausgegraben und das ist der Anlass. Aber die Geschichte handelt nicht davon. Es ist eine Verdrängungsgeschichte, wie man Vergangenheit verdrängt. Ich könnte das gleiche in Deutschland oder Österreich mit einer anderen Geschichte machen, sie wird jeweils verstanden werden, auch in einem Land, dass nicht unmittelbar betroffen ist – wie alle meine Filme. Die Trilogie, die hier gespielt hat, ist nicht unbedingt fixiert auf ein österreichisches Ambiente, sondern ich glaube, dass man das im ganzen hochindustrialisierten Bereich versteht. Meine Filme sind alle nicht geeignet für die dritte Welt, weil die dort wirklich andere Probleme haben, aber sonst kann man die eigentlich von Japan bis Österreich verstehen.

Gibt es auch eine Neugier, woanders hinzugehen? Es gibt ja auch andere Landschaften, Farben usw…

Nicht sehr. Ich bin ein völlig unoptischer Mensch. Ich bin ein reiner Ohrenmensch. Es muss halt passen. Ob die Landschaft jetzt eine französische ist, oder eine andere, ist mir völlig wurscht. Ich finde es hübsch, wenn ich herumgehe, egal wo ich bin, und es gefällt mir, aber für meine Arbeit hat das wenig Bedeutung. Meine Filme spielen sehr viel in Innenräumen, in neutralen Räumen. Diese Erfahrung hat jeder Mensch, der in der hochindustrialisierten Welt lebt, dass wir unser Leben zwischen Supermarkt und U-Bahnstation verbringen – und das will ich einfach beschreiben. Landschaft bietet immer die grosse Gefahr der Beschönigung. Landschaft hat immer ein grosses Pathos und das ist gefährlich, weil es so ein leichter Sieg ist. Wenn ich in die Landschaft gehe, schaut gleich alles geil aus. Das vermeide ich eher, ist mir eher zuwider. Bei mir gibt es immer Neugier auf andere Menschen, aber Schauplätze suche ich immer so banal wie möglich.

Wie kann man so schön wohnen, wenn man nicht optisch ist?

(Lacht) – Danke. Na ja, ich ertrage Unordnung zum Beispiel nicht. Wenn ich schreiben muss, muss alles immer aufgeräumt sein. Das ist ein bisschen paranoisch, aber das ist meine private Paranoia und das andere ist meine Arbeit. Bei mir geht alles übers Ohr. Empfindungen gehen in erster Linie übers Ohr. Ich habe zum Beispiel unglaubliche Schwierigkeiten beim filmen von Inserts, weil – das ist eine rein ästhetische Sache, Raumaufteilung, goldener Schnitt usw. In „Bennys Video” gab es unzählige Insertgeschichten, zum Beispiel die Einstellung, als er das Blut aufwischt und nachher die Milch. Was wir da herumgeschissen haben… „Hm, ja, nein, tu es noch ein Stückerl raus…” (lacht), weil da nur der Gegenstand zählt. Ich werde von den Figuren durch den Film geführt, die machen das alleine und ich brauche nur die richtigen Leute im richtigen Moment zeigen, dann stimmt es. Das ist jetzt ein bisschen übertrieben, aber im Prinzip ist es so. Aber, wenn ich über ästhetische Komposition erzählen will, werde ich ganz nervös, weil mich nichts mehr führt. Ich bin kein Maler. Ich kann auch ganz schlecht zeichnen. Ich zeichne zwar immer meine Storyboards, aber die sehen aus wie Kinderzeichnungen von einem Fünfjährigen, mit Strich und Naserl in die Richtung, oder in die Richtung, damit man weiss, wo er hinschaut. Bei mir ergibt sich alles aus der Geschichte und nie aus der Bildüberlegung.

Das Gespräch führten Christoph Hochhäusler, Jens Börner und Bitta Boerger am 26.Oktober in Katzelsdorf / Österreich. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler. Danke: Benjamin Heisenberg, Jens Börner.

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