Revolver live! Marie Vermillard
Ulrich Köhler: Wie bist du zum Filmemachen gekommen?
Marie Vermillard: Seit frühester Jugend hatte ich eine Leidenschaft für das Kino, aber es hat lange gedauert, bis ich mir zugetraut habe, selbst Filme zu machen. Ein ziemlicher Zickzack-Kurs. Ich habe drei Jahre in Nantes in einem sehr politisierten Umfeld Architektur studiert und bin dann in Clermont-Ferrand an einer ganz anders orientierten Uni gelandet. Ich habe die Architektur aufgegeben und mehrere Jahre als Sozialarbeiterin gearbeitet, aus politischer Überzeugung. Dann habe ich angefangen, halbtags Bildende Kunst und Film zu studieren. Das war dann schon in Paris. Es war, wie soll ich sagen: Ich hab irgendwann den Glauben verloren, dass man mit engagierter Sozialarbeit die Welt verändern kann. Ich hab’s dann von der anderen Seite versucht, mit Filmemachen (lacht).
Ich habe diese zwei Pole. Ich bin engagierte Bürgerin, ein soziales, politisches Wesen. Auf der anderen Seite gab es da schon immer etwas, das ich mir erst sehr spät gestattet habe, ein künstlerischer Zugang zu den Dingen. Weil ich cinephile war, bin ich beim Film gelandet. Ich wollte verstehen, wie Filme gemacht werden.
Du hast als Skript gearbeitet.
Ja, erst als Regiepraktikantin, dann als Skript. Ich kannte vorher niemanden aus der Kunst- oder Filmwelt und hatte großes Glück. Es war eine extrem lebendige, leidenschaftliche Zeit für die Künste in Frankreich. Als Skript konnte ich so interessanten und unterschiedlichen Regisseuren wie Olivier Assayas, Arnaud Desplechin, Pierre Salvadori, Cédric Klapisch oder Bartabas über die Schulter schauen. Eine breite Palette. Ohne diese „Lehre” hätte ich nie den Mut aufgebracht, selber Filme zu machen. Das hat vielleicht auch mit sozialer Klasse und meinem Frau-sein zu tun. Die Arbeit hat mir erlaubt, einige Dinge zu entmystifizieren: Es gibt kein Spezialwissen, keine feststehenden Regeln, jeder findet seinen eigenen Weg und hat seine eigenen Gründe, Filme zu machen. Das hat mir die Freiheit gegeben, selbst anzufangen.
Hast du gleich deinen ersten Kurzfilm „im System”, also mit Filmförderung gemacht?
Ja, ich hab ein Drehbuch geschrieben, etwas sehr, sehr persönliches. Dann bin ich zum CNC, der nationalen französischen Filmförderung gegangen und bin abgelehnt worden. Ich hab gedacht, okay das war’s, ich werde nie Filme machen. Wirklich, ich war gar nicht kämpferisch, so „Ich will es schaffen, egal wie”. Und witzigerweise kam dann ein echtes Weihnachtsgeschenk. Am Jahresende, in der letzten Sitzung, hatten sie nur schlechte Drehbücher. Sie haben noch mal alle Bücher rausgeholt, die ihnen interessant schienen, aber knapp abgelehnt worden waren in dem Jahr. Meines war auch darunter. Zu Weihnachten kam das Geld und ich habe meinen ersten Film gedreht. Danach war klar, ich will nie wieder aufhören. Ich habe noch einen Kurzfilm gemacht, dann einen einstündigen, „Eau douce” („Süßwasser“), der kam sogar ins Kino. Mit „Lila Lili” begann dann die Zusammenarbeit mit Paulo Branco, der auch alle folgenden Filmen produziert hat, die ich allein oder zusammen mit meinem Lebensgefährten Joël Brisse gedreht habe – er ist übrigens mein Mann seit einiger Zeit (lacht). Er ist eigentlich Maler und Schriftsteller. Ich hab ihn zum Filmemachen verführt. Wir arbeiten oft zusammen, am Drehbuch und auch als Regisseure.
Nach „Lila Lili” hast du einen Fernsehfilm gemacht.
Das war keine schöne Erfahrung. Damals gab es noch den Privatsender M6. Sie suchten junge Filmemacher für eine Sendereihe mit dem Namen „Kampf der Frauen”, – es ist unglaublich wie schnell sich alles ändert, heute wäre so etwas undenkbar – also Filme über Frauen in psychischen Notsituationen, Themen wie Abtreibung, Missbrauch, so in die Richtung. Mir haben sie etwas vorgeschlagen, das gefiel mir sehr, weil es politischer war. Es sollte um Frauen in Call-Centern gehen, um Telefonmarketing. Dort arbeiteten 90% Frauen unter sehr fragwürdigen Bedingungen. Sie hatten Stundenverträge, das Arbeitsrecht wurde komplett ignoriert, ziemlich brutal. Am Anfang stand die ausführliche Recherche eines Journalisten, das war bei allen Stoffen so, die in der Reihe entwickelt wurden. In meinem Fall war die Vorrecherche unglaublich präzise, ich verstand wirklich, wie Call-Center funktionieren. Dann ging das Projekt an einen Drehbuchautoren, der eine Synopsis geschrieben hat, die ich gut fand und abgesegnet habe. Dann waren wir erst mal völlig aus dem Spiel. „Wenn das Drehbuch fertig ist, rufen wir euch an.“ Das Drehbuch kam und ich war entsetzt, es war Lichtjahre von der Recherche entfernt. Dabei war der Drehbuchautor ein interessanter Typ, ich hab es überhaupt nicht verstanden. Er hat mir erklärt, das sei die Logik des Fernsehens. Es war einfach schrecklich, die Figuren im Buch tranken die ganze Zeit Whiskey (lacht). Der Autor war wirklich ein guter Typ, wir haben uns darauf geeinigt, noch mal mit dem Sender zu sprechen und in zahllosen Sitzungen versucht, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Das ist nur in Teilen gelungen. Hinzu kam ein zweites, schwerwiegenderes Problem. Nämlich das der Schauspieler. Ich konnte sie nicht frei auswählen, dabei war es bei den Schwächen des Drehbuchs entscheidend, die Charaktere durch starke Besetzungen mit Leben zu erfüllen. Ich wollte unbedingt Geneviève Tenne die Hauptrolle geben. In „Lila Lili” spielt sie die Freundin der Hauptfigur Micheline. Sie ist aber keine ausgebildete Schauspielerin. Es war die Hölle! Sie haben gedroht, mir den Film wegzunehmen, wenn ich keine bekannte Schauspielerin besetze. Ich bin ruhig geblieben und hab ihnen gesagt, „Das ist ein Fehler. Wenn ihr mir diese Freiheit nicht lasst, dann wird das ein sehr uninteressanter Film. Da hat keiner was davon. Und wenn ihr da nicht locker lasst, dann mache ich den Film nicht”. Das war aus ihrer Sicht eine Kriegserklärung, sie haben gedroht, den Film zu stoppen. Zum Glück hat sich das Team hinter mich gestellt und ohne die Sicherheit weitergearbeitet, dass der Film tatsächlich realisiert würde. Der Sender hat im letzten Moment nachgegeben, zwei Tage vor Drehbeginn.
Es war schon sehr naiv zu glauben, ohne diese Zwänge fürs Fernsehen arbeiten zu können. Am Ende war M6 sogar zufrieden mit dem Film, gute Regie, gute Schauspieler! Der Film wurde mit einiger Verzögerung gesendet. Erst viel später habe ich begriffen, wo das eigentliche Problem lag. Die waren nicht gerade glücklich, einen kritischen Film über Call-Center zu senden, weil sie selbst vom Telefonmarketing lebten!
Ich mochte den Film, vor allem, weil die Schauspieler phantastisch sind. Mich stört allerdings, dass der Film komplett mit Musik unterlegt ist, was der realistischen Inszenierung widerspricht.
Das war eine der Vorgaben: so und so viel Musik.
Und danach kam „Imago“.
…2001, mit Nathalie Richard. Genau.
„Imago” war dein letzter Film „im System”.
Nicht ganz, es gab noch Joëls „La fin du règne animale”, den wir zusammen geschrieben haben. Aber ja, das waren die letzten Filme mit Senderbeteiligung, also Arte oder Canal+ und dem CNC. Danach ist es echt schwierig geworden.
Weil du deinen Produzenten Paulo Branco verloren hast?
Ja. Er hat sich irgendwann nicht mehr um Filmemacher wie mich kümmern können, weil er selbst Existenzprobleme hatte. Als Produzenten wie er und Humbert Balsan nicht mehr da waren, war das leider das Ende einer bestimmten Art Filme zu produzieren in Frankreich. Heute geht es immer nur um sofort messbare Ergebnisse. Ich finde, dass Drehbücher und Dramaturgie nicht der Motor der Filmherstellung sein dürfen. Für „Petites Révélations“, der nur eine Stunde dauert, habe ich leichter Geld zusammen bekommen, aber eben nur, weil er so kurz ist. Ich hab mich selbst immer mehr marginalisiert, noch stärker mit „Suite parlée”, aber das hat mir zum Teil auch große Freude gemacht, das ist das komplizierte daran. Der Preis der Freiheit ist die totale Randexistenz. Das ist der große Widerspruch im Augenblick.
An dieser Stelle wurde ein Filmauszug aus „Lila Lili” gezeigt. Eine Landpartie, auf der die Frauen eines Frauenhauses, die in diesem Film im Mittelpunkt stehen, mit ihren Freunden und Kindern im Anschluss an eine Taufe am Ufer eines Kanals picknicken, den Tag genießen, Fußball spielen, reden.
Es gibt eine Reihe toller Szenen in dem Film, aber für diese eine würde ich mein ganzes filmisches Werk hergeben. Die ist wirklich sehr sehr stark, auf verschiedenen Ebenen: die Dramaturgie, die Auflösung, das Schauspiel, was die Szene über die Soziologie Frankreichs erzählt. Das ist wirklich sehr komplex. Was davon stand im Drehbuch?
Das stand alles im Drehbuch, wurde aber im Schnitt erheblich verändert. Schon in der Drehbuchentwicklung gab es Kritik an der Szene, weil ja nicht viel passiert. Im Schnitt war sie wirklich zu lang und wir haben uns ein Spiel daraus gemacht, so viel wie möglich vom Dialog ins Off zu verlegen. Zum Beispiel alles, was der Sozialarbeiter Alain sagt, der von Zinédine Soualem gespielt wird. Wir haben die Szene also durch Tonüberlappungen verdichtet. Ich finde das nach wie vor interessant, die Szene ist viel dynamischer geworden. Es gibt zwei, drei solcher Szenen im Film. „Lila Lili” ist unreines Kino, „cinéma impure”, wie das in Frankreich heißt. Ich finde das heute noch sehr angenehm, weil man manchmal ganz in der Perspektive der Heldin ist, mit sehr subjektiven Einstellungen, die eine Intimität der Wahrnehmung schaffen. Man teilt ihren Blick und vergisst sie selbst vielleicht für einen Moment und spürt nur durch die Kamerabewegung die Subjektivität des Blicks. Und dann gibt es wieder Szenen, insbesondere Gruppenszenen, in denen man Micheline geradezu verliert, sie ist da nur ein Element unter vielen. Das hat mich wirklich gefreut beim Wiedersehen des Films, mir war das gar nicht so bewusst. Ich weiß nur noch, dass ich mit meinem Kameramann lange Diskussionen hatte, ich wollte mich keinem Prinzip, keinem formalen Diktat unterwerfen. Ich wollte die Freiheit haben, bei jeder Sequenz neu zu überlegen, damit sie sich so anfühlt, wie ich mir das vorstelle, auch wenn das bedeutet, formale Prinzipien zu ändern oder zu verwerfen. Die Szene, die du ausgesucht hast, ist die, bei der man am wenigsten die Dominanz irgendeiner Figur spürt. Jeder hat sein Daseinsrecht. Das war die Herausforderung der Inszenierung: Die Aufmerksamkeit kreisen und gleichzeitig die Einstellungen für sich sprechen zu lassen. Zum Beispiel, als die Jungs auf die Idee kommen Fußball zu spielen. Das ist vielleicht sehr simpel, aber die Jungs spielen Fußball, die Frauen sehen zu. Dann will eine Frau mitspielen. Das hat seine Bedeutung. Oder der Moment, in dem die Kinder kurz verschwinden und dann wieder auftauchen. Das hat dann eine andere Bedeutung.
Für mich hängt die Dramaturgie der Sequenz sehr an diesen Kindern. Schon am Anfang wird gewarnt, kein Picknick am Kanal, weil das gefährlich ist, dann rennt Simon los, um sie vom Ufer weg zu holen. Das trägt die ganze Szene. Auch wenn andere Sachen interessanter sind, ist das oberflächliche Suspense-Element die Sorge des Zuschauers um die Kinder – man hofft, dass nichts passiert, für die Kinder und für den Film. War das beim Schreiben schon klar?
Das wird dich jetzt vermutlich enttäuschen, aber: nein. Ich verstehe, was du meinst und dass es so funktioniert, aber was sich um die Kinder abspielt, stand für mich für etwas ganz anderes. Das ist ein Moment des gemeinsamen Glücks. Ich wollte von der Zerbrechlichkeit dieses Moments reden, von der Möglichkeit, dass alles kippen kann. Das folgt keiner dramaturgischen Überlegung. Ich hab mir nicht gesagt, „Ah, das schafft Suspense“.
Das ist nicht unsere erste Diskussion über Dramaturgie. „Lila Lili” ist ein lebendiger, vielschichtiger Film, der sich nicht auf ein Thema reduzieren lässt, der aber wie viele gute Filme von ganz einfachen Fragen vorangetrieben wird: Warum lebt Micheline in einem Frauenhaus? Wird sie das Kind, das sie erwartet, behalten? Wer ist der Vater? Warum wirkt sie so souverän und asexuell zugleich? Was ist ihr Geheimnis? Ich behaupte, das ist Dramaturgie und du nutzt sie intuitiv, auch wenn du das Konzept ablehnst.
Ich sträube mich einfach gegen diesen Begriff, gegen das, was damit gemeint ist. Dramaturgie gibt es die ganze Zeit, das Leben ist nichts anderes. In „Petites Révélations”, einem Episodenfilm, ist jeder Moment voller Dramaturgie, aber einer Dramaturgie des Lebens. Mir geht’s da genauso wie mit der Psychologie im Kino. Psychologie ist überall. Aber wenn von Psychologie im Film die Rede ist, wird es fürchterlich. Statt ein Wesen zu sein, das atmet, halten wir uns auf einmal für Götter. Wir Götter sind in der Lage die Dramaturgie zu entwerfen, einen Schlachtplan zu erstellen, ein Schema, das durchlaufen werden muss. Oder man legt die Psychologie fest, als gäbe es Gesetzmäßigkeiten von Dramaturgie und Psychologie, gegen die man nicht verstoßen darf… Da bin ich sehr skeptisch. Und es macht mir Angst, wie diese „Gesetze” im Film angewandt werden. Natürlich ist Dramaturgie und Psychologie überall. Aber es ist sehr ungesund im Film darüber zu reden.
Aber stellst du dir beim Schreiben und Schneiden nicht die Frage, ob das noch interessant ist oder redundant, warum sich jemand die Szene anschauen soll, warum der Film 90 Minuten haben soll und nicht bloß 45? Das sind ganz einfache Fragen, zu deren Beantwortung man sich in die Position des Zuschauers versetzt.
Gut, einverstanden. Aber als Zuschauer liebe ich Filme wie „La dolce vita”, in denen keine äußerliche Dramaturgie das Geschehen bestimmt, sondern der Verlauf eines Lebens, eine Chronik und keine Konstruktion. Ich mag aber auch Filme, die mit dramaturgischen Mitteln arbeiten, Filme wie Cronenbergs „A History of Violence“, der hat eine sehr simple Dramaturgie…
Oder Godard. Seine Filme aus den 60ern haben immer eine ganz einfache Dramaturgie.
Aber die Dramaturgie ist ehrlich gesagt nicht das, weshalb ich Godard mag.
Das sag ich ja auch nicht, Dramaturgie ist immer nur ein Vehikel…
Was er gemacht hat, war wirklich heilsam. Wenn jemand die Regeln gebrochen hat, dann er. Merkwürdigerweise ist Godard für mich vor allem jemand, der Empfindung und Wahrnehmung auf sehr eindrucksvolle Weise ins Kino gebracht hat. Und wenn ich einen sehr persönlichen Grund nennen sollte, weshalb ich Filme mache, dann, weil ich versuchen will, Empfindungen und Wahrnehmungen wiederzugeben, die ich habe, wenn ich Sachen betrachte, Dinge erlebe. Ich will sie dem Zuschauer zeigen. Und wenn ich ins Kino gehe, sind es genau diese Momente, die ich auf der Leinwand sehen will. Von Godard stammt ein lustiger Satz: „Wir sprechen dauernd über die Freiheit des Ausdrucks, aber nie über die Freiheit des Eindrucks.”
Christoph Hochhäusler (im Publikum): Weil du vorhin von Suspense als Konzept sprachst, vom Schreiben eines Drehbuchs immer mit dem Taschenrechner nebenan. Was dem Suspense ganz entgegen geht – in dieser Szene und im ganzen Film –, ist das, was Marie vorhin die Unreinheit nannte. Es gibt keine Zentralperspektive, es schürzt sich kein Knoten. Also wenn jetzt dieses Kinderdrama sozusagen im Mittelpunkt stünde, das könnte man ja melken, dann würde man aber den Simon nicht so übertrieben reagieren lassen.
Ulrich Köhler: Ich behaupte, sie melkt es, aber sie macht noch etwas anderes.
Christoph Hochhäusler: Ich hab das Gefühl, es gibt eher Parallelen. Eine ist sicherlich die Sorge um diese Kinder. Aber es gibt nie diese Verschränkung zu einem Punkt der Angst. Das ist kein „Kino der Angst“.
Da hat er Recht. Das dauert alles nur sehr kurz. Ich hätte das Verschwinden ausdehnen können, habe ich aber nicht.
Du machst das was nötig ist, um die Spannung aufrecht zu halten. Auch mich interessieren an Godard andere Dinge, aber ich glaube, es ist wichtig zu begreifen, dass auch Filme, die so frei daher kommen wie die von Godard, ohne Dramaturgie nicht funktionieren.
Wenn Ben Gazzara in Cassavetes „The Killing of a Chinese Bookie“ keine Kugel im Bauch hätte, könnte der Regisseur ihn nicht eine halbe Stunde mit seinen Angestellten im Club reden lassen, ohne dass es langweilt.
Ich würde gern noch mal auf „A History of Violence“ zurückkommen. Für mich gibt es da zwei unabhängige Ebenen. Einmal die recht schlichte Suche nach einer Antwort auf die Aggression, ganz klassische Dramaturgie. Und dann einen zweiten, gewissermaßen subkutan oder parallel geführten Film. Ich finde das beeindruckend, wenn es einem Filmemacher gelingt, zwei Filme in einem zu erzählen. Dieser zweite Film handelt davon, wie man Geschichten erzählen kann, wie wir die Fiktion brauchen, um zu einem besseren Zusammenleben zu kommen. Und wenn man das nicht tut, funktioniert es nicht. Das ist unglaublich stark, weil es diese beiden Ebenen gibt. Das gelingt leider selten. Deswegen ziehe ich meist Filme vor, die nicht mit übertriebenen Dramaturgien hausieren gehen. Und was deine Filme anbelangt, habe ich auch nicht den Eindruck, dass hier die Dramaturgie alles beherrscht. Du suchst eher nach Figuren, die an einem entscheidenden und somit dramatischen Moment ihres Lebens angelangt sind. Sie suchen gerade ihren Platz, befinden sich in einem Zustand des Übergangs, der Instabilität. Aber es ist nicht die Dramaturgie, die hier die Spannung vorgibt, sondern diese Instabilität. Und das interessiert mich.
Christoph Hochhäusler: Mich hat diese Szene, wenn das Boot vorbeifährt, an „Apocalypse Now“ erinnert. Da wird die Hochkultur wie eine Bombe abgeworfen und bleibt völlig technisch und äußerlich. Man kann sie nur bewundernd vorbeiziehen sehen und weiter bringt sie nichts ein. Deshalb wollte ich dich nach Hoch- und Populärkultur fragen und wieweit du das Gefühl hast, dass das zutrifft für das Milieu, das du da beschreibst.
Für mich war das etwas Geheimnisvolles, was da vor ihrer Nase vorbeifährt. Etwas, an dem sie nicht teilhaben. Ich habe allerdings, obwohl ich mich für ziemlich politisch halte, nie offen Klassenverhältnisse thematisiert. Mir ging es eher darum, dass auch Menschen, die mit Kunst nicht vertraut sind, davon beeindruckt sein können. Das „Requiem“ von Mozart ist sehr imposant, es sorgt dafür, dass sie alle stehen bleiben, auf das Schiff starren und zuhören. Mit sehr unterschiedlichen Reaktionen. Simon läuft es kalt den Rücken herunter, es macht ihm Angst, kommt ihm makaber vor. Er spürt diesen Beigeschmack des Todes im Requiem. Alle sind berührt, auch wenn es entfernt scheint von ihrem Leben und das zeigt: Ein Kunstwerk kann für Momente jeden berühren, auch wenn seine Reaktion vielleicht die ist, dass es ihm kalt den Rücken herunterläuft und er lieber wieder Fußball spielen möchte.
Auch wenn diese Einstellung nicht durch den Blick einer Figur eingeführt ist, wirkt sie doch wie eine Art falsche Subjektive, das erinnert ein wenig an Antonioni. Vorher sind wir auf der Seite des Kanals, auf der die Picknick-Gesellschaft Fußball spielt. Erst im Schwenk erkennen wir, dass die Kamera eine andere, eher objektiv, auktoriale Perspektive eingenommen hat und auf die andere Seite des Kanals gesprungen ist. Durch die Fenster des Schiffs schauen wir jetzt den Protagonisten dabei zu, wie sie das Schiff betrachten. Wie bist du darauf gekommen?
Das folgt der gleichen Logik, die ich vorhin schon beschrieben habe. Die Logik der richtigen Empfindung. Um an den Empfindungen der Figuren teilzuhaben, um genau so beeindruckt zu sein wie sie, musst du ihre Perspektive verlassen. Deshalb habe ich eine Einstellung gewählt, die es erlaubt, überrascht und beeindruckt zu sein von der Ankunft des leeren Schiffes, der Präsenz der Musik und dem Staunen der Protagonisten auf der anderen Seite des Kanals.
Dir ist schon klar, dass das für den Zuschauer erst mal eine falsche Fährte ist.
Ja, aber das ist mir egal. Es geht mir darum, den Zuschauer in diesem Moment zu packen mit einer starken Empfindung, die auch die Figuren des Films vermutlich haben. Das ist übrigens die einzige Szene mit Kamerakran im ganzen Film. Sieht man kaum.
Das ist gleichzeitig einer der stärksten Momente der Sequenz und einer der größtmöglichen Distanz zu den Figuren.
Das sehe ich anders. Der Eindruck beim Zuschauer ist so schlicht stärker. Darum ging es in erster Linie. Im Sinne der Figuren und der Geschichte.
Für mich ist es ein starker Moment, deshalb will ich da gar nicht widersprechen. Ich wollte noch mal auf die Auflösung zu sprechen kommen: Du arbeitest mit Plansequenzen, auch in dieser Szene. Aber keine Plansequenzen wie bei „Touch of Evil”, die beeindrucken wollen. Du folgst einer Figur, übernimmst dann eine andere, alles in einem Fluss. Planst du das vorher oder entsteht das während des Drehs?
Ich entwickle so etwas vorher, weil ich viel Wert auf diesen Fluss der Abläufe lege, schon wegen der Schauspieler. Besonders bei Gruppenszenen finde ich es wichtig, dass man das Zusammenspiel beobachten kann. Meine Vorüberlegungen verfeinere ich am Drehort und passe sie den Gegebenheiten und den Möglichkeiten der Szene an.
Hast du Konflikte mit Schauspielern, die sich durch die Choreographie eingeschränkt fühlen, weil sie zu einem bestimmten Moment an einem bestimmten Punkt sein müssen?
Nein. Das ist offen genug. Ich lege ihnen ja nicht viele Zwänge auf. Nichts, was sie einschränkt oder fesselt. Das sind Bewegungen, die sich aus der Situation ergeben, die also Sinn machen für die Schauspieler. Und wenn etwas keine Situation ergibt, folgt die Kamera einem anderen.
Du meinst so etwas wie das Fußballspiel?
Auch. Erst spricht der eine außerhalb des Bildes, der den Ball gefunden hat, aber die Kamera bleibt bei Simon, der steht auf, geht zu ihm. Das ist logisch, weil er gerufen wurde. Leon folgt ihm, weil er glaubt, mit dem Stock den Ball aus dem Gebüsch zu bekommen. Antoine folgt einfach so, weil das seine Art ist (Gelächter). Das gehört zu seinem Charakter. Auch vorher schon, als es darum geht zu entscheiden, wo man picknicken soll, sagt er nur, „wie ihr wollt“. Wenn die Schauspieler miteinander Spaß haben, also etwas Kollektives entsteht, dann geht alles von allein.
Wie verläuft die Vorbereitung mit den Schauspielern? Probst du vorab oder nur am Set?
Ich muss mich immer erst mit der Geographie des Drehorts vertraut machen. Das gilt für Innen- wie für Außendrehs. Ich fahre also erst mal mit meiner kleinen Digitalkamera da hin, um mich mit dem Raum vertraut zu machen und zu sehen, wie ich ihn nutzen kann, wie ich die Situation inszenieren will. Später kommen dann die Schauspieler und dann geht’s los. Da ist keine große Strenge am Werk. Wenn eine Bewegung nicht funktioniert, oder etwas nicht fließt, dann passt man das an. Mit den Schauspielern liegt die eigentliche Arbeit deutlich vor dem Dreh. Entscheidend ist die Besetzung. Bei „Lila Lili” war das eine Wahnsinnsarbeit, der wichtigste Teil der Vorbereitung, die ausgebildeten Schauspieler mit den Laien zu mischen. Wir haben immer drei, vier zusammen kommen lassen, um zu sehen, wie sie miteinander funktionieren. Das vervielfacht die Begegnungen und ist wirklich eine tolle Sache, weil sich alle schon vorher kennen lernen. Es hat sich da schon etwas entwickelt. Selbst wenn das nur eine einzige Probe war, ist der Laie nicht mehr eingeschüchtert durch den Profi, und der Profi wird nicht mehr von dem Laien destabilisiert, weil er weiß, was der mitbringt. Das ist unheimlich wichtig.
Wie verlaufen diese Treffen genau?
Ich habe beim Casting mit einer Frau zusammengearbeitet, die sehr gut ist und schon viel mit Jacques Doillon zusammen gearbeitet hat, Marie de Laubier. Zuerst haben wir in den Frauenhäusern gesucht. Wir haben uns mit den Frauen getroffen, die Interesse hatten, und haben kleine Improvisationen gemacht, um herauszufinden, wer wirklich Lust am Spiel hat, für wen das eine natürliche Sache war. Wir haben dann einige eingeladen. Sie mussten also schon mal zu uns kommen und einen Text lernen. Wenn sie zum Vorspielen kamen, haben wir sie immer einem Profi gegenübergestellt, den wir casten wollten. Wir haben dann Bilder der Leute aus beiden Gruppen an eine Wand gehängt. Immer noch, ohne konkret über Rollen nachzudenken. Wir haben eine Menge Leute zu diesen Treffen eingeladen, was bei dieser Art zu arbeiten wirklich Spaß gemacht hat: alle haben das Spiel mitgespielt. Nach und nach haben wir das dann verfeinert und angefangen, über Rollen nachzudenken. Das hat sich ganz natürlich ergeben, die Darsteller finden wie von selbst ihren Platz im Film. Wer in diesen Film passt und wer nicht, das hat auch nichts mit seiner Qualität als Schauspieler zu tun. Es gibt großartige Schauspieler, die einfach nicht passen. Das ist etwas sehr Intuitives. Es gibt eine Reihe bekannter Schauspieler, die solche Proben ablehnen. Ich hab ihnen erklärt, dass es bei diesen Proben nicht darum geht, ob sie gut sind oder nicht. Das weiß man ja, wenn man ihre Filme kennt, sonst hätte man sie gar nicht erst angefragt. Es geht vielmehr darum zu sehen, ob ich Lust habe mit ihnen und sie mit mir zu arbeiten, ob es möglich ist, diese Geschichte zu einer gemeinsamen machen.
Erarbeitest du einzelne Szenen vor dem Dreh?
Nein. Aber wir sehen uns immer wieder und proben.
Szenen aus dem Drehbuch?
Nein. Szenen, die ich drumherum schreibe. Die im Drehbuch sein könnten. Das ist ganz witzig: Manchmal landen diese Szenen sogar im Film. Aber vorgesehen ist das nicht. Und danach, tja, dann wird gedreht. Bei jedem Film treffe ich neue Schauspieler und Laien, aber es gibt so viele, mit denen ich einfach Lust habe noch mal zu arbeiten, weil sich da so was mit der Zeit entwickelt, eine Freude an der gemeinsamen Arbeit. Zum Beispiel mit Antoine Chappey, der in fast allen meinen Filmen mitspielt. Selbst wenn wir drei Jahre nicht zusammenarbeiten, brauche ich dem eigentlich nichts zu sagen. Es gibt da eine Komplizenschaft, auf die einfach Verlass ist. Und wenn sich das herausbildet, dann wird das Drehen leicht.
Christoph Hochhäusler: Wie wichtig ist es, dass hinter der Fiktion die eigene Erfahrung steht? Wo ist da die Grenze?
Am liebsten wäre mir, wenn die Unterschiede so gering wie möglich wären. Wenn ich Filme mache, möchte ich das in Szene setzen, was ich empfinde, wenn ich etwas erlebe, wenn ich etwas sehe oder betrachte. Das ist für mich essentiell. Das heißt aber nicht, dass ich eine dokumentarische Exaktheit anstrebe, zum Beispiel in meiner sozialen Analyse. Genauigkeit strebe ich in der Darstellung der Eindrücke und Gefühle an, die ich hatte, als ich bestimmte Situationen erlebt oder beobachtet habe oder als man mir davon erzählt hat.
Christoph Hochhäusler: Setzt du dich absichtlich Erfahrungen aus für einen Film? Man könnte ja zum Beispiel sagen, ich rudere jetzt mal über den Atlantik, um einen Film über die Kontiki zu machen.
Nein. Ich lebe ganz normal wie jeder andere auch. Das verschafft mir schon genug Empfindungen und Eindrücke. Und davon will ich erzählen. Ich liebe ein Kino, das etwas vom Leben zu fassen bekommt. Das bedeutet zwangsläufig eine gewisse Unschärfe im Verlauf. Das Leben ist eben ganz schön kompliziert und lässt sich nicht konstruieren wie ein Drehbuch, das von A bis Z durchgestaltet ist. Es gibt eine Ausstellung „Correspondances” in Paris über Abbas Kiarostami und Victór Erice, kuratiert von Alain Bergala. Über dem Eingang stand der Satz eines italienischen Regisseurs, von wem weiß ich nicht mehr: „Die erste Generation hat das Leben beobachtet und Filme gemacht. Die zweite hat das Leben beobachtet, Filme gesehen und Filme gemacht. Die dritte hat Filme gesehen und Filme gemacht. Die vierte schaut in Kataloge und macht Filme.” Stimmt natürlich nicht…
Du bist doch genau so pessimistisch.
Nein, ich bin nicht pessimistisch und ich glaube auch nicht, dass das so stimmt. Ich glaube aber, dass dieses Bonmot auf jede Kunstform zutrifft. Es gibt diese Falle der reinen Selbstbezüglichkeit, vor der man sich hüten muss.
Frage aus dem Publikum: Es gibt im Film eine scheinbare Künstlichkeit des Spiels der Schauspieler. Noémie Lvovsky hat das „petit spectacle“ genannt: Menschen, die spielen, dass sie spielen. Ist das eine Tradition im Französischen?
Ich weiß, woher das in diesem Film kommt. Ich habe beim Drehbuch mit einem Autor zusammen gearbeitet, den ich sehr schätze, Jacques Bablon. Ein Freund, kein professioneller Drehbuchautor. Er hat in „Lila Lili” sehr viele Dialoge geschrieben, die waren aber absolut nicht realistisch. Und die Arbeit zwischen uns beiden war, dass ich versucht habe, diese zugespitzten Dialoge, das, was Noémie Lvovsky mit „petit spectacle“ meint, zu übernehmen. Ich liebe solche Dialoge, obwohl das im Widerspruch zu meinem Wunsch zu stehen scheint, vom Leben zu erzählen. Meine Aufgabe war also, diese Dialoge in etwas Realistisches zu überführen, was oft genug hieß, sie in der Arbeit mit den Schauspielern zu vereinfachen, damit sie echter klingen. Das ist aber ein Sonderfall bei „Lila Lili”. Das war anders bei „Petites Révélations”, die ich allein geschrieben habe.
Frage a us dem Publikum: Das Paradoxe ist, dass die Künstlichkeit der Dialoge, diese Überhöhung, den Film realistischer zu machen scheint.
Ja. Diese Künstlichkeit, die gleichzeitig realistisch wirkt, steht in der Tradition des französischen Kinos. Wenn man sich „Toni” von Jean Renoir ansieht, wo er Profis und Laien besetzt hat, oder „Une Partie de campagne”. Später bei Maurice Pialat. Oder Jean-Paul Belmondo bei Godard. Dieser Umgang mit dem Dialog ist unserer Filmtradition schon seit Langem eingeschrieben. Alles zielt auf einen “Wahrheitseffekt”. Das ist für mich sehr wichtig, weil es verhindert, dass das Spiel in Konventionen abgleitet. Mich berühren nur Figuren, die singulär sind, Individuen. Wenn ich die Konvention des Spiels, die Klischees spüre, schreckt mich das jedes Mal ab, auch in französischen Filmen.
Merci beaucoup Marie, vielen Dank.
Revolver live! mit Marie Vermillard, Moderation Ulrich Köhler, Simultanübersetzung Jörg Taszman, anlässlich der DVD-Veröffentlichung von „Lila Lili” in der Filmgalerie 451 am 5.12.2011 im Roten Salon der Volksbühne Berlin. Bearbeitet von Marcus Seibert.