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Interview: Michael Ballhaus

Revolver: Vielleicht können Sie beschreiben, wie „Gangs of New York“ für Sie als Kameramann angefangen hat?

Ballhaus: Scorsese hat eines Tages erwähnt, dass er ein Projekt hat, das er gerne machen möchte. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Dann hat er ein bisschen darüber erzählt, und ich wusste in etwa, worum es geht. Der Film basiert lose auf einem Roman über die Zeit, einem Buch mit dem Titel „Gangs of New York“. Die Geschichte spielt ungefähr 1840 bis 1860, das war die Zeit, als es in Down Town Manhattan enorme Spannungen gab zwischen den sogenannten „Native Americans“ und den „Irish“, die zu Tausenden einwanderten, als in Irland die große Hungersnot war. Diesen Roman habe ich in dem Fall nicht gelesen, weil mich mehr das Drehbuch und der Film an sich interessiert haben.

Praktisch ging es in dem Moment los, als es ein Drehbuch gab. Den ersten Entwurf hat Scorsese mit Jay Cokks geschrieben – ein langjähriger Freund und Partner von Scorsese, der auch an „The Age of Innocence“ beteiligt war – und diese erste Version des Drehbuchs habe ich sehr früh bekommen und natürlich sofort gelesen, verschlungen, wie das immer bei solchen Projekten von Scorsese ist. Diese erste Fassung hatte meiner Meinung nach – und auch nach der Meinung der Produzenten – Probleme, die manchmal bei Projekten auftauchen, die Martin Scorsese mit Jay Cocks schreibt. Und zwar liegt das daran, dass beide unglaublich akkurat die Historie verfolgen – da passiert ihnen eigentlich nie irgendein Fehler – dabei aber ein bisschen die Emotion in den Geschichten aus den Augen verlieren. Es fehlen Symphatie tragende Figuren und es fehlt manchmal ein bisschen das Drama, wobei das natürlich ein erster Entwurf war und alle wussten, dass es noch einige Korrekturen geben würde. Ich meine, die einfachen Leute, die ins Kino gehen und ihre mittlerweile 10 Dollar bezahlen – was eine Menge Geld ist in Amerika – die wollen eine spannende Geschichte zwischen Leuten sehen, die sind an Historie nicht so interessiert. Ich habe das Drehbuch damals auch ein paar Leuten zu lesen gegeben, die mit Film nicht viel zu tun haben. Wir haben sehr nette Nachbarn in Los Angeles, er ist Anwalt, und die haben das gelesen und gesagt: Ich weiss jetzt mehr über die Zeit, aber als Film kann ich es mir nicht so richtig vorstellen.

Der nächste Schritt war, dass darum gerungen wurde, welches Studio dieses Projekt macht. Letztlich war es dann Miramax. Harvey Weinstein, der Chef von Miramax, ist ein anderer Produzent als die Produzenten, mit denen Scorsese vorher zu tun hatte – der ist ziemlich „hands on“. Wenn Scorsese sonst einen Film gemacht hat für ein Studio, dann haben die gesagt „ … gut, das ist Scorsese, hier ist das Geld, mach deinen Film.“ Harvey Weinstein hat gesagt: „Marty, wenn du 30 Millionen für einen Film haben willst, hier nimm sie, mach was du willst. Aber wenn du einen Film machen willst für 80, 90, 100 Millionen, dann müssen wir darüber reden. Denn es geht hier um viel Geld, da steht eine Menge auf dem Spiel.“ Da die letzten beiden, oder eigentlich die letzten drei Filme von Scorsese an der Kasse nicht so sehr erfolgreich waren („Bringing Out the Dead“, „Casino“, „Kundun“), wiegt das natürlich besonders schwer. Er ist ja wirklich nicht bekannt dafür, kommerzielle Filme zu machen. Also hat sich Harvey Weinstein sehr stark – ich möchte nicht sagen: eingemischt – er hat sich sehr eingesetzt dafür, dass das Buch kommerzieller wird, dass es emotionaler wird. Es wurden dann also drei Autoren engagiert, die mit Scorsese das endgültige Drehbuch geschrieben haben.

Wie nehmen Sie da Einfluss?

Einfluss ist nicht das richtige Wort. Wir sprechen darüber. Natürlich sage ich ihm meine Bedenken. Die erste Version war 145 Seiten lang, da habe ich gesagt: Marty, das scheint ein bisschen lang zu sein. Und diese oder jene Figur scheint mir noch ein bisschen zu wenig Fleisch zu haben, solche Sachen. Aber wir haben fest verabredet, den Film zusammen zu machen. Dann ging also die Wartezeit los, etwas, was ich mit ihm unheimlich oft erlebt habe. An dieser Wartezeit sind die letzten drei Projekte mit Scorsese gescheitert. Wir wollten eigentlich immer zusammenarbeiten und es lag eigentlich immer an den unglücklichen Umständen, dass es nicht geklappt hat. Gut, „Bringing Out the Dead“ war nicht unbedingt mein Lieblingsfilm. Den hätte ich eigentlich nicht so gern gemacht. Und „Kundun“ hätte ich gerne gemacht, aber das war auch ein sehr ausgefallenes und spezielles Projekt … Ich habe einfach die Einstellung, wenn man einen Film macht, der so viel Geld kostet, muss man auch ein bisschen ans Publikum denken.

Wenn ich davon ausgehe, dass ein Kameramann jemand ist, der Bilder organisiert, dann ist die Herausforderung ja doch die gleiche, egal ob ein Film viel Publikum findet oder wenig. Woher kommt die Sehnsucht, von der Masse gesehen zu werden?

Ich habe in meinem Denken von Anfang an das Publikum miteinbezogen. Ich habe immer gedacht: Ich arbeite in einem Medium, das sehr teuer ist, und wenn man etwas macht, was sehr viel kostet, muss man sich überlegen, für wen man das macht. Wieviele Leute wollen dieses Produkt kaufen? Wenn man Filme macht, wie ich sie mit Fassbinder gemacht habe, dann ist es nicht so wichtig, ob das nun ein grosser Kassenerfolg wird oder nicht. Aber je höher das Budget bei einem Film ist, desto grösser die Verantwortung.

Das ist eine ethische Frage für Sie?

Ja. Aber es ist auch einfach die Basis des Geschäfts, in dem ich arbeite. Abgesehen davon mache ich natürlich lieber erfolgreiche Filme als erfolglose.

Bei diesen „Maschinenfilmen“ mit Hunderten von Mitarbeitern – haben Sie da das Gefühl, dass sie wegen dieser Größe Kompromisse machen, im Sinne dessen, was Sie tun wollen als Kameramann? Im Sinne Ihrer Bilder?

Zum Teil muss man das machen. Das hängt sehr stark von der Geschichte und den Schauspielern ab – und von dem Regisseur. Es gibt natürlich Situationen, wo man Kompromisse macht, zum Beispiel in der Beleuchtung, wenn man eine Schauspielerin oder einen Schauspieler besonders gut aussehen lassen muss.

Wie war das bei „Gangs of New York“?

Keine Kompromisse. „Gangs of New York“ war einer der Filme, die absolut kompromisslos waren. Ich musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Ich konnte exakt das machen, was ich wollte. Das war das Wunderbare an dem Film: Dass es wirklich nur darum ging, die Geschichte so gut wie möglich zu erzählen.

Vielleicht können wir noch mal zurück gehen zu den Anfängen des Projekts …

Ja also aus verschiedensten Gründen verschob sich das Projekt immer weiter und immer weiter. Und am Schluss haben wir dann statt im Winter 1999 im September 2000 angefangen. Das Buch war zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht fertig, es wurde während der ganzen Dreharbeiten weiter daran geschrieben. Der Vorlauf war eigentlich zu kurz, ich hatte nur acht Wochen Vorbereitungszeit, für so ein grosses Projekt sehr wenig. Auch Scorsese war nicht so vorbereitet, wie er das normalerweise ist. Bei „Age of Innocence“ zum Beispiel hat er eine ganz ausgefeilte Shotlist gemacht. Bei diesem Projekt war das nicht möglich – weil das Buch noch nicht fertig war, weil die Zeit knapp war und weil viele andere Dinge ihn abgelenkt haben. Das alles machte letztlich nichts, weil wir eine sehr enge Beziehung haben und uns sehr gut kennen – ich schätze ihn über alles – so dass man sehr locker improvisieren konnte. Manchmal ist es sogar ein bisschen spannender, wenn man das am Set direkt entscheidet, als wenn man es in seiner Kammer ausbrütet. Da kann man sich gute Sachen ausdenken, aber manchmal ist die Realität eines Sets oder einer Situation einfach stärker und es fallen einem neue und bessere Sachen ein.

Sie sind ja eher dafür bekannt, gut vorbereitet an den Set zu kommen …

Ich war es nicht gewohnt, so mit ihm zu arbeiten. Bisher war es so, dass mein Herz höher geschlagen hat, wenn ich seine Shotlist gelesen habe, weil es wunderbare Einfälle waren, tolle Bilder, die meine Fantasie beflügelt haben. Das ist mit anderen Regisseuren nicht so, weil sie einfach nicht diese visuelle Vorstellung haben, diese Vision, wie ein Film aussehen soll. Auf der anderen Seite hat es mich sehr gefreut, dass hier eine andere Offenheit entstand, eine andere Offenheit auch, auf Dinge einzugehen, die von mir kommen. Das war eine neue Erfahrung mit ihm und eine gute Erfahrung.

Wie funktioniert die Verständigung darüber, wie der Film aussieht?

Da gibt es eine Verständigung auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel sehen wir uns viele Filme gemeinsam an.

Die sehen Sie sich dann zusammen an … und sagen: „Oh, diese Einstellung …“

Ja. Wir sehen uns das zusammen an und er beschreibt, was ihn daran interessiert. In dem Fall kam auch von mir eine Anregung. Es gibt eine sehr schöne Liebesszene zwischen Leonardo diCaprio und Cameron Diaz in dem Film. Und da kam mir eine Szene aus „Die Bartholomäusnacht“ („La Reine Margot“) von Patrice Chéreau in den Sinn, einem Film, den ich sehr mag. Die erste Begegnung von Isabelle Adjani mit ihrem Liebhaber in der Nacht, auf der Straße: Das ist für mich eine wundervolle Liebesszene. Und ich wollte unbedingt, dass Marty das sieht. Er kannte den Film nicht, also haben wir ihn uns zusammen angesehen, im Kino. Und ich habe auch den Schauspielern eine DVD von dem Film gegeben, damit sich die das auch ansehen können. Bei solchen Szenen ist Marty manchmal ein bisschen scheu und ich wollte einfach, dass diese Szene wirklich Kraft hat – wie in dem Film von Chereau. Und als wir das dann gedreht haben, lief es erstaunlich gut.

Rembrandt war auch eine grosse Anregung für „Gangs of New York“. Dieses Rembrandtsche Licht … Marty hat mir „Rembrandt’s Eyes“ von Simon Schama geschenkt. Natürlich habe ich die meisten Bilder in Museen gesehen. Wir gehen viel in Museen – meine Frau und ich. Das ist für mich eine ganz starke Inspiration. Rembrandt hat ja ein überraschend simples Licht benutzt, oft nur eine einzige Lichtquelle … Und da die Zeit, in der der Film spielt, vom Licht her ebenfalls sehr einfach war, war Rembrandt natürlich eine gute Anregung.

Es geht bei Rembrandt ja immer um die Frage, was ans Licht darf – und was im Dunkel bleiben muss.

Ja, genau, darum geht es. Das werdet ihr viel sehen in „Gangs of New Yorks“ … Sehr viel Dunkelheit, sehr viel schwarz, und sehr einfaches Licht.

Sie sind zufrieden mit dem Ergebnis?

„Gangs of New York“ ist, glaube ich, meine beste Arbeit bis jetzt. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die Meinung von Leuten, auf die ich sehr viel gebe. Weil ich eben keine Konzessionen machen musste. Ich konnte machen, was ich wollte. Und ich hatte alle technischen Möglichkeiten. Wir haben ungeheure Sachen gemacht, die ich vorher noch nie gemacht habe – aber immer mit einem ganz starken Bezug zur Geschichte.

Wenn Sie ihre Filme rückblickend betrachten, was sind wichtige Filme für Sie?

Also die Meilensteine fangen eigentlich mit Fassbinder an. Einmal war das „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, unser zweiter Film, der in zehn Tagen für 150.000 Mark entstanden ist. Immer noch ein Film, der standhält, finde ich. Dann finde ich „Bollwieser“ eine gute Arbeit. Und „Die Ehe der Maria Braun“ war sicher auch so ein Meilenstein, unser letzter gemeinsamer Film. In Amerika war „After Hours“ ganz wichtig, die erste Zusammenarbeit mit Scorsese, die mir die gesamte Branche in Amerika geöffnet hat, weil Scorsese in Amerika einen sehr hohen Stellenwert als Künstler hat. Dann die nächste Arbeit mit Marty, „Color of Money“, der erste Film, der über 10 Millionen Dollar gekostet hat, was damals sehr viel war. Das war mein erster Film, den ich nicht selber geschwenkt habe … Ja und dann „GoodFellas“ und „Age of Innocence“. Die sind so unterschiedlich und bei mir durch die Dreharbeiten sehr stark emotional belastet. Wie das immer bei Filmen ist. Die Arbeit bei „GoodFellas“ war schwierig. Sie war von vielen Hindernissen geprägt, Spannungen zwischen Regie und Schauspielern, Spannungen unter den Schauspielern, Spannungen mit dem Milieu – wir hatten ja auch viele „echte“ dabei – aber als er fertig war, als ich den Film geschnitten gesehen habe, habe ich ihn als ein Meisterwerk empfunden. Ich sass im Kino und habe vergessen, dass ich den Film gedreht habe. So war ich von dem Film überrascht, von seiner Dynamik, seiner ungeheuren Kraft und der Ehrlichkeit seiner Geschichte gegenüber. Bei „Age of Innocence“ war das natürlich ganz anders. Das ist eine Geschichte, die spielt in einem Milieu, das ich mag, in einer schönen Umgebung, mit wunderbaren Schauspielern. Man kann sich mit den Menschen identifizieren, mit der Liebesgeschichte. Das ist so etwas, da bin ich rundherum glücklich. Und dann war er natürlich ästhetisch auch nicht so schlecht (lacht) und deshalb habe ich immer gesagt, das ist mein Lieblingsfilm. Aber im Nachhinein betrachtet ist sicher „GoodFellas“ der aufregendere Film. Sagen wir mal so. Einer der wirklich besten Filme, als Film betrachtet.

In diesem Film hat Ihre Arbeit eine vollkommene Balance. Während es bei anderen Filmen vorkommt – mir geht es jetzt nicht darum, zu mäkeln – dass ich sage: Kriegskind, zu viel Zucker.

(Lacht) Sagen sie doch mal ein Beispiel. Das würde mich sehr interessieren, wo zum Beispiel zuviel Zucker ist?

„Quiz Show“ zum Beispiel. Ich meine, er ist toll gemacht, überhaupt keine Frage, und er ist auch gute Unterhaltung – insofern geht es wirklich um den Olymp sozusagen – aber er hat nicht dieses Vertrauen in die Bilder, nie mehr zu machen als nötig … Dabei ist „GoodFellas“ auch opulent …

Aber er ist trotzdem immer sehr rauh.

Ich finde, „GoodFellas“ trifft einen wahnsinnig tief, weil nie das Gefühl aufkommt: „Oh, das ist aber auch schön geleuchtet.“

Ja, das stimmt. Natürlich habe ich einen Hang dazu, etwas schön zu machen. Ich habe einen Hang dazu, schöne Bilder zu machen.

Es gibt so eine Tradition, ein bestimmtes Talent, das jemand hat, zu kontern, damit es sich voll entfalten kann. In diesem Sinne scheint Scorsese ein idealer Partner für sie zu sein. Wenn man das in „Plus“ und „Minus“ ausdrücken wollte, würde „Plus-Minus“ gut funktionieren, aber „Plus-Plus“ und „Minus-Minus“ weniger gut. Scorsese-Ballhaus ist für mich „Plus-Minus“, oder Fassbinder-Ballhaus. Während Redford-Ballhaus eher „Plus-Plus“ ist, da doppelt sich etwas … Können Sie damit etwas anfangen?

Doch, doch, schon. Wobei ich witzigerweise sehr gerne mit jemanden wie Redford arbeite, eben weil es in meine Richtung geht, weil es „Plus-Plus“ ist. Aber das ist witzig. Man müsste dann eigentlich mehr mit Regisseuren arbeiten, die einem entgegengesetzt sind. Aber dann sind die anderen wieder so nett und die Geschichten so schön (lacht).

Sie haben vorher mit Augenzwinkern angedeutet: Noch fünf Jahre, noch fünf Filme … Wenn Sie jetzt nur noch fünf Filme machen könnten, welche würden sie machen wollen?

Auf jeden Fall sind bei den fünf Filmen – hoffentlich – zwei Scorsese dabei. Wir haben Pläne für zwei Projekte, die Harvey Weinstein für Marty gekauft hat, die sehr interessant sind. Ganz sicher ist ein Redford dabei. Da gibt es ein schönes Projekt, das er schon lange lange machen will, was mich sehr interessiert. Das basiert auf einem wunderbaren Buch namens „Time and Again“. Dann gibt es ein, zwei Regisseure, mit denen ich noch nicht gearbeitet habe, aber gerne arbeiten würde. Der eine ist Anthony Minghella, der Regisseur von „The English Patient“. Wir haben uns ein paar mal getroffen und wir mögen uns sehr. Ich hätte gerne „The English Patient“ gemacht – ich habe damals zufällig das Drehbuch gelesen und das hat mir so gut gefallen, dass ich die angerufen habe und gesagt habe, ich würde den Film gerne machen.

Das ist eher die Ausnahme?

Absolut die Ausnahme, sonst mache ich das nie. Aber in dem Fall hat mir die Geschichte so gut gefallen und dann haben die aufgeschrieen und haben gesagt: Wir haben das angeboten, wir haben ihren Agenten angerufen, der hat gesagt, sie haben keine Zeit. Da habe ich gesagt, das stimmt, da war ein anderes Projekt, aber das hätte ich abgesagt dafür! Und da hatten sie schon einen anderen engagiert, also war es zu spät. Und beim nächsten Film war es so, dass Minghella das ganze Team von „The English Patient“ wieder engagiert hat, weil da alle für wenig Geld gearbeitet hatten – und dann hat er natürlich auch John Seale wieder gefragt. Aber wir haben uns versprochen, dass wir mal einen Film zusammen machen. Der ist auf meiner Liste, den finde ich sehr, sehr gut. Ein sehr sensibler Mann und ein sehr guter Autor und jemand, mit dem ich sehr gut zusammenarbeiten könnte. Ich glaube, ich habe eine Sensibilität für seine Geschichten, die sehr nahe an dem liegt, was er sich vorstellt. Das ist so eine Seelenverwandtschaft.

Und jetzt würde noch ein fünfter fehlen.

Ich habe gerade ein Buch in Form eines Arbeitsgesprächs mit Tom Tykwer gemacht (das Buch erscheint im Sommer 2002 im Berlin Verlag), und da hat er mich auch gefragt, mit wem ich noch gerne zusammenarbeiten wollte. Und da meinte ich: Mit Wong Kar-Wai, weil ich den sehr verehre. Und dann sagt Tom: Weiss der das? Da habe ich gesagt: Ich glaube nicht. Und Tom meinte, ich solle es ihn doch wissen lassen. Ich habe dann meiner Agentur Bescheid gesagt, es gab so einen kleinen Fax-Verkehr, und dabei stellte sich heraus, dass auch er meine Arbeit sehr schätzt. Und jetzt machen wir einen Film zusammen. Das ist ein Episodenfilm mit dem Titel „Eros“. Eine Episode hat Michelangelo Antonioni gedreht, eine wird Pedro Almodóvar machen und die dritte Wong Kar-Wai. Das ist im Februar, relativ kurz, 6 Wochen in Shanghai, also eine ideale Gelegenheit, sich kennenzulernen.

Eine Zusammenarbeit mit Tom Tykwer war auch mal im Gespräch?

Nein eigentlich nicht … Ich schätze Tom sehr. Er hat eine Bildphantasie, die mich interessiert. Ich finde auch seinen neuen Film „Heaven“ sehr gut. Wirklich ein wunderbarer Film, für mich das Beste, was er bisher gemacht hat. Tom ist von seiner Herangehensweise – könnte ich mir vorstellen – so ein „Controlfreak“. Ich meine das gar nicht negativ. Das muss man in Deutschland wahrscheinlich sein, um einen guten Film zu machen. Einfach weil es in Deutschland nicht die finanziellen Möglichkeiten gibt wie in Hollywood.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass wir, inmitten dieser Lawine an Bildern, die durch das Fernsehen auf uns eindringen, irgendwann nichts mehr finden können, weil alles schon da war?

Ich glaube, es ist ziemlich unerschöpflich. Aber natürlich hat sich die Bildsprache in den letzten Jahren sehr stark verändert. Die Syntax ist eine andere geworden. Ich glaube, dass man heute Filme ganz anders aufnimmt, ganz anders sieht …

Was heisst anders?

Schneller. Die Sprache ist schneller geworden, der Film spricht viel schneller zu den Leuten und die Leute verstehen schnellere Sprechweisen. Das heisst nicht, dass das immer unbedingt gut ist … Irgendwann spricht er zu schnell und man versteht nichts mehr. Mir geht das schon manchmal so bei Filmen, dass ich zwei Stunden später nicht mehr weiss, wovon der Film gehandelt hat. Bei „Matrix“ zum Beispiel. Da kommt so eine Lawine von Bildern auf mich zu … Irgendwann schalte ich ab, irgendwann kommt das nicht mehr an bei mir. Und dann sehe ich Filme, die sind von einer ungeheuren Statik und einer ungeheuren Ruhe und jede Einstellung dauert mindestens zwei Minuten, und ich sitze gebannt drin und folge der Geschichte und bin fasziniert davon. Es ist ja immer ein Pendel. Es schlägt in eine Richtung aus, alles wird ganz hektisch und schnell und irgendwann – das hoffe ich schon seit Jahren – schlägt das Pendel auch wieder zurück. Und dann kommt es eben plötzlich zu Filmen, die eine ganz ruhige und konzentrierte Sprache haben. Ein Film, der mich fasziniert hat, der so völlig aus dem Konzept der heutigen Filme herausfällt, war „L’Humanité“ von Bruno Dumont … habt ihr den gesehen?

Ja, ein grossartiger Film.

Ein wunderbarer Film. Da sitzt man ganz gespannt drin und es passiert eigentlich nichts und es ist fantastisch. Das ist der Gegenpol zu „Matrix“. Ich bin eigentlich immer unheimlich neugierig auf neue Sachen. Ich war fasziniert von einem Film wie „Das Fest“. Meine erste Begegnung mit Dogma war in Cannes 1996, da war ich in der Jury. „Breaking the Waves“ hat mich schockiert. Das ging so gegen meine Art und Weise, in Bildern zu denken, wie man es sich nur vorstellen kann. Alles Handkamera, alles wackelig, das Licht gegen die Decke geklatscht … Und trotzdem ist das eine Geschichte, die einem im Nachhinein bleibt. Auf dem selben Festival lief ein Film, der genau das Gegenteil von Lars von Trier gemacht hat, nämlich „Secrets and Lies“ von Mike Leigh. Ein Film mit Einstellungen, die zum Teil, ich weiss nicht, neun Minuten lang stehen … Und ich dachte, das kann doch nicht sein, dass das der neue Stil ist. Und dann gukkt man zurück und hat 35 Filme gesehen und was bleibt? Es bleiben Mike Leigh und Lars von Trier … Aber natürlich auch so ein Film wie „Fargo“ von den Coen Brüdern. Filme, die aussergewöhnlich sind. Wo man sich sagt, was hat die Kamera eigentlich für eine Funktion in einem Film? Wenn es eine tolle Geschichte ist, mit tollen Leuten, kann die Kamera eigentlich machen, was sie will.

Aber gleichzeitig ist die Kamerasprache in diesen Filmen sehr kalkuliert.

Ja sicher. Auch bei Mike Leigh ist es ganz stark kalkuliert. Das löst ja auch einen ungeheuren Sog aus, wenn man zwei Typen neun Minuten am Tisch sitzen sieht, die miteinander sprechen. Das ist ja dann auch wieder faszinierend. Wo man sich sagt: Wo bleiben denn all die Regeln, die man jahrelang angewendet hat? Von der Konzeption des Regisseurs ist das genial und toll, aber in der Ausführung – wo bin ich denn dann noch? Aber das muss man dann einfach über Bord werfen.

Lars von Trier hat einmal gesagt, er sei so verführbar von Technik, dass er sich Regeln geben müsse. Dogma ist ja im Grunde auch nichts anderes als eine Liste von Verboten.

Es ist manchmal nicht einfach. Ich glaube, es ist keine schlechte Anregung, mal wieder einen rauhen Film zu machen. Ich mochte „Das Fest“, ein enorm guter Film. Aber ich weiss nicht, ob ich den hätte machen können …

Es geht ja immer um Strategien, das eigene Talent so herauszufordern, dass es nicht in die Richtung fliesst, die man ohnehin schon beherrscht. Ich stelle immer wieder fest, dass man dort, wo die Reibung grösser ist, auch zu grösseren Wahrheiten kommt. Natürlich kennt das Hollywood-System Reibung, aber ich frage mich, ob es gerade für ihren Beruf dort nicht immer einen Lastwagen zuviel gibt, sozusagen.

Natürlich gibt es das. Und das ist auch eine grosse Verführung, weil die in Hollywood natürlich das schöne Kino wollen, das elegante. Solche Geschichten wie „GoodFellas“ sehen die nicht gerne. Das sind nicht die Erfolgsgeschichten von Hollywood. Deshalb überlege ich auch manchmal, ob ich nicht mal wieder einen Film in Europa mache, wo die fünf Lastwagen nicht da sind. Natürlich wird man verführt. Und ich bin natürlich auch nicht frei davon …

Und Sie verführen gerne.

Auch das.

Aber es ist nicht so, dass Sie das Vertrauen verloren haben, mit einer Ausrüstung wie zu Fassbinder-Zeiten einen guten Film machen zu können?

Nein, absolut nicht. Das könnte ich jederzeit und wollte es auch gerne. Ich bin da ganz offen. Nur ist es so, dass man in Hollywood, wo ich jetzt stehe, solche Angebote kaum bekommt.

Welche Geschichten interessieren Sie besonders?

Klassischerweise sind das unerfüllte Liebesgeschichten … Das sind Geschichten, die mir unheimlich liegen, weil sie sehr emotional sind. Das finde ich wichtig, wenn man ins Kino geht. Ich finde, wir haben in unserer Zeit ein Manko an Emotionen. Wenn jemand heute ins Kino geht, sollte das nicht nur unterhaltend sein, sondern den Menschen auch emotional etwas mitgeben. Die sollen aus dem Kino kommen und sagen können, sie hätten etwas gelernt über sich … sie haben eine Figur gesehen, die etwas gemacht hat, was sie vielleicht auch gern machen möchten, aber sich nicht trauen. Sie haben sich verändert. Es ist manchmal so schwer, sich zu verändern, etwas Neues zu sehen. Oder über sich nachzudenken. Und jeder Film, der den Menschen hilft, der sie bereit macht, sich zu öffnen, ist ein wichtiger Film, finde ich.

Das Gespräch führten Hans Steinbichler und Christoph Hochhäusler am 19. Juli 2001 in Berlin. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler. (Die Ergänzung zum Thema Wong Kar-Wai entstand bei einem kurzen Nachgespräch am 10.01.2002 in München.)

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