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Wilde Erdbeeren: Eoin Moore

Wir haben Eoin Moore um eine Auswahl gebeten. Er hat sie uns aus Irland geschickt, wo er an seinem neuen Film „Connemara“ (Arbeitstitel) arbeitet. Er schreibt: „Wie bei Plus Minus Null werde ich lange mit den Schauspielern an den Figuren arbeiten – insgesamt 3 Monate – danach die Geschichte schreiben und hoffentlich im Mai/Juni 1999 drehen. Es ist so schön hier!“

In „Naked“ von Mike Leigh (GB 1993) begegnet Johnny (David Thewlis) einem merkwürdigen Schotten, Archie. Archie zuckt ständig derartig mit dem Kopf, daß Johnny endlich fragt, „Warum machst du das?“ „Was?“ „Na das mit dem Kopf, so…“ Archie überlegt und findet schließlich seine Antwort: „Fuck off!“ Und dann das schönste von Thewlis: „What is it like being you?“ Selten hat eine so fundamentale Frage so gut funktioniert im Film.

„Gummo“ von Harmony Korine (USA 1997) ist einer dieser schrecklich schönen Filme, die einen gleichzeitig faszinieren und anekeln. Eigentlich weiß ich nicht, ob er mir gefallen hat. Aber nach so viel Gewöhnlichem im Kino, immer die selbe Art, die selben Geschichten, die selbe Sprache… da war was, etwas völlig neues, ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte. Ein Film, der mir Mut macht, daß noch nicht alles gemacht worden ist. Die besonders wilde Erdbeere in „Gummo“ ist eine Szene, wo der häßlichste Filmheld aller Zeiten in der Badewanne sitzt und gleichzeitig Spaghetti mit Ketchup und einen Schokoriegel in sich hinein schiebt. Ich war wie festgenagelt.

„Breaking the Waves“ von Lars von Trier (DK/NL/S/F 1996) gilt in seiner Ganzheit schon als Wilde Erdbeere für mich, doch mein Lieblingsmoment ist in der Hochzeitsnacht, als Bess (Emily Watson) zum ersten Mal den Schwanz ihres Mannes sieht und anfaßt, ihren ersten Schwanz überhaupt. Ihre Reaktion, eine blitzschnell wechselnde Mischung aus Scham, Naivität, Neugier, Frechheit, Albernheit und Liebe bleibt unvergeßlich. Selten hat mich eine Schauspielleistung so beeindruckt. Vor einigen Wochen stand ich in Cork beim Filmfest nur zwei Meter weg von Emily Watson und mir wackelten die Knie.

Weinen im Kino braucht keine weitere Erklärung oder Beschreibung. Ich habe selten im Kino geweint, einige Male kann ich aufzählen:

In „Paris, Texas“ (Wim Wenders, D/F/GB 1984), als Jane (Nastassja Kinski) in ihrer Stripshowkabine hockt und langsam realisiert, daß es Travis (Harry Dean Stanton) ist, der hinter der verspiegelten Scheibe sitzt;

In „Cinema Paradiso“ (Giuseppe Tornatore, I/F 1988), als der Filmprojektor umgedreht wird, um das laufende Bilddurch das Fenster auf den Platz vor dem Kino zu werfen; Dreimal habe ich bei „Slam“ (Marc Levin, USA 1998) geweint. Selbst als ich nach dem Film jemandem davon erzählte, kamen mir die Tränen. Ich kann es unmöglich beschreiben, wie bewegend die Slam-Poetry-Gedichte, die darin vorkommen, waren. Irgendwann habe ich die einzelnen Worte der Gedichte nicht mehr verstanden, aber das war unwichtig.

Als E.T. stirbt, in „E.T., the Extraterrestrial“ (Steven Spielberg, USA 1982);

Häufig kamen die Tränen bei „Ladybird, Ladybird“ von Kenneth Loach (GB 1994). Vielleicht, weil ich selber zwei Kinder habe. In dem Film verliert eine Frau alle ihre sechs Kinder an das Jugendamt, eines nach dem anderen, manche gleich nach der Entbindung. Meine Frau und ich haben uns nach dem Abspann erstmal für eine Weile umarmt und getröstet.

Als unser kleines Team eine Szene für „Plus Minus Null“ auf einem Dach in der Frankfurter Allee in Berlin drehte, hatten wir einen so atemberaubenden Ausblick über die Stadt bei Nacht, daß wir dreimal so lange für die kurze Szene brauchten. Dann ging die Sonne langsam über die Dächer auf, und wir bauten sehr zögerlich ab. Schließlich standen wir still herum, einige hielten sich in den Armen, und wir wollten uns von dem Moment nicht trennen, obwohl, oder grade weil wir siebzehn Stunden gedreht hatten. Und ich wußte, der Film wird niemals so schön sein wie der Dreh war. Deswegen mache ich Filme, nicht für die neunzig Minuten bei der Premiere.

Schließlich erwähne ich noch die Gegend, wo ich bis zum nächsten Sommer wohne und den nächsten Film drehe. Es ist Connemara an der Westküste Irlands, wo der Atlantik die Küste in kleine Inseln und Halbinseln zersplittert hat. Die Landschaft ist wild und rauh, und alle paar Kilometer völlig anders. Wenn die Sonne aufgeht und alles von unten beleuchtet, die Sonnenstrahlen die klare Luft ungehindert durchstechen, und alles wie neu glänzt, weil es schon wieder kurz geregnet hat… Diese Gegend ist ein unauffälliger, unprätentiöser Juwel der Welt. Ich liebe den Film, weil er mich hierher geführt hat.

Eoin Moore

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