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Interview: Georg Seesslen

Revolver: Warum schreiben sie?

Seesslen: Das Wichtigste ist der Spass. Für manche ist das ja Schreiben zweiter Klasse, aber für mich ist eine Filmkritik zu schreiben ein genauso kreativer Vorgang wie einen Film zu machen. Es ist ein Vorgang, der mit Frust zusammenhängt, mit Vorbereitung, Technik und Handwerk. Wenn man Teil dieser Filmkultur wird, geht es nur darum, seinen Punkt zu finden, aber letztendlich geht alles durch den Kopf. Es geht durch die Köpfe der Regisseure und durch die Köpfe der Kritiker. Und es sind auch die selben Dinge, die durch die verschiedenen Köpfe gehen.

Als sie angefangen haben, was hatten sie da für eine Vorstellung von Filmkritik?

Ich habe nicht angefangen als Filmkritiker. Eigentlich habe ich nie das Selbstverständnis gehabt, ein Filmkritiker zu sein. Im Grunde war es immer schon die Metafrage, die mich interessiert hat. Warum sehen wir das, was wir sehen und sehen nichts anderes? Und warum ist das, was wir sehen – auch über das Kino hinaus, in anderen Medien – warum ist das so teuflisch limitiert? Warum gibt es diese unglaubliche Ordnung in den Dingen? Es war natürlich logisch, dass mich da die strukturalistische Methode und auch Mode sehr beeinflusst hat in dieser Zeit, Mitte der Siebziger Jahre. Eigentlich war es immer die Idee, in der Überlegung über Film dorthin zu kommen, was eine Gesellschaft eigentlich ausmacht. Wieso Kommunikation funktioniert oder nicht funktioniert.

Gibt es so etwas wie existenzielle Geschichten? Geschichten, die wir brauchen, die wir nötig haben, um zu überleben?

Was wir primär brauchen sind Hilfen für bestimmte Transitionssituationen – Geburt, Erwachsenwerden, die ersten Erfahrungen mit Krankheit. Da gibt es sicherlich so etwas ganz Archaisches, was nie verschwinden wird. Geschichten und Bilder sind dann so etwas wie Teddybären. Begleiter in Phasen, wo ich meine Einsamkeit spüre. Geschichten und Bilder sind immer noch besser, als ganz alleine zu sein. Also das existenzielle Erzählen ist wahrscheinlich immer das Ausfüllen der Lücken, die sich ergeben durch solche Ablösungsprozesse. Und nicht nur diese archaischen Ablösungsprozesse, sondern auch gesellschaftliche Ablösungsprozesse. Für mich ist dieser Satz von Godard entscheidend gewesen, wo er sagte – in Bezug auf Hitchcock – dass er einem hilft, ohne die Götter in Würde zu leben. Wenn ich jetzt nicht die Kritik, sondern das Gegenteil, wenn ich die Begeisterung, die Sehnsucht beschreiben müsste, dann wäre es immer diese Suche nach dem, was dem Menschen hilft, in Würde zu leben.

Hat das Kino noch seine Rolle als Geschichtenerzähler?

Ich weiss gar nicht, ob es diese Rolle je gehabt hat. Es ist ja immer wesentlich mehr gewesen als ein Geschichtenerzähler.

Nach dem Verlust der „grossen Erzählung“, in der wir alle irgendwo aufgehoben waren – also dem Christentum, für meine Generation war das sicherlich auch die marxistischen Erzählung noch ein bisschen – wo alles seine Ordnung, seinen Sinn, sein Ziel hat – war das Kino eine der wichtigsten Möglichkeiten, noch einmal die Vision einer Totalität zu haben. Ich gehe ins Kino und die ganze Welt ist vor mir und erklärt sich – und bleibt genauso wie ein heiliger Text vieldeutig. Wenn ich „The Searchers“ sehe, müssten da eigentlich alle existenziellen Fragen drin stecken, die ich je in meinem Leben gehabt habe oder haben werde … Wenn ich den Film ernst nehme.

Und diese existenziellen Fragen haben heute nur noch Teenager? Brauchen die diese Filme stärker? Findet man sich später ab damit, einsam zu sein?

Ich denke, dass da eine ganz wichtige Unterscheidung zu machen ist. Also zum Einen gibt es das Kino als einen sozialen Ort, wo auf eine bestimmte Weise Filme vorgeführt werden – und zum Anderen gibt es das Kino als Wahrnehmungszustand. Und das Kino als Wahrnehmungszustand hat seinen Siegeszug eigentlich schon hinter sich. Wir brauchen das Kino als sozialen Ort immer weniger, weil immer mehr Kino im unserer Umgebung steckt. Ich meine nicht nur das Fernsehen, also Verkleinerungen, Intimisierungen, sondern auch, dass unsere Städte immer mehr wie Kino funktionieren, dass unsere Kommunikationsformen immer mehr wie Kino funktionieren. Das manifeste Kino, das „echte Kino“ sozusagen, wird in der Tat immer marginaler.

Der Teenagermarkt ist der ökonomisch wichtigste, aber es gibt sicherlich auch so etwas wie ein Kino der Midlife-crisis. Und auch ein Alterskino. Aber das manifeste Kino hat sich stärker konzentriert auf die biographischen Bruchstellen und ist nicht mehr – wie es vielleicht in der klassischen Phase der Fall war – ein Versöhnungsangebot zwischen den verschiedenen biographischen und gesellschaftlichen Abschnitten. Egal, welchen Star aus der klassischen Zeit wir anschauen, jeder Star war ein Versöhnungsangebot zu an sich unlösbaren persönlichen und gesellschaftlichen oder kulturellen Widersprüchen. Und das, glaube ich, hat sich nicht fragmentarisiert, sondern konzentriert auf bestimmte Bruchstellen in der Biographie, die auch stärker ausgelebt werden.

Man hat manchmal den Eindruck, dass das Kino eine Antwort war auf ein Misstrauen gegenüber dem autoritären Erzähler, zum Beispiel in der Kirche. Der Zuschauer im Kino sieht alles „mit eigenen Augen“, erlebt es selbst. Diese Tendenz hat sich im Kino ja eigentlich immer weiter fortgesetzt bis hin zu der Perspektive auf ein Kino, das nur noch Ereignis ist – und damit aufhört, eigentlich Kino zu sein. Was könnte danach kommen? Und wo befinden wir uns?

Wenn man sich die ganze Geschichte ansieht, dann gibt es zuerst einmal den Text, der allgemein verbindlich ist, also die Erzählung, und auf der anderen Seite gibt es das Bild, das eine ganz bestimmte Geschichte hat, die man verfolgen kann von seinen Anfängen bis heute.

Zunächst war das Bild die Repräsentation der Herrschaft, das Bild war genauso anbetungsheischend wie der Herrscher selbst. Er hat sich selber noch einmal abgebildet, hat sich verdoppelt. Dann, in der Renaissance, dreht sich diese Perspektive plötzlich um und man hat den Blick des Herrschers. Das war sicherlich ein ungeheurer Fortschritt für die Wahrnehmung der Welt, Zentralperspektive, die Welt, die sich für den Blick des Herrschers organisiert, geordnet hat. Nur hatte dieser Paradigmenwechsel vom Bild des Herrschers zum Blick des Herrschers die Tendenz, sich aufzulösen, weil man den Blick des Herrschers in gewisserweise imitieren, ihn klammheimlich stehlen konnte. Und die weitere Geschichte des Bildes ist eigentlich nichts anderes als die ständige Auflösung des Herrschers aufs Volk und auf die Welt, was sicherlich parallel läuft zu dem, was man Demokratisierung nennt. Also irgendwann war dieser Blick herrschaftsmässig entwertet – jeder konnte ihn haben. Wenn man an Filme aus der Frühzeit denkt, wo man Arbeiter sieht, die aus einer Fabrik kommen – gefilmt aus der Perspektive des Büros des Fabrikherren – dann merkt man, wie sehr das Kino diesen Prozess beschleunigt hat, dieses Entwenden des Herrscherblicks. Entscheidend war dabei, dass das Bild unendlich reproduziert werden konnte, also dass man es verteilen konnte, wie man wollte, und dass es in Bewegung geriet. Das ist dann gewissermassen die weiteste Entfernung vom Herrscherbild – das Bewegungsbild.

Begleitet wurde diese Entwicklung von Prozessen der Aufklärung, Demokratisierung, auch von Terror, von Kriegen, Nationalisierungen – also der Kollektivierung des Herrscherblickes durch die Nation – was dann der unerwünschte Teil dieser Entwicklung war. Und was wir heute haben, ist der letzte Transformationsprozess der Demokratie von der Teilhabe zur Verfügbarkeit. Also im Grunde genommen ist die letzte Konsequenz des bewegten Bildes das Bild, in das ich gar nicht mehr erst hinein muss – das ich gar nicht erst usurpieren muss, sondern das ich gleich selber generiere. Das wird begleitet von einer Entwicklung der Demokratie von der kollektiven Vergewisserung hin zu einer Art Medienpopulismus.

Und das ist sicherlich auch dann der letzte Schritt, den das Kino macht. Hin zu einem Bild, das den Zusammenhang mit dem Herrscher, mit der Zentralperspektive endgültig verloren hat, was die Illusion vermittelt, dieses Bild ständig selbst anschalten, abschalten und manipulieren zu können. Und gleichzeitig gibt es natürlich die unglaubliche Angst, Gegenstand dieser Manipulationen zu sein. Es ist dann auch entscheidend, dass die letzte Bewegung dieses Bildes die Entortung des Vorgangs von Sehen und Abbilden ist – dass es das Kino als Ort nicht mehr gibt. Es gibt ja eine ganze Reihe von Vorahnungen davon. Dass Filme vom Satelliten abgefragt werden können, Versuche mit interaktiven Filmen. Das ist alles noch sehr unbefriedigend, weil auf der anderen Seite ja dieser Traum des heilenden Mythos der Erzählung, des heilenden Bildes nicht verloren geht. Also, es sind immer diese beiden Aspekte: auf der einen Seite ein unaufhaltsamer Fortschritt, und auf der anderen Seite eine ungeheure Angst vor diesem Fortschritt.

Das klingt nach einer Dialektik, der man sich nicht entziehen kann … Was geht verloren dabei?

Also, was primär verloren geht, was zum grossen Teil vielleicht auch schon verloren gegangen ist, das ist der Ritualcharakter der ganzen Angelegenheit. Ein Ritual war ja immer schon der Versuch, die Wahrnehmungen miteinander zu synchronisieren. Auch der Versuch, einen Konsens zu schaffen, der gleichzeitig als Beglückung und als Rausch empfunden wird. Ob es diesen Aspekt anders als als Erinnerung noch geben wird? Ich meine, wir lesen ja auch immer noch Romane, und es gibt sogar immer noch Leute, die welche schreiben oder es zumindest versuchen. Wenn Dinge sich neu entwickeln, heisst das ja nicht, dass die alten verloren gehen. Sie treten nur zur Seite, verlieren ihre zentrale Rolle. Also ein Bedürfnis nach ganz traditionellem Kino wird es immer geben. Nur, weder besetzt es noch die Mitte der Gesellschaft, noch wird es in der Lage sein, so wie das klassische Kino Versöhnungsangebote zu machen. Es wird stärker eigentlich das Gegenteil sein. Es wird Nischen besetzen und wird Leuten helfen, die eben nicht im Zentrum sind.

Gibt es heute nicht eigentlich noch genügend Filme, die – sagen wir – trösten könnten, die wir aber gar nicht zu sehen bekommen? Ich frage mich, inwieweit die beschriebene Entwicklung nicht zuallererst eine äussere, wirtschaftliche Veränderung ist … Also die Blockbusterstrategie funktioniert ja nur mit Verdrängung. Aber die Geschichten, die da übrig bleiben, sind ja nicht unbedingt die, die wir brauchen, die uns am besten trösten …

Es ist wahrscheinlich so, dass es gar nicht so ist, dass es keine Erzählung mehr gibt, sondern es ist offensichtlich so, dass der Markt selber die grosse Erzählung ist. Das heisst also, ich kann nicht darauf hoffen, dass ich eine Erzählung habe, die nicht im und auf dem Markt funktioniert. Weil, das wäre dann Ketzerei. Und genau so sehe ich die Zukunft des Films. Als Ketzerei. Als formulierten Protest gegen diese grosse Erzählung. Aber man darf sich eben keine Illusionen darüber machen, dass diese Ketzerei gefährlich ist – sicherlich wird man nicht mehr auf den Scheiterhaufen kommen deswegen, aber auf jeden Fall spielt man mit seiner Karriere oder noch schlimmer, man spielt mit seiner Identität. Sowohl als Produzent als auch als Konsument ist das quasi ein ästhetisches Bekenntnis zum Aussenseitertum. Aber gleichzeitig ist es natürlich auch klar, dass es keinen schöneren Standpunkt gibt als den des Ketzers.

Keine andere Ideologie hat sich so sehr darum bemüht, unsichtbar zu sein, wie die des Marktes. Diese Idee behauptet ja ständig von sich, dass sie gar nicht existiert ausser als Naturgesetz.

Ja, genau. Aber ich vermute, das hat eigentlich jede grosse Erzählung gemacht. Im Mittelalter, kann ich mir vorstellen, konnte man ausserhalb dieses Textes nicht denken – also selbst der Widerstand dachte ja auch in christlichen Strukturen. Das ist also nicht unbedingt etwas wahnsinnig Neues. Neu ist wohl nur, dass es die Instanzen nicht mehr gibt, an denen man sich abarbeiten kann. Also einen Papst zum Beispiel – gegen den Papst habe ich noch ein Bild, gegen das ich rebellieren kann, während der Markt ganz polymorph arbeitet – was man durchaus als zivilisatorischen Fortschritt werten kann. Zumindest vom physischen Terror ist der Markt wahrscheinlich weiter entfernt als der Herrscher als Instanz. Aber es gibt keine ödipalen Dramen mehr – also dass der Herrscher von seinem eigenen Sohn umgebracht wird, das funktioniert so nicht mehr.

Wenn man den Markt als die neue grosse Erzählung sieht, bekommen diese ganzen Börsengeschichten, die sich zur Zeit zu einer einzigen grossen Fiktion steigern, plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Unheimlich viele Leute, die vorher nichts damit zu tun hatten, lassen sich plötzlich diese Geschichten erzählen, aber sie wollen nur die guten Geschichten hören. Und die ganze Börse funktioniert nur, solange sie eine gute Geschichte ist. Und jetzt gibt es gewissermassen eine Rebellion gegen die neuen Erzählerstars – wenn man die Analysten so nennen möchte – weil manche von ihnen, wie sich herausstellt, die falschen Geschichten erzählt haben. Geschichten, die die Leute nicht glauben wollten. Diese Geschichte hat ja nur als gute Geschichte funktioniert, weil sie weite Bereiche der Wirklichkeit ausblendet, also im Endeffekt Körperlichkeit ausblendet.

Das Kino hat für mich dagegen immer eine ganz körperliche Dimension gehabt – es hat erzählt, was wirklich Arbeit ist, was Liebe ist … was im Endeffekt immer mit körperlichen Dimensionen zu tun hat. Ich frage mich, ob darin heute nicht die ketzerische Wirkung bestehen könnte, von der wir vorhin sprachen …

Die allerdings den klitzekleinen Nachteil hat, dass man eben nie weiss beim Kino, ist es Herrschaft oder ist es Ketzerei. Manchmal geht so ein Bruch durch einen Film selber oder durch ein Bild …

Es gab ja mal so ein Selbstverständnis der Kritik als Ketzerei, die die ganze Herde rechtgläubiger Schafe aufhetzen wollte für eine neue Wahrheit. Davon sind wir ja heute weit entfernt. Bedauern Sie das?

Ich bin gar nicht sicher, ob sich das so kolossal geändert hat. Ein Teil dieser Fragmentarisierung und auch der unendlichen Spiegelungen der Dinge ist es ja, dass die Kritik wieder ein Abbild dessen geworden ist, was sie kritisiert. Das heisst also, der Kritiker ist nicht mehr automatisch ein Ketzer, aber es gibt sehr wohl ketzerische Kritiker. Die ja dann fatalerweise zunächst einmal Kritiker-Kritiker sein müssen und sich gegen das Milieu der Kritik, gegen die Funktion der Kritik zur Wehr setzen müssen. Man könnte sagen, dass die Kritiker – wenn man bei dem Bild bleiben möchte – in gewisser Weise in die Rolle der Pharisäer hineingewachsen sind. Also eine bewahrende Kraft, die eigentlich auch so eine Kaste geworden ist.

Gleichzeitig scheinen diese Pharisäer von Tag zu Tag wirkungsloser zu werden.

Das war mit den historischen Pharisäern ganz genauso. Die Wirkungslosigkeit ist ihre Wirkung. Die Selbstentmachtung der Kritik sichert ihr ökonomisches Bestehen und macht sie dann auf eine paradoxe Weise wieder sehr mächtig. Dadurch, dass sie sich selbst verhindert, ist sie gewissermassen mächtig – aber auch dadurch, dass sie auch ganz sinnlich eine viel grössere Nähe zu den Höfen, also den Machtzentren, hat, als sie das früher gehabt hat.

Aber Sie wohnen im Allgäu. Hat das damit zu tun?

(lacht) Ja, das hat schon damit zu tun. Ich wohne nicht nur im Allgäu, ich lebe sozusagen in Italien und arbeite in Deutschland und das hat sicherlich sehr viel damit zu tun, dass man dadurch ein Einzelner bleiben kann und in ganz bestimmte Abhängigkeitsstrukturen gar nicht kommt. Die Verführung besteht gar nicht erst. Ich weiss nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich da drin wäre. Es hat auch damit zu tun, dass man sehr leicht blind wird, je näher man am Zentrum ist – wenn man gewissermassen nicht mehr hungrig ist. Aber das ist nur ein Symbol, das ist ja keine wirkliche Entfernung im globalen Zeitalter. Aber auch Symbole helfen einem ja.

Sie schreiben ungeheuer viel …

Ich schreibe eigentlich nicht viel, sondern ich schreibe eigentlich nur an einer Sache, und an der schreibe ich unendlich. Im Grunde arbeite ich an einem Roman der Wahrnehmung. Es gibt gelungenere Kapitel und Kapitel, die ich dann gerne noch mal schreibe, neu schreibe …

Gibt es die Vorstellung, das irgendwann zusammen zu fassen, zusammen zu führen in irgendeiner Form?

Es gibt immer so Ansätze, quasi ein Kapitel mal wieder zusammen zu führen – klar ist auf der anderen Seite, dass das natürlich darauf angelegt ist, unvollendet zu bleiben. Es ist ein Roman und gleichzeitig ein Labyrinth. Es wäre ja auch schrecklich – wenn es zu Ende geschrieben wäre, wäre ich kein Ketzer mehr …

Welche Protagonisten sind denn in den letzten Jahren dazugekommen in ihrem Roman der Wahrnehmung?

Das ist eine gute Frage. Das Problem ist: Ganz klar, man führt unterwegs neue Figuren ein, aber man kann ja unterwegs nicht die Hauptfiguren wechseln. Wenn man so alt ist wie ich, ist der Bauplan von so einem Roman doch schon ziemlich klar. Man kann natürlich qua Selbstwiderspruch und mäanderndem Schreiben immer noch neue Entdeckungen machen, aber ich glaube nicht, dass ich einen neuen Text bringen könnte. Also muss ich alle Dinge, die da neu kommen, in eine gewisse Beziehung zu dem setzen, was schon da ist. Und der Punkt, wo ich überholt bin, ist durchaus denkbar. Wo der Text dann wirklich ins Leere geht … weil man zu früh angefangen hat für die Entwicklung.

Was fasziniert sie zur Zeit im Kino? Ganz konkret …

Eigentlich alles. Für mich ist Kino dann, wenn jemand die Kamera bedient. So Sachen wie Found Footage finde ich extrem spannend. Immer weniger sind es aber Meisterwerke. Das spielt eine immer geringere Rolle.

Weil es immer weniger gibt?

Nein. Das könnte ich auch gar nicht mehr beurteilen … Mit der Beurteilerei habe ich es ohnehin nicht so. Aber ich habe das Gefühl, dass die Details immer wichtiger werden gegenüber dem Kompakten … Je marginaler und bizarrer, desto mehr faszinieren sie mich. Also ein gefundenes Kaugummibild ist mir heute wahrscheinlich wichtiger als ein „guter Film“.

Es gibt ja so eine Poptradition, das Nebensächliche oder Abseitige für den Hort tieferer Wahrheiten zu halten. Das geht ihnen auch so?

Immer mal wieder, ja. Natürlich gibt es auch die Sehnsucht nach dem erklärenden Zentrum – vermutlich ist es so ein ständiger Switch zwischen einem Popdiskurs und einem traditionellen Kulturdiskurs. Ständig merkt man, wenn man den Popdiskurs verwendet, hört es auf und der andere Diskurs hört eben auch auf … nur was zwischen den beiden passiert, macht die Sache natürlich extrem spannend.

Es gibt ja heute nur noch ganz wenige funktionierende nationale Kinematographien. Muss das so sein?

Das ist genauso eine Frage nach dem zivilisatorischen Prozess. Da ich ja nun glaube, dass es das Schönste wäre einerseits, wenn es diese blöden Nationen nicht mehr gäbe, weil ich glaube, es ist wirklich nichts als Unglück, was mit den Nationen über die Leute gekommen ist, so ist es doch auf der anderen Seite so, dass natürlich nur ein nationales Kino erklären kann, was an der Nation krank ist oder kaputt. Also insofern ist es höchst zwiespältig. Ich denke, das ideale deutsche Kino wäre sozusagen ein antideutsches Kino, was dann vielleicht auch eher zu einem regionalen Kino wird. Also ein Kino, das Räume beschreiben kann, soziale Räume, die aber nichts mit einer Nation zu tun haben. Ich weiss nicht, was für eine ökonomische Basis ein solches Kino haben könnte. Immer wieder flackert so was ja auf, so eine Stichflamme, und verpufft dann sehr schnell wieder. Aber ich brauche durchaus so etwas wie ein Kino, das davon erzählt, wo ich bin.

Ich höre oft von Amerikanern, sie könnten nicht verstehen, warum sich das deutsche Kino nicht an die wahnsinnigen Konflikte in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart wagt … Warum werden diese Konflikte nicht erzählt?

Darauf gibt es ganz einfache Antworten. Weil man seine Probleme a) selber nicht sieht und b) weil man sie einfach nicht haben will. Ich glaube auch gar nicht, dass die Konflikte nicht vorkommen. Sie kommen sozusagen im Absehen davon vor, in ihrer Abwesenheit sind sie ja auch anwesend. Es ist nicht so, dass sie dadurch verschwinden, dass man sie nicht sieht. Und so militant dieses Wegsehen auch ist, die Konflikte sind da, und das macht ja die Dekodierung, die Dechiffrierung von Bildern nicht nur notwendig, sondern auch spannend. Weil jede Art von ästhetischer Produktion diese Doppelstrategie von Abbilden und Nicht-Abbilden hat. Das ist ein fast fetischhafter Charakter zu diesen Dingen … Und das ist ja in Amerika nicht anders. Es gibt nur so eine durchaus populistische, auch von der politischen Struktur her populistische Tradition, diese Brüche in der Gesellschaft schneller darzustellen als bei uns. Oder auch nur anders. Sie werden dargestellt als wären sie vollkommen sichtbar. Das ist ja genauso gelogen, wie wenn man sagt, sie sind unsichtbar.

Natürlich bemühen sie sich, globale Filme zu machen, aber es sind dann eben doch amerikanische Filme …

Oder Hollywood-Filme, was ich nicht verwechseln würde mit amerikanisch. Diese Traumfabrikation dort in Hollywood hat ja beinahe schon immer übernational funktioniert. Es ist ja eigentlich nur noch ein Mythos, dass die in Hollywood produziert werden. Sie könnten überall produziert werden und werden überall produziert. Also das ist eigentlich schon dieses grosse Andere, das uns hier anblickt, das Nach-Nationale. Das hat auch schon gar nichts mehr mit so einer Art Kolonialisierung zu tun – das hätte ökonomisch überhaupt keinen Sinn mehr. Es ist in der Tat einfach das globale Kino.

Aber in diesen Filmen äussert sich doch durchaus amerikanisches Denken – also wie man Dinge anfasst, wie man Probleme löst, auch wie man Filme macht. Wir werden täglich damit konfrontiert, weil uns abgesprochen wird, dass es möglich ist und sinnvoll, anders Filme zu machen …

Das ist schon richtig. Ich glaube nur, das amerikanisch zu nennen ist eine Mythisierung. Das ist der ästhetische Ausdruck bestimmter Prozesse, Neoliberalismus, und gleichzeitig paradoxerweise (oder gar nicht paradoxerweise) gleichzeitig Neo-Puritanismus, den sicherlich die verschiedenen Gesellschaften anders interpretieren oder anders konstruieren – aber letztendlich ist es dasselbe. Die Entkörperlichung, die Virtualisierung des Körperlichen, die Formalisierung der Umgangsformen, die Medialisierung. Amerika ist in diesem Fall kein Imperium – sondern es ist einfach das avancierteste System. Die anderen Gesellschaften machen es Amerika nicht unbedingt nach – obwohl man durch den Zeichenflow dieses Gefühl hat – sondern sie entwickeln sich einfach genauso. Auch wenn Amerika nicht existieren würde, würden sich die europäischen Gesellschaften in etwa in dieselbe Richtung entwickeln.

Nur dadurch, dass Amerika existiert, ist es eben das grosse Andere – einerseits als Utopie, andererseits auch als so etwas wie die „Hölle“.

Wie wird sich das deutsche Kino verändern, dadurch dass sich dieses Land verändert? Kommt jetzt ein Schlusstrich-Kino?

Also, was sich zumindest spürbar verändert hat, ist die allgemeine gesellschaftliche Erwartung an das Kino. Das, was heute öffentlich und medial verlangt wird vom Kino, das wäre noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Dass dem Kino fast schon militant nationale Selbstdarstellung und sogar Erfolg, ökonomischer Erfolg abverlangt wird, das war vor wenigen Jahren überhaupt nicht vorstellbar. Also ich denke, dass sich durch die Veränderungen in Deutschland ganz allgemein die Vorstellung von Kultur verändert hat. Kultur soll wieder staatstragend sein, soll wieder gesellschaftsintegrierend sein. Dieses deutsche Kino steht unter einem wahnsinnigen gesellschaftlichen Druck – das ist etwas, was immer wieder vergessen wird – das ist ja eine Parodie auf jede freie ästhetische Produktion. Mehr Gesellschaft in einer ästhetischen Produktion ist ja kaum vorstellbar. Also darf man sich überhaupt nicht wundern, dass da nichts Gross artigeres herauskommt. Vor zehn, zwanzig Jahren war die Vorstellung ungefähr, die Gesellschaft leistet sich ein Kino als Ausweis kultureller Hochwertigkeit: „Wir haben zwar kein Hollywood, aber wir haben Künstler“. Und das hat sich völlig ins Gegenteil verkehrt. Ich will gar nicht sagen, dass das schon Filmpolitik geworden ist. Aber es gibt so ein allgemeines Gefühl, was Kino soll. Unser Kino soll wieder Stars haben – kein Mensch überlegt, was das eigentlich bedeutet. Und welche Art von Rückschritt ein Kino der Stars gegenüber dem Kino der Autoren ist. Und dann soll es eingebunden sein – also die Vermischung von politischer Repräsentation und künstlerischer Repräsentation ist ja geradezu grotesk geworden. Ich bekomme ja kein deutsches Festival mehr mit, wo sich nicht eine Gruppe von Politikern reinrotzt … um sich ihr Stückchen Öffentlichkeit davon abzuschneiden. Da fängt für mich eine unumkehrbare Korruption an …

Kann man sich dieser Korruption nicht entziehen?

Klar kann man das. Aber man kann nicht nur nicht reich werden, wenn ich mich dieser Korruption entziehe, sondern auch nicht die Art von Öffentlichkeit haben, die man sonst haben kann. Die Frage ist immer, ob ein System die Möglichkeit subversiver Arbeit (obwohl dieses Wort ein bisschen entwertet ist) überhaupt noch zulässt. Und es gibt sicherlich Systeme, die in sich so perfekt sind, dass das nicht mehr möglich ist. Das Fernsehen zum Beispiel. Das ist nur eine Art Selbstbetrug, wenn man glaubt, ich gehe ins Fernsehen, um dort etwas Anderes zu machen. Weil automatisch jeder, der nur daran denkt, etwas Anderes zu machen, eingebaut wird als Ausweis des Andersseins. Ich glaube, dass unsere Filmkultur kurz davor ist, genauso perfekt zu sein.

Das perfekt zu nennen …

… ist pervers, ja. Das ist das Gegenteil von Perfektion im Sinne einer ästhetischen Produktion. Und es ist auch absolut selbstzerstörerisch, das läuft auf eine neue Ufa hinaus, das ist ganz klar. Aber ökonomisch und politisch hat das ja funktioniert und es wird wieder funktionieren.

Das Gespräch führten Christoph Hochhäusler und Jens Börner am 26.01.2001 in München. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler.

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