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Tagebuch: Christian Petzold

HO

1991 begann ich mich für Modelleisenbahnen zu interessieren. Es gab am Mierendorffplatz eine große Fachhandlung mit weiten, geräumigen Schaufenstern. Davor war die Bushaltestelle und die Wartezeit und der Berliner Winter. Ganz farblos und zugig und kalt. Hinter den Schaufenstern die warme, gelassene, ewigliche Modellwelt der H0-Menschen. In diesem Winter 90/91 änderte sich die Idylle. Junge Menschen, Männer, rissen die Modelllandschaften ab. Wir, die Wartenden, dachten einen langen Moment lang, dass der Laden erledigt sei, dass da jetzt entweder eine Sonnenbank mit 20000 Watt oder ein Cafe mit Cocktails und Marlboroaschenbechern eröffnet wird.

Aber die jungen Männer gingen ganz behutsam um mit den Modellbauten. Und begannen, eine neue Modelllandschaft zu bauen. Eine, in der es keine Linde gab, um die sich am Abend die kleinen Figuren Pfeife rauchend treffen. Kein kleiner See und Menschen, die promenieren, im Sonntagsrock. Keine Dampflok, die sich um den Wald, wo die glückliche Köhlerfamilie mit spielenden Kindern und wäschetrocknender Hausfrau und sich gerade den Schweiß aus dem Gesicht wischenden Vater lebt, schlängelt. In der neuen Welt änderten sich zuerst einmal die Häusermodelle. Man sah Fachwerkhäuser, die gerade abgerissen wurden. Kinos, aus denen Supermärkte wurden. Man sah ein verunglücktes Kind, einen Notarztwagen und die schreiende Mutter, die von zwei Polizisten zurückgehalten werden musste.

Die jungen Männer änderten die Sujets. Der Alltag und der Unfall zogen in die Welt. Ich stand vor dem Schaufenster, weil es auf meinem Schulweg lag. Ich ging täglich zur Filmakademie in der Pommernallee, am Theodor Heuss Platz, früher Adolf Hitler Platz, im Rundfunkhaus, das Mendelsohn gebaut hatte. Von Mendelsohn war noch zu spüren das Schiffähnliche, das offene. Innen war aber schon Goebbels-Architektur. Gegenüber die Stadtwohnung von Goebbels. Da drüber 22 Jahre später die Kommune 2.

In der Filmakademie war gerade Syd Fields Time. Der Ruf nach den guten Büchern war angekommen. Der ging von den Redakteuren aus, und von den Stadtmagazinen. Drei Akte, fünf Akte. Welches Sternzeichen hat der Protagonist und die Fallhöhe, die man noch oben schrauben musste. Der Mainstream aus USA sollte nicht einfach kopiert werden. Aber man sollte auch weg von den Franzosen. Da blieb das englische Kino. Ich würde gerne einmal wissen, wie viele Filmwissenschaftler in dieser Zeit über das englische Kino promoviert haben. Verpoptes Boulevardtheater. Der Dominik Graf machte ein Seminar, an dem ich nicht teilnehmen konnte. Nur einmal, an einem Nachmittag, im Kino im 4. Stock. Da erzählte er, dass so auffällig wäre im deutschen Kino, dass da die ganze Arbeit im Bereich der Schärfe liegt. Da spielen die Darsteller den Pacino. Aber drumherum, da ist Leere. Keine Bewegung setzt sich fort. Kein Leben. Keine Fiktion.

FIFA 99. Ich spiele Fifa 99, weil dort noch Gladbach in der ersten Liga ist. Die Jubelgesten, die Umarmungen, die Verzweifelung des gescheiterten Stürmers. Da wurde gerechnet und gebastelt. Detailgenauigkeit. Aber die Hintergründe, standardisiertes Nichts. Tapeten. In Lola Montez, im Zirkuszelt. Der Conferencier Ustinov in der Manege. Die Zuschauer, die nur Hintergrund sind. Die meisten von ihnen gemalt. Pappkameraden. Puppen. Schlecht gemachte Puppen. Aber der Ophüls verbirgt das nicht. Das Öffentliche ist imaginiert. Lola Montez, die kranke Frau und ihre Geschichte in der Manege, interessiert kein Schwein mehr.

Die jungen Leute im Schaufenster des Modelleisenbahnladens, die machten weiter an ihren Modellen. Die gaben sich nicht mit den Szenen der Moderne zufrieden, die sie in die Landschaften der Väter, den idyllischen, ganzen, identischen, einfügten. Irgendwann begannen sie, die rechteckige Spanholzplatte, die Grundlage der Modellwelt war, zu zerlegen. Man sah nur noch Ausschnitte der Welt. Städte hörten plötzlich am Plattenrand auf und machten im außerhalb weiter. Die Bahn fuhr keine Kreise mehr und fasste etwas ein. Sie verschwand jetzt und tauchte woanders wieder auf. Es gab kein Land mehr und keine Stadt. Alles wirkte zersiedelt und komplex.

Man hätte das filmen müssen. Die alte Welt und das Zerlegen. Die Väter und die Söhne. Der junge Geschäftsführer, den ich kennen lernte und der mir von den Kämpfen erzählte, hoch oben auf einem 300 qm Dachboden am Flughafen Tempelhof. Von seinem Vater, dessen Modelllandschaften aussahen wie das Bild, dass die Nazis in ihren Kulturfilmen von den neuen, deutschen Siedlungen im Osten entwarfen, in den Köpfen und auf der Leinwand.

Ich bin dann umgezogen. Ein neuer Schulweg. Kein Umsteigen, kein Warten. Linie 1. Kreuzberg. Theodor Heuss Platz. Ich hatte angefangen, Drehbücher zu schreiben. Und hier, in diesen Erinnerungen, wollte ich eigentlich berichten über den Moment, wenn man die Schauplätze sucht, die Welt nach dem Buch. Wo man beginnt, die Syd Field Welt zu zerlegen. Nächstemal.

Christian Petzold

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