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Interview: Christian Petzold

Revolver: Wie beginnt ein Film für dich?

Petzold: Bei den letzten drei, vier Filmen gab es am Anfang eine kleine Szene, die aber noch überhaupt nichts mit Plot oder Geschichte zu tun hatte. Bei „Wolfsburg” war es die Szene einer Frau, die in einem Krankenhaus zu einem Kaffeeautomaten geht, auf den Kopf drückt … und dann geht. Ein Mann beobachtet Sie. In den nächsten dreissig Sekunden – da steht doch immer: „in dreissig Sekunden frisch gebrüht” – stellt sie sich an das Fenster und schaut hinaus. Dann läuft sie weg. Der Mann geht dorthin, wo die Frau gestanden hat und sieht, dass die Scheibe behaucht ist – weil sie geweint hat. Als der Hauch fast verschwunden ist, meldet der Automat: Kaffee ist fertig. Der Mann nimmt den Kaffeebecher. Die Frau kommt zurück und sagt: das ist mein Kaffee.

Das war alles, was ich geschrieben hatte. Dann habe ich das Harun Farocki geschickt, mit dem ich immer zusammenschreibe. Der sagt dann „interessant” oder auch gar nichts. Wenn nichts kommt, weiss ich, jetzt muss ich ihm was Neues schicken. Dann gehen wir spazieren und überlegen uns, was davor und danach passiert sein könnte.

Das ist ein spielerischer Vorgang?

Ja, so ein bisschen wie Seemannsgarn spinnen. Diese Geschichte mit der Fahrerflucht und dem Autohaus… das sind alles Dinge, die erst nachher gekommen sind. Die „Urszene” war diese Szene im Krankenhaus. Und diese Szene versuche ich auch immer als erstes zu drehen. Also am ersten Drehtag erinnere ich mich dann noch mal, wie das alles losgegangen ist.

Die behauchte Scheibe ist im fertigen Film nicht mehr zu sehen.

Ich hab das im Vorfeld probiert mit künstlichen Hauch… und das sah Scheisse aus. (Lacht) Für mich ging es in dieser Szene um einen Voyeur der Trauer. Also das ist jemand, der sich von ihren Tränen, vom Hauch an der Scheibe ernährt. Der Kaffeeautomat gibt einfach nur den Zeittakt vor, ohne jede symbolische Bedeutung. Jemand, der so ein neusachliches Leben führt wie so ein Verkaufsleiter, erfährt plötzlich Lebenstiefe durch das Leid einer Anderen, und das bringt ihn aus dem Takt. Das ist eigentlich der Grundmotor, der durch die ganze Geschichte geht und das ist schon an dieser Szene ablesbar. Das klingt jetzt wahrscheinlich klüger, als es in Wirklichkeit war, aber es ungefähr so war es.

Wenn diese „Urszene” nicht klappt, bricht dann nicht alles zusammen?

Nein… aber ich kann so noch mal für mich rekonstruieren, wie und warum diese Geschichte entstanden ist. Dadurch liegt merkwürdigerweise eine grosse Spannung über diesem ersten Drehtag, und das finde ich auch notwendig.

Ich gehe mal davon aus, dass du nicht fünf „Urszenen” für fünf Filme geschrieben hast, sondern dass sich da viel mehr Material angesammelt hat. Wie entscheidest ihr, an welchen Szenen ihr weiterarbeiten wollt?

Ich würde sagen: es entscheidet sich. Es gibt von Patricia Highsmith ein Buch namens „Suspense”, in dem zwei Dinge stehen, an die ich oft denken muss. Da sagt sie, man könne solange schlafen, wie man möchte, nur wenn man aufwacht, sollte man sofort aufstehen. Und das Zweite ist: Wenn man ein Buch beginnt und man merkt auf Seite 122, das wird nichts mehr, sollte man es sofort wegwerfen. Und daran glaube ich auch. Ich habe das oft erlebt, dass sich das Potential, das die „Urszene” zu versprechen schien, einfach nicht einlösen liess. Komischerweise kann die selbe Szene in einem anderen Zusammenhang wieder auftauchen, man darf nur nicht zu selbstverliebt damit sein.

In meinem übernächsten Film „Yella” gibt es folgende Szene: ein junger Mann arbeitet in einer Tankstelle, überwacht via Videomonitor Zapfsäulen und Shop. Eine Frau betritt den Laden, nimmt sich 5 Flaschen Wein, bedient sich im Zeitschriftenregal, holt sich den Tiroler Landschinken luftgetrocknet usw. Dann geht sie zu ihm hin und sagt: „Wann hast du Schluss hier?” Und er antwortet: „Völllig fertig in einer Stunde!” Und sie: „Ich warte mit dem Essen auf Dich.” und geht wieder raus. Er ist völlig überrumpelt, er kennt sie nicht und lässt sie gehen. Hinterher sieht er sich immer wieder auf dem Videoband an, wie sie geklaut hat. Dann überspult er es, er löscht den Diebstahl, damit die Ablösung nichts davon mitbekommt. Diese Szene hatte ich aufgeschrieben und das ist komischerweise der Einstieg für diese übernächste Geschichte geworden. Also diese Szene hat getragen irgendwie, auf den Spaziergängen mit Harun Farocki wurde da was draus.

Aber nach diesen impressionistischen Anfängen kommt viel Konstruktionsarbeit?

Naja. meine Arbeitsweise hat viel mit den amerikanischen Shortstories zu tun, die ich viel gelesen habe, seit ich sechzehn, siebzehn bin. Sehr präzise geschriebene Szenen, die gerade in ihrer Ausschnitthaftigkeit viel Welt enthalten… Denis Johnson, oder auch Reinald Götz, „Deconspiratione”. Das gibt es Szenen… Eine Tür, dahinter sieht man einen DJ, der irgendwelche Platten sortiert, plötzlich weint er, ein Mädchen geht vorbei. Ich suche Szenen mit so einer seltsamen Aufladung, für die ich dann mit Harun Farocki, auf Spaziergängen, im Grunde genommen ein Haus baue.

Bei „Die Beischlafdiebin” habe ich mich an die Geschichten von Salter oder auch Carver erinnert gefühlt, diese Atmosphäre…

Das haben die Schauspieler auch immer erzählt, aber ich habe Carver nie gelesen. Und Salter habe ich erst vor kurzem für mich entdeckt. Den Band über die Fliegerstaffel, grossartig! Also diese Tradition ist sehr wichtig für mich.

Aber du adaptierst keine bestehenden Geschichten?

Nein. Ich bin auch nicht so sehr an Plots interessiert. Ich bin mehr daran interessiert, wie man von einer aufgeladenen Szene zu der nächsten kommt. Da ist natürlich ein Plotgedanke dahinter, aber abgesehen von „Toter Mann” und „Wolfsburg”, wo alles mehr oder weniger funktioniert, habe ich oft genug am Schneidetisch feststellen müssen, dass der Plot nicht richtig durchgearbeitet ist. Es gibt so eine Grammatik der Kinoerzählung, in der ich ziemlich oft versagt habe und erst mit Hilfe der Cutterin Bettina Böhler eine Lösung gefunden habe. Diese Fehler offenbaren natürlich ungewollt mein eigentliches Interesse, das eben nicht im Plot liegt.

Aber der Plot… warum gibt es ihn überhaupt, warum muss es ihn geben? Man könnte sich doch auch in der Tradition eines modernen Erzählens entschliessen, nur Momente zu reihen, die sehr präzise sind. Opfert man für den Plot nicht eine wertvolle Präzision?

Ich finde, sobald es einen Plot gibt, eine Erzählung, gibt es auch Gesetze. Und Filme handeln ja alle von Gesetzen oder von Kriminellen, die das Gesetz gebrochen haben. Das kann man auf den Plot übertragen. Es muss ein Gesetz geben und man muss sich an diesem Gesetz reiben. Darum geht es. Das ist notwendig für mich, für meine Arbeit. Es gibt natürlich auch andere Sachen, aber wenn man sich die Filme von Antonioni zum Beispiel genau ansieht, dann gibt es auch da ganz klare Erzählstrukturen. Trotzdem muss das Ensemble in seiner Arbeit oder der Film in seiner Konstruktion immer wieder den Plot verlassen, um irgendwann wieder zurückzufinden. Dadurch erreicht man eine Art Schwebezustand, den ich ganz toll finde.

Wenn du sagst, es gäbe Gesetze und Dramaturgie – woher weiss man, welches Gesetz man befolgen muss? Steht das irgend wo geschrieben?

Als wir „Pilotinnen” schrieben, sagte Harun, ihn interessiere an Plotkonstruktion, wenn zwei Menschen aneinandergefesselt sind, die sich nicht mögen, wie bei „39 Steps” von Alfred Hitchcock. Der eine wird (irrtümlich) als Verbrecher gesucht, die andere ist im Grunde genommen seine Geisel. Und dadurch, dass sie aneinander gefesselt sind von der Story und den Handschellen, entsteht irgendwann einmal so etwas wie Liebe. Und das ist nicht Liebe auf den ersten Blick! Diese Taxifahrergeschichten: da steigt eine Lady ein, Blick in den Rückspiegel, die Herzen entflammen, einfach so aus dem Nichts… diese plotfreie Scheisse, das gefällt mir nicht. Ich finde man verliebt sich anders. Ich kenne so viele Leute, die 27 Jahre mit einer Frau in einem Kindergarten arbeiten und plötzlich… das interessiert mich mehr.

Aber die Gesetze, die du findest, sind das Kinokonventionen oder hat das mit dem Leben zu tun?

Meinst du jetzt, weil ich tausendmal im Kino gewesen bin? Natürlich hat das damit zu tun. Sonst würde ich keine Filme machen, wenn ich nicht ins Kino gegangen wäre. Wenn ich nur Bücher gelesen hätte, würde ich Bücher schreiben. Man arbeitet ja in dem Bereich, wo man sich in irgendeiner Weise aufgehoben fühlt, wo man sich auch auskennt.

Aber ich finde mein schwächster Film ist einer, der zuviel Kinozitate hat. Das war „Cuba Libre”. Das ist auch der einzige Film, wo die Liebe in die Nähe der Taxifahrergeschichte geht. Das haben die Schauspieler viel füher verstanden als ich. Richy Müller hat seiner Figur eine Dimension hinzugefügt, die den Film gerettet hat, muss ich sagen. Der Film war voller cineastischer Einfälle, aber als er fertig war, hat er mich irgendwie gelangweilt. Ich habe da hinter dem Film eher einen verpickelten Nerd aus irgendeiner Kleinstadt gesehen, als jemanden, der selbstlos ist.

Mir ist aufgefallen, dass deine Filme von Zufällen bevölkert sind. Was bedeutet für Dich Zufall?

In der Erzählung bedeutet das nur, dass Menschen, die ein sehr exaktes Leben geführt haben, plötzlich aus dieser Selbstkontrolle herausgerissen werden und aus sich herausgehen müssen. Dann kommt diese Welt der Zufälle auf Sie zu. Ich empfinde die Strukturen der Geschichten aber nicht als zufällig. Abgesehen von „Cuba Libre” vielleicht, da ist es ganz offensichtlich so – wenn sich zwei Liebende über das Autobahnnetz der Bundesrepublik bewegen und sich dann immer wieder treffen, ist das natürlich Gaga. Da habe ich mich mit dem Satz von Catherine Deneuve in „Les Demoiselles de Rochefort” von Jaques Demy gerettet. Da sagt sie: ich fahre jetzt nach Paris, den Geliebten suchen. Und der andere: in Paris wohnen zehn Millionen Leute, du weisst nicht, wo er wohnt, du weisst gar nichts von ihm. Da sagt sie: auf den Boulevards treffen sich die Liebenden. Und ich habe mich damit herausgeredet, dass man sich auf dem Autobahnnetz wiederfindet, wenn man sich in der Bundesrepublik verliebt hat. Die Schauspieler dachten: Uu-hu! (Lachen)

Wenn Menschen oder Figuren in einem Film sich mit irgend etwas aufgeladen haben, ob das nun Liebe ist, Rache oder Flucht, beginnt doch sofort so eine Paranoia, eine selektive Weltwahrnehmung – man bezieht alles auf sich. Das hat ja auch etwas mit dem Kino zu tun. Ein Liebender interpretiert jeden Blick entlang seiner Leidenschaft. Alle anderen wissen, dass sie ihn nicht liebt. Diese Art der Wahrnehmung produziert automatisch den Zufall oder die Verdichtung im Kino, deswegen habe ich damit kein Problem. Ich mag nur keine forcierten Zufälle, die von Redakteuren oder Quoten diktiert werden oder aus so einer Autorenwillkür entstehen. Deswegen das Beispiel „39 Steps”: es muss eine Grunddynamik geben, um dem Zufall zu seinem Recht zu verhelfen.

Welche Rolle darf der Zufall im Drehprozess spielen? Deine Filme wirken ja extrem beherrscht…

Ja, manchmal regnet es, und das war nicht geplant. Nein, das ist schon extrem kontrolliert, muss ich sagen. Ich mag einfach gern, wenn alle wissen, worum es geht und dann hat man auch Freiheiten. Es ist zum Beispiel fast immer so, dass die Dialoge, dich ich geschrieben habe, von den Schauspielern halbiert werden. Wir haben in „Wolfsburg” radikal Dialoge weggelassen.

Der Kameramann Hans Fromm und ich, wir machen zwar vorher eine Auflösung, aber bei den meisten Filmen ist es ja so, dass sich da zwei Männer, also Kameramann und Regisseur, irgendwohin zurückziehen. Das finde ich entsetzlich! Die kommen dann mit einer gigantischen Auflösung wieder, mit gezeichneten Bildchen, meistens über tausend Einstellungen, und das wird dann herunterreduziert auf dreihundert oder so. Ich weiss nicht, wenn zwei Männer sich zwei Wochen lang irgendwohin zurückziehen und ein Kunstwerk entwerfen, dann ist da irgend etwas nicht in Ordnung.

Wir sitzen erst mal drei, vier Wochen über dem Buch, verständigen uns über die Szenen und sprechen über Räume. Dann reisen wir zu den Schauplätzen, nehmen Fahrräder oder gehen zu Fuss und sehen uns die Schauplätze an. So lösen sich die tausend Einstellungen sofort in Luft auf.

Es stellt sich die Frage, wie kann man eine Garage filmen, einen Parkplatz filmen, ein Parkhaus filmen. Und das überlegen wir uns, fotografieren die Schauplätze und setzen das zusammen. Dieses Material bekommen später auch die Schauspieler. Die kommen ja normalerweise erst am Tag des Drehens mit einem Ort in Berührung und können überhaupt nicht in Beziehung dazu setzen. Auch weil die Orte dann meistens schon von Licht und Technik entstellt sind.

Wir haben in Wolfsburg in einer Villa gedreht, die der Architekt Alvar Alto Anfang der Sechziger Jahre gebaut hat, mit dem Geld von VW. Und bevor der ganze Tross dort hinein ist, um Traversen fürs Licht zu legen usw., bevor also der Ort zum Verschwinden gebracht wurde, habe ich dafür gesorgt, dass wir da zusammen sitzen, Kaffee trinken und uns überlegen, was das für ein Raum ist. Wir haben uns angesehen, wie Alto den Eingang gestaltet hat und die Tische, die verglasten Durchsichten zu den Büchern und Schallplatten. Das war eine Musikbibliothek mit Milchbar, der Versuch eines sozialen Ortes, ein richtiger Gegenentwurf zu Wolfsburg. Auf der einen Seite das VW-Werk und dann diese Milchbar mit Musikbibliothek. Das muss man mal erfahren haben, dann kann man dort später auch anständig arbeiten. Dann haben die Schauspieler und ich selbst ein Körpergedächtnis für den Ort. Das interessiert mich, weil wir dann wissen, wie wir das drehen können.

Im Mittelpunkt steht der mündige Schauspieler… Du teilst die Auflösung mit, den Raum, den Hintergrund der Figur. Du zeigst zur Vorbereitung Filme.

Das hängt mit dem Unterschied von Theater und Film zusammen. Man tut beim Film ja gerne so, als ob man nur eine Theaterszene spielte, man spricht mit den Schauspielern über die Anordnung im Raum, über Psychologie oder was weiss ich – aber die Kamera wird behandelt, als sei sie nur ein Aufzeichnungsinstrument. Dabei sind die meisten Schauspieler total intelligent, das Kino betreffend. Sie gehen sehr oft ins Kino und haben begriffen, was die Kamera macht und aufbauend darauf kann man sich auch Filme mit denen ansehen.

Bei den Vorbereitungen zu „Wolfsburg” habe ich mit Benno Führmann gesprochen und er meinte, „das muss alles aus dem Bauch kommen”. Der tut dann immer so anti-intellektuell. Dann habe ich mit ihm „Driver” von Walter Hill angeschaut und „Two-Lane Blacktop” von Monte Hellman, weil es darum ging, wie man Auto fährt. Wir haben uns zum Beispiel angesehen, wie Ryan O’Neill ins Auto steigt. Die meisten Schauspieler können einfach nicht Autofahren, weil das nicht von ihnen verlangt wird. Die können Reiten, Fechten und Menuett, aber nicht Autofahren. Das hat eben nichts mit Theater zu tun, Autofahrer sind somnambul, sind in Tagträumen. Ich kenne viele Leute, die fahren die Avus rauf und runter, wenn Sie ein Problem haben, weil man da einfach in so einem Stream gerät… Die Darstellung von Ryan O’Neill hat Benno dann imponiert. Es geht also nicht darum, Filme zu sehen, die was mit dem Thema zu tun haben, sondern es geht um Aggregatzustände, und dafür liefert das amerikanische Kino gutes Anschauungsmaterial, weil es wesentlich physischer ist.

Da die Figur, die Benno in „Wolfsburg” spielt, nicht mit Psychologie aufgeladen ist – es wird überhaupt nicht erklärt, woher er kommt – braucht der Körper eine Geschichte. So ähnlich wie diese Urszene für den ganzen Film gibt es auch für die Figuren so einen Schlüssel, und der liegt im Körpergedächtnis.

Ich habe dann so eine Geschichte aufgeschrieben: In den siebziger Jahren sind unheimliche viele Arbeiter über den zweiten Bildungsweg in den Facharbeiterstatus aufgestiegen. Das heisst, die Arbeiter haben ihre Klasse verlassen; ein Reihenhaus wurde möglich, eine Reise über den Atlantik oder eine Fremdsprache. All das war neu für die Arbeiter. Gleichzeitig haben sie Ihre Klasse verlassen und sind nicht in einer Neuen angekommen. Dieser Gedanke hat mich mit der Figur von Benno beschäftigt. Ich habe ich ihm eine Biographie geschrieben, die auch mit seiner persönlichen Schaupielbiographie zu tun hatte. Er hat ja mal diese Serie „Und Tschüss!” gemacht und dort den Tankwart gespielt. Und gewissermassen dieser Tankwart hat es geschafft, in einem Autohaus Verkaufsleiter zu werden, die Schwester des Chefs zu heiraten und so aufzusteigen. Und der Film erzählt im Grunde genommen das Wieder-Herausfallen aus dieser Klasse.

Aber wie stellt man dann sicher, dass diese abstrakte Information dann Körper wird? Wie soll man denn einen Arbeiter spielen, der in eine andere Klasse aufsteigt…?

Das will ich gar nicht. Er soll es gar nicht übersetzen ins Spielen, das wäre ja schrecklich. „Spiele doch mal einen Aufsteiger!” Da kriegst du doch nur eine Karikatur. Nein, das sind Informationen, die er sechs, sieben Wochen vor dem Dreh in die Hand bekommt. Das gehört alles zusammen, die Biographie, die Filme. Irgendwann wurde dann dieser NSU Ro 80 geliefert (ein Auto, das in „Wolfsburg” eine entscheidende Rolle spielt), ein Wagen, den noch keiner gefahren hat – also hier im Saal wahrscheinlich auch niemand, weil er eben äusserst selten ist –  und den hat sich Benno erst mal genommen und ist damit abgehauen, um ihn für sich einzufahren. Das war seine Reaktion darauf. Und diese Art von Schauspiel gefällt mir.

Auf der Berlinale (2003) hat eine Frau im Publikumsgespräch zu „Wolfsburg” gesagt, es würden in deinem Film so schreckliche Dinge passieren, warum die Figuren darauf nicht emotionaler reagieren dürften. Und da hast du geantwortet, du willst nicht, dass deine Schauspieler anschaffen gehen.

Es ist ja so: wenn ein Schauspieler alles gibt und schreit, bekommt er den Bundesfilmpreis, oder wenn er behindert spielt, in der deutschen Form des Methodacting. Ich glaube, gerade das Extrem des Ausdrucks bringt nur Klischees hervor… deshalb sage ich nicht: „Spielt kalt!”, sondern: „Spielt das Abgewandte!” Wenn jemandem etwas angetan wird, weil das die Handlung vorschreibt, dann muss der Schauspieler dem Zuschauer nicht auch noch vorführen, was er auf der Schauspielschule gelernt hat. Also auf den Mehrwert von echten Tränen und einem handwerklich erstklassigen Schreikrampf kann ich verzichten.

Mir drängt sich manchmal der Verdacht auf, dass sich im Kunstfilm sozusagen eine Gegenkoventionalität entwickelt. Wo Hollywood immer hinschauen würde, schaut der Kunstfilm nie hin.

Das stimmt nicht. Also das Hollywoodkino der Gegenwart ist wahrscheinlich sowieso am Ende, aber wenn man zurückblickt auf das Kino der Siebziger, dann stellt man fest: die Schauspieler bei Don Siegel zum Beispiel oder in Filmen des New Hollywood Kinos gehen nicht hausieren mit ihren Gefühlen, die gehen nicht anschaffen. Eigentlich sind alle wunderbaren Filme zurückhaltend und kalt – nicht im Sinne von gefühlskalt, sondern im übertragenden Sinne: die Erzählerposition ist kalt. Ich finde es einfach unanständig, in dem Moment, wo jemand schreit, noch eine Ranfahrt zu machen. Oder, wenn sich jemand abwendet, um ihn herumzufahren.

Es gab kürzlich eine ganz schreckliche Sendung im ZDF über ein Mädchen, das zehn Jahre lang von ihrem Stiefvater missbraucht worden ist. Und diese Bilder, die dieser Mann auf Super 8 oder Video selbst gemacht hatte, haben sie dann „gepixelt” – also elektronisch unkenntlich gemacht. Man konnte nichts darauf erkennen, aber die Tonspur, die haben sie gelassen. Das war wirklich pervers, man konnte das Kind schreien hören: „Bitte nicht wehtun!” Da bin ich schon rausgelaufen! Aber ich wollte das jetzt ins Positive wenden: der Schrecken ist in der Auslassung viel grösser. Das ist dann nicht kalt in einem allgemeinen Sinne, sondern es ist – bestialisch gesagt – effektiver. Es ist doch so: in den Trash-Horrorfilmen sieht man das Monster stundenlang, in den sehr guten Horrorfilmen sieht man es nie.

Du arbeitest sehr viel mit Auslassungen. Würdest du sagen, du reagierst auf das, was wir alle schon wissen? Wir sehen ja alle täglich Filme, mehr oder weniger bewusst, und bestimmte Dinge kann man heute vielleicht sparsamer erzählen, weil sich die Vervollständigung jeder denken kann.

Ich weiss nicht. Mich interessiert nicht, wie jemand mit dem Auto vor dem Haus vorfährt, den Sicherheitsgurt löst, aussteigt, klingelt, wartet, ein Augenzwinkern mit dem anderen Kommissar, „Hoffentlich ist sie noch da…”. So gehen auch sechzig Fernsehsekunden vorüber, aber das interessiert mich nicht. Ich will wissen, wie Leute weggehen von einem Haus. Im Weggehen wird eigentlich viel mehr erklärt, und man gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, die Szene zu rekonstruieren. Er kann sie auffüllen entlang seiner Erfahrung, in einem Detailreichtum, den man erzählerisch nie bewältigen könnte.

Bei „Die Beischlafdiebin”, da geht es von Agadir nach Köln, da sieht man nur das Zugabteil. Das ist eine sehr schöne Einstellung, man sieht nur vorbeiziehende Pfeiler einer Brücke. Das ist dann Köln, ganz ohne Postkarteneinstellung.

Der Establishing Shot, der die Räumlichkeit erklärt, ist deshalb so populär, weil man danach machen kann, was man will. Das ist eigentlich so eine 50er Jahre Grammatik, aber die gibt es leider immer noch. Also erste Einstellung: Kölner Dom, und alles weitere ist völlig austauschbar, das kannst du in jedem Drecksstudio drehen. Das muss man machen, wenn man nur 21 Drehtage hat und einen Tatort dreht, weil sonst der ganze Laden kollabiert. Wenn man aber 5, 6 Drehtage mehr zur Verfügung hat, kann man anders denken. Die Auflösung macht natürlich viel mehr Arbeit, wenn man auf den Establishing Shot verzichtet, aber es lohnt sich.

Mich würde interessieren, inwieweit du dich für Stil interessierst. Es hat sich ja schon so etwas wie eine Methode entwickelt, die von Film zu Film auch immer sicherer wird, scheint mir. Das, was du gerade beschrieben hast, ist Teil dieser Ästhetik, des Petzold-Stils wenn man so will. „So zeigt Petzold, wie ein Mann stirbt.” Es gibt bestimmte Situationen, die du in diesem Stil schon gemeistert hast. Die sind dann fortsetzbar. Ist das etwas, was Dich interessiert?

Ich versuche nicht zuviel darüber nachzudenken, weil die Birne explodiert dann irgendwann… Ich kontrolliere schon so viele Bereiche.

Angst vor zu viel Kontrolle?

Ich arbeite, seit ich Filme mache, mit den gleichen Leuten. Und dadurch, dass wir viel miteinander gesprochen haben, haben sich gewisse Dinge verselbstständigt. Also es war immer der gleiche Kameramann, Hans Fromm, der gleiche Ausstatter, Kade Gruber, die gleiche Cutterin, Bettina Böhler, es waren die gleichen Kostümbildnerinnen, Lisy Christl bzw. Anette Gunther, die gleichen Tonleute, Martin Ehlers und Andreas Mücke-Niesytka bzw. Heiko Herrenbrück, usw. Diese Kontinuität geht wirklich sehr weit. Und wenn ich mit zum Beispiel mit dem Ausstatter Kade Gruber treffe, sprechen wir über das Projekt, sehen uns Filme an und so weiter… und dann lass ich ihn ein paar Wochen alleine und er baut etwas. Und was er dann anbringt, das finde ich immer richtig. Wir haben da wirklich ein gemeinsame Sprache gefunden. Bei „Wolfsburg” zum Beispiel haben wir uns mit der Kostümbildnerin Lisy Christl hingesetzt und die Farbpalette festgelegt anhand von Stilleben von Georgio Morandi, die ich mitgebracht hatte.

Warum Morandi?

Was mir an diesen Stilleben so gefällt, ist ihre Alltäglichkeit, bei der ich trotzdem nie das Gefühl habe, sie gehörten mir; es ist eher so, dass die Bilder mich  anschauen. Das bewegt sich jetzt am Rande der Esoterik, aber es ist wirklich so. Und wenn man das gut durcharbeitet, dann ist das auch für die Darsteller gut, weil sie sich dazu in Beziehung setzen können. Aber bitte nicht diesen Alltagsrealismus! Die Raviolidose auf dem Tisch, das hält doch keiner aus. Lieber alles in die Schränke räumen.

Jacques Rivette hat gesagt, bestimmten Themen gegenüber müsste man Zittern. Also den letzten Dingen, dem Tod etwa, könnte man nicht elegant begegnen. Mein Gefühl ist, dass die Sicherheit, die deine Filme ausstrahlen, in diesem Sinne manchmal in Konflikt geraten mit ihrem Gegenstand.

Ich halte das für eine kleinbürgerliche Auffassung von Kunst. Als gäbe es den kontrollierten Bereich und dann so kleine Ecken, wo es gefährlich wird… Das klingt, als ob der kontrollierte Bereich Stammheim wäre und das Andere wäre die versteckte Pistole.

Ich habe überhaupt keine Bilder im Kopf. Ich finde das schrecklich, wenn Leute erzählen: „Ich hatte da so ein Bild im Kopf, das musste raus.” Die besten Bilder entstehen nicht im Kopf, sondern kollektiv. Man darf nicht vergessen, wie wichtig die Produktionsbedingungen für den kreativen Prozess sind. Wenn man permanent Zoff hat, dann merkt man das dem Film an. Ich finde, man kann den meisten Filmen ihre Produktionsverhältnisse ansehen. Und wir arbeiten eben sehr konzentriert, mit verschiedenen Vereinbarungen – wenn du so willst, Sicherheiten – die während der Dreharbeiten unglaublich viel Freiheit lassen. Wir haben noch jede Auflösung geändert, es gibt kein Storyboard, das je so realisiert worden wäre, wie ich mir das vorher vorgestellt hatte. Wenn ich ans Set komme, sind die ersten zwei, drei Stunden kollektive Arbeit und deswegen brauche ich da auch Leute, die das mittragen und nicht in hierarchischen Systemen denken.

Verbindest du mit deiner Arbeit auch so etwas wie eine gesellschaftspolitische Hoffnung? Verstehst du deine Filme als politisch?

Nein, denn das hiesse, die Ebene des Films zu verlassen. Es gibt ein Buch von Peter Nau, „Kritik des politischen Films”, das von der These ausgeht, dass das Medium selbst politisch sei, unabhängig davon, ob es Politik abbilde oder nicht. Das hat mir immer eingeleuchtet. Die Politik schreibt sich schon über die Produktionsverhältnisse in den Film ein, sie muss in der Erzählung direkt gar nicht vorkommen.

Aber du beschreibst doch in deinen Filmen Abhängigkeitsverhältnisse, wirtschaftliche Strukturen… das sind doch gesellschaftliche Realitäten, die eine politische Dimension haben.

Wenn der Film zu Ende ist, denke ich mir, vielleicht ist da was dran, aber ich plane das nicht. Was haben eine Frau, die als Beischlafdiebin lebt und eine Schwester, die sich um eine Stelle bewirbt, miteinander zu tun? Eine Beischlafdiebin ist ja jemand, der nur verführt, der es nicht zum Geschlechtsverkehr kommen lässt. Die Schwester versteht, dadurch dass sie diese Bewerbungen macht, dass sie sich beide prostituieren, mit dem Unterschied, dass die eine ihre Seele verkauft und die andere nur ihren Körper. Nun ja. Da steckt sicherlich Politik drin, aber das ist nicht die Ursache der Filme.

Das Gespräch führten Nicolas Wackerbarth und Christoph Hochhäusler am 25.10.2003 in Berlin im Rahmen von Revolver Live! Bearbeitet von Christoph Hochhäusler und Nicolas Wackerbarth. Danke: Alexandra Engel, Barbara Schindler, Volksbühne Films / Praterfernsehen.

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