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Neue realistische Schule?

Christoph Hochhäusler: Die Vorstellung, die man sich heute macht, wenn der Begriff „realistischer Film“ fällt, ist relativ homogen. Es haben sich wie zu anderen Zeiten auch Konventionen des Realistischen herausgebildet. Realismus ist beinahe ein Genre des Films geworden mit monotonen Eigenschaften inhaltlicher und formaler Art. Behaupte ich. Wie es gekommen ist, dass sich dieses Genre in Deutschland neu beleben konnte, welche Ideen, Erfahrungen und Hoffnungen sich damit verknüpfen, darum soll es in dieser Diskussion gehen.

amateure

Nicolas Wackerbarth: Wir haben vier Regisseurinnen bzw. Regisseure eingeladen: Maren Ade („Der Wald vor lauter Bäumen”), Sylke Enders („Kroko”), Sören Voigt („Identity Kills”) und Henner Winckler („Klassenfahrt”), die sehr unterschiedliche Filme gemacht haben, die aber alle auf ihre Art „realistisch” sind, wie wir finden. Ob die Regisseure das selber so sehen, wird sich zeigen. Es ist nicht so, dass die vier sich gemeldet haben und gesagt haben, „Ich bin Realist.” Vielmehr hatten wir den Eindruck, dass es da einen Zusammenhang gibt. Ein Merkmal von realistischen Filmen ist die Arbeit mit Laien in den verschiedensten Ausformungen. Henner, inwieweit unterscheidet sich die Arbeit mit Laien von der Arbeit mit Schauspielern?

Henner Winckler: Ich komme von der Kunsthochschule und im Gegensatz zu den Filmhochschulen war es für uns eher schwierig, überhaupt an Schauspieler heranzukommen. Deswegen haben wir in unseren Kurzfilmen sehr oft Freunde besetzt; mit Laiendarstellern zu arbeiten lag also nahe. Ich hatte einfach mehr Erfahrung damit, mit Laien zu drehen. Bei „Klassenfahrt“ war ich mir zu Anfang unsicher, wie viele Laien ich besetzen sollte und wie viele Schauspieler. Ich habe ein sehr ausführliches Casting gemacht und am Ende fast nur Laien genommen, weil mir die Art zu spielen besser gefallen hat.

Hochhäusler: Kannst Du das beschreiben, die Art zu spielen?

Winckler: Also, ich habe das Casting so gemacht, dass ich Dialoge hatte, gleichzeitig aber auch Improvisationen gemacht habe und dann einfach geschaut habe, was mich mehr anrührt, wo ich mehr empfinde, wenn ich das nachher sehe. Es sind sehr viel Jugendliche dabei gewesen, und da war das so, dass ich mit denen, die vorher noch nicht gespielt haben, einfach mehr anfangen konnte. Bei den Erwachsenen war das anders, das sind aber eher kleinere Rollen gewesen. Der Lehrer, das ist ein Schauspieler. Wir haben für diese Rolle auch Laien gecastet, aber das war schwierig. Das zweite Casting war in Polen, in dem Ort, in dem die Geschichte spielt, und da lag es einfach sehr nahe, die Leute in ihren eigenen Positionen zu besetzen. Das war für mich einfach der nahe liegende Weg.

Hochhäusler: Abgesehen von den ganz pragmatischen Gründen, wenn Du sagst, es hat Dich mehr angerührt, heißt das, es war für Dich realer? Bringen die mehr Leben mit?

Winckler: Das ist schwierig, das so zu sagen… Wir haben zum Beispiel eine Szene gedreht mit einer Museumsführung, und wenn jemand wirklich immer die Museumsführung macht, dann weiß die genau, wie es geht und bringt natürlich mehr Leben mit, mehr Erfahrung, da passieren einfach Sachen, die ich selbst mir so nicht ausdenken könnte.

Wackerbarth: Aber findest Du auch, dass die eine andere physische Präsenz haben, als jemand, der geschult ist, mit der Kamera umzugehen?

Winckler: Ich kann das nicht so allgemein sagen. Ich glaube, es gibt Schauspieler, mit denen man in Regionen vorstoßen kann, in die man mit Laien nicht kommt, gerade wenn die Rolle nicht übereinstimmt. Meine Erfahrung war: In dem Moment, wo der Laie nicht mehr auf seine eigene Erfahrung zurückgreifen kann oder irgendetwas falsch läuft, ist man sehr verloren. Ein Schauspieler ist für so ein Problem natürlich trainiert. Ich glaube, der Laie ist einfach am tollsten, wenn er sehr viel von sich einbringen kann. Ich kann mir gut vorstellen, in einem anderen Film viel mehr Schauspieler zu besetzen. Das liegt, glaube ich, auch am Stoff.

Wackerbarth: Wie war das bei Dir, Sören? Du hast ja eine Schauspielerin in der Hauptrolle und die trifft auf sehr viele Laien in „Identity Kills“. War das Konzept?

Voigt: Das war nicht nur Konzept, sondern auch der Grund, warum ich den Film gemacht habe. Einen Film außerhalb eines fest gefügten Zeitschemas und Sets zu machen, das hat mich interessiert. Also möglichst flexibel sein und unterwegs entstehen, wie ein Roadmovie. Nicht nur die Drehorte casten und suchen und finden, sondern auch die Besetzung, soweit es ging. Wir sind zum Beispiel losgefahren und haben einen Autoladen gesucht, haben bei zwei Autoläden gefragt, sind abgewiesen worden, und der dritte wollte dann mitmachen.

Hochhäusler: Und dann habt ihr direkt gedreht?

Voigt: Dann haben wir gedreht.

Hochhäusler: Am gleichen Tag? Ihr seid zu drei Läden gefahren, der dritte wollte dann, und dann habt ihr gedreht?

Voigt: Ja. Da sind wir gar nicht hingefahren, sondern nur um die Ecke gegangen, weil… (Gelächter) das war das Konzept. (Gelächter)

Wackerbarth: Es gibt die Szene auf dem Standesamt, die ich sehr schön finde… Hast Du den gecastet, diesen Standesbeamten?

Voigt: Das war der Einzige, der das machen wollte. Den haben wir wirklich suchen müssen, weil viele Standesämter das auch gar nicht in ihren Terminplan reinbekommen. Dieser Heribert Joos, wie der Herr heißt, ist medial vorgebildet, der taucht immer mal wieder in Sendungen auf, der hat da eine gewisse Affinität zu. Das wusste ich aber nicht vorher, das hat sich erst in der Szene herausgestellt. Das Schöne ist halt, wenn Du Leute nimmst, die in diesem Beruf oder in dieser Funktion stecken, dass sie das unbeschreiblich perfekt drauf haben, was sie machen. Ob das nun der Reisebüromensch ist, ein Autoverkäufer oder eben der Standesbeamte, die leiern ihr Ding runter, und das ist dann perfekt. Das kann kein Schauspieler besser machen, bzw. wenn er’s machen wollte, müsste er sich sehr lange einarbeiten und eine bestimmte Begabung mitbringen, die ich bei Schauspielern in Deutschland sehr selten sehe… in Amerika schon eher. Aber diese Authentik oder wie man das nennt (lacht), die gibt’s halt bei uns nur auf der Straße.

Hochhäusler: Du würdest sagen, das kannst du hier professionell nicht herstellen?

Voigt: Ich glaube, dass es in Zukunft eher mehr Schauspieler geben wird, die das können, aber so wie wir für die Bühne ausbilden… diese chamäleonartige Annäherung an das, was real erscheint, ist eigentlich gar nicht vorgesehen. Meine Darstellerin, mit der ich ganz konventionell gearbeitet habe, war am Anfang völlig überfordert, fühlte sich nackt und unfähig, weil so improvisierte Sachen doch erheblich absturzgefährdeter sind für Schauspieler. Die können sich an nichts festhalten… Das war für Brigitte (Hobmeier) die erste Filmrolle nach der Schule – nach dieser Mammut-Theater-Geschichte „Faust“, wirklich das krasseste Gegenteil, was sie erleben konnte.

Wackerbarth: Und wolltest Du diese Kluft haben, dass sie eine andere Konzeption spielt? Sie hat für mich in dem Film etwas sehr Ikonenhaftes.

Voigt: Ich habe sie eigentlich besetzt, weil diese ganze Idee auf einmal in mir ins Rutschen geraten ist, als ich sie kennen gelernt habe. Es gab ja, wie gesagt, kein Drehbuch, und ich habe mir das auf einmal vorstellen können mit ihr. Ich habe das vorher schon einmal mit einem männlichen Hauptdarsteller versucht, eine ganz ähnliche Geschichte, der gleiche Plot, und das hat gar nicht funktioniert. Da gab es sofort Streit. Ich weiß auch nicht, warum. Und dann dachte ich mir, irgendwas muss hier falsch sein, ich bin’s nicht. (Gelächter) Und dann ist Brigitte aufgetaucht.

Wackerbarth: Maren, wie war das bei Dir… das sind ja alles Schauspieler?

Ade: Die Hauptfigur, die Lehrerin Pröschle, das ist eine Schauspielerin, Eva Löbau. Aber die Schüler sind alles Laien. Am Anfang war ich mir da nicht sicher und habe auch medienerfahrene Kinder gecastet, dann aber gemerkt, das klappt überhaupt nicht. Das war ein wahnsinniger Unterschied zu den Laien. Die haben sich da sehr zuhause gefühlt – das war natürlich auch ihre Schule, wo sie jeden Tag hingehen, sie kannten sich untereinander. Ich brauchte ja keine konkrete Hauptfigur, sondern eher so eine Masse an Schülern. Interessant war, dass die Laien, mit denen ich beim Casting schon länger gearbeitet hatte, beim Drehen eigentlich gar nicht mehr brauchbar waren. Die haben dann letztlich versucht, das, was beim Casting gelobt wurde, nachzuspielen.

Hochhäusler: Man hört das oft von Regisseuren, Laien, die schon mal gespielt haben, seien „verbraucht”. Als wäre das Echte ein Haut, die sich schon bei einmaliger Benützung abpellt.

Ade: Na, die wussten halt dann, „wie es geht”… Man lobt sie, damit sie selbstbewusst werden oder weiß ich nicht… und das haben sie dann total überspielt, das, wofür sie da gelobt wurden.

Wackerbarth: Wie war das bei „Kroko“?

Enders: Puuh! Oh Gott. Ich könnte gar nicht eindeutig sagen, Laien sind so, Schauspieler sind so. Ich würde lieber über Herrn X oder Frau Y sprechen, dann wird für mich ein Schuh draus… Wie zum Beispiel der Danilo Bauer, der den dicken Rolle gespielt hat, sich plötzlich für den Film erwärmt hat und in allen Sparten mitgedacht hat, auch für sich selbst… Also, das ist ein Typ – und das kann man nicht für alle Laien sagen und auch nicht über alle Schauspieler – der hört in sich nach, wenn er in einem Vorgang drinsteckt, der ist bei sich. Er hat keine… ich nenn das immer „falsche Töne“. Letztens haben wir uns amüsiert und gesagt, „das war aber wieder Lindenstraße. Noch mal!” Es gibt so eine bestimmte Tonart, die einfach falsch ist. Und bei Danilo kann so etwas einfach gar nicht vorkommen. Also, es kam nie vor! Bei allen anderen, selbst bei Franziska (Jünger), da kam es vor.

Hochhäusler: Du würdest also sagen, so ein Umgang mit der Kamera ist einfach eine Gottesgabe. Das hat der, und das beutest Du dann aus für Deinen Film?

Enders: Na klar beute ich das aus! Du guckst den an, fühlst (manchmal irrt man sich und schickt jemanden nach Hause, den man vielleicht in drei Tagen hätte umkrempeln können…) und lässt ihn erst mal die Hose ausziehen.

Hochhäusler: Deine Methode?

Enders: Ein wenig. Ja.

Frage aus dem Publikum: Mich würde mal interessieren, in welchem Stadium die Laiendarsteller als Korrektiv dienen für die Geschichten, die nicht eurem Leben entsprechen, sondern eher dem der Laien, mit denen ihr arbeitet.

Enders: Also wenn ich zum Beispiel einen Vorschlag vom Sender bekomme und das Gefühl habe, das würden die nie machen, dann erzähle ich das den Jungs und Mädels und sage, „Soll ich euch mal erzählen, was die von uns wollen? Was wir für einen Quatsch erzählen sollen?“ Das sagt der: (extrem coole Stimme) „Das würde ich nie tun! Das würde ich nie spielen!“ (Gelächter) Und ich meine, die kommen nun wirklich aus’m Wedding. Da gehe ich dann zu der besagten Person und sage, „Du kannst mich mal! Das würden die nie tun.“ (Gelächter)

Hochhäusler: Aber weiß man denn, was man tut?

Enders:  Du kannst mit irgendwas die Würde der Figur verraten, absolut. Und damit eigentlich alles zunichte machen, was Du vorher aufgebaut hast.

Winckler: Ich finde, dass man den Leuten nicht immer glauben darf, wenn sie sagen, „Das würde ich nie machen.“, oder „Das würde ich nie anziehen.” Oft ist das Selbstbild auch nicht frei von Klischees. Man muss da, glaube ich, immer aufpassen, wenn die sagen, „Mein Leben ist eigentlich viel cooler“, ob es wirklich viel cooler ist oder ob das nur die Vorstellung ist von Coolness, die sie gerne in dem Film dargestellt sehen würden. Es kommt vor, dass sie sagen, „Die Schürze würde ich nie anziehen“, aber Du weißt, sie hat die Schürze vorher angezogen, und Du hast auch noch das Polaroid davon, wie sie die Schürze angehabt hat. Der Laie hat die Wirklichkeit nicht für sich gepachtet. (Gelächter)

Hochhäusler: Im Grunde ist das ein Prozess, der auch auf der Seite des Zuschauers vor sich geht. Jeder Film, den man sieht, läuft ja durch dieses Raster: „Würde ich mich auch so verhalten, würde ich mich ähnlich verhalten, kann ich das irgendwie nachvollziehen?“

Winckler: Ich glaube nicht, dass das Sinn macht. Es ist ja im Film eine Person erst interessant, wenn sie etwas anderes macht, als das, was man vielleicht selber machen würde. Immer nur „Ich würde jetzt aber das machen“, das führt auch nicht unbedingt zu einem spannenden Film. (Gelächter)

Publikum: Aber das ist der Punkt: Kann man Realismus auf Glaubwürdigkeit reduzieren?

spielregel

Hochhäusler: Ich würde ganz gerne über die filmische Form reden, denn wenn ich „realistischer Film“ höre, habe ich sofort so ein Bündel an, ja, Klischees im Kopf, was ein realistischer Film darf und was nicht. Also er darf auf eine bestimmte Weise mit Musik umgehen, auf eine bestimmte Weise mit der Kamera umgehen, er darf zum Beispiel keinen Kran benützen, keine symphonische Musik und so weiter. Also es gibt so ein paar Klischees, die mir sofort einfallen zum realistischen Film, und an die meisten dieser Klischees, wenn ich das mal provokant so formulieren darf, habt ihr euch auch gehalten. Warum? (Gelächter)

Winckler: Also, da würde ich jetzt zumindest zum Teil widersprechen. Ich glaube, in „Kroko“ ist richtig Filmmusik drin. Ist richtig, oder?

Enders: Das stimmt.

Winckler: Und… Also, ich habe auch ein bisschen Filmmusik drin.

Wackerbarth: Ein bisschen darf man ja auch. (Gelächter)

Hochhäusler: Aber es gibt so ein Schamgefühl. Man spürt schon immer den Übertritt. Es gibt so eine Credit-Sequence, da gibt es noch Filmmusik, aber dann ist es nur noch Source-Musik.

Wackerbarth: Source-Musik ist erlaubt.

Winckler: Es gibt praktische Entscheidungen und geschmackliche. Ich finde traditionelle Filmmusik nur sehr selten gut. Es gibt natürlich ganz, ganz tolle Beispiele, aber meistens ärgert es mich, weil da meine Emotion in eine bestimmte Richtung gelenkt wird und ich in diesem Moment vielleicht ganz anders empfinde. Ein Verzicht auf diese Art von Musikeinsatz gibt dem Zuschauer Freiheit. Er fühlt sich nicht so gegängelt. Das ist eine geschmackliche Entscheidung. Die Abwesenheit von Kranfahrten und dergleichen, das sind natürlich auch praktische Entscheidungen. Wobei es mir persönlich sehr angenehm ist, mit der Kamera auf einer Höhe mit den Darstellern zu sein.

Hochhäusler: Wenn man auf den ersten Teil Deines Arguments eingeht, dann sagst Du ja, Du willst weniger manipulieren, um dem Zuschauer mehr Raum zu geben. Aber das könnte doch eigentlich die raffiniertere Verführung sein, weil Du Gestaltungsmittel versteckst, Plotpoints, die alle existieren, werden kaschiert, der Dialog klingt, als wäre er beobachtet und so weiter, und dadurch, dass mir das filmische Bild sozusagen nicht so vor den Schädel gehauen wird, bin ich verführbarer.

Winckler: Ja, aber das unterstellt mir eine Absicht… (lacht) Natürlich ist Film immer auch Verführung. Klar. Auch ein „rein dokumentarischer” Film ist natürlich ein subjektiver Blick, der in erster Linie den Blick zeigt und nur in zweiter Linie die Welt…

Wackerbarth: Sören, was denkst du? Was darf man, was darf man nicht?

Voigt: Jeder darf das, was er will. Ich wollte in meinem Film beobachten… Der Realismus, der da entstanden ist, kam durch die Art und Weise, wie wir gearbeitet haben. Weil wir mit Laien gearbeitet haben, war der erste Take in der Regel der Tauglichste, und deshalb kam nach dem zweiten Drehtag eine zweite Kamera dazu, die immer mitgelaufen ist. Und so hat sich dann für die Hauptdarstellerin zumindest phasenweise das Gefühl ergeben, gar nicht mehr zu wissen, was jetzt eigentlich im Film drin ist. Wo hört das auf und wo fängt das an? Und das war ganz entscheidend. Es war beim Drehen auch gar nicht klar, dass das ein Film wird bei mir. Wir haben das als Experiment begonnen. Ein Film wurde es in dem Moment, wo ein Festival gesagt hat, das zeigen wir. Wir haben ja ohne Förderung und ohne Fernsehgeld gedreht, und erst die Berlinale-Einladung hat uns dann dazu gebracht, überhaupt rauszukommen mit dem Teil.

Ich überlege mir gerade, inwieweit man dieses Arbeiten ohne Drehbuch auch für das Drehen mit Drehbuch nutzbar machen kann. Wie zügelt man das Geschriebene so, dass die Gestaltung unsichtbar wird? Man will ja „unschuldige” Momente erleben. Wenn Du ohne Geld, ohne alles drehst, einfach nur auf die Straße gehst, dann ist das ein viel direkterer Spiegel deiner Persönlichkeit, wie durchs Vergrößerungsglas. Da ist nichts mehr mit Kran und wie schön… Da werden die Autoren, die diesen Film machen, gnadenlos sichtbar.

Wackerbarth: Maren, dein Film hat auch diese Intensität der Improvisation…

Ade: Ich habe aber eigentlich so gedreht, wie man das gelernt hat bei uns auf der Filmhochschule. Ich habe ein Drehbuch geschrieben, habe das geplant, habe eine Auflösung gemacht und so weiter. Wobei ich schon versucht habe, mich sehr stark an der „Realität“ zu orientieren, gerade was die Geschichte angeht. Ganz interessant war, war, dass durch diese realen Schulklassen so ein Moment von „Gefahr” in den Film kam. Das hatte natürlich Auswirkungen auf das Spiel von Eva Löbau, dass sie da vor einer wirklichen Klasse stand.

Wackerbarth: Hatte es auch Auswirkungen auf die Art zu drehen?

Ade: Wenig. Gut, es hat auch so ein bisschen unser Auflösungssystem gesprengt… Wir haben irgendwann gesagt, wir gehen da zu dritt rein, machen die Tür zu, und Eva macht erst mal zehn Minuten Unterricht für diese 32 Fünftklässler… Mit Eva konnte ich ja auch kommunizieren, wann man dann zu dem Punkt kommt, wo man in den Film einsteigt.

Hochhäusler: Was meinst du, warum gibt es plötzlich so viel mehr Realität im deutschen Film?

Ade: Die Mittel bringen das ja schon mit. Wenn man mit einer Videokamera in so einem Lehrerzimmer stehst… Also ich meine, was will man da machen? Es gibt nur eine Möglichkeit: Darauf zu achten, dass die Schauspielerin zwischen den echten Lehrern nicht auffällt. Ich wollte eigentlich immer an diese Grenze kommen, dass sie so einen Tick drüber ist. Das merkt man auch teilweise noch im Film, dass sie so an der Grenze ist, wo man so denkt: Gibt es so jemanden? Sie hat ein bisschen was Komödiantisches…

Hochhäusler: Aber Du würdest sagen, in erster Linie ist die Ästhetik eine Ästhetik des Mangels?

Ade: Nee, ich wollte unbedingt auf Video drehen, weil ich einfach bei den Kurzfilmen das Gefühl hatte, dass immer dann, wenn es interessant wurde mit den Schauspielern, das Material zu Ende war. Ich wollte auch nicht mehr so lange warten, bis das ganze Licht da ist und das ganze Gedöns… Also ich wollte wirklich auf Video drehen.

wellenreiter

Michael Klier (im Publikum): Darf ich fragen, welche Vorbilder ihr habt?

Ade: Da fragst Du jetzt gerade die Richtige. (Gelächter) Ich muss ja nicht antworten.

Wackerbarth:  Sylke, sag doch mal!

Enders: Ouaah!

Voigt: Eins meiner Vorbilder, ich wollte das mal sagen, war so ein Film, der hieß: „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ (Regie: Michael Klier; Anm. d.Red.) Ich war 18 und habe den Film damals in Köln in der Filmpalette gesehen… Ich war total fertig danach. Ich dachte, das gibt’s ja nicht! Das ist einer der besten Filme, die ich je gesehen habe. (Gelächter)

Wackerbarth: Sören hat ja zuvor auch Cassavetes genannt.

Enders: Den nennen doch alle!

Ade: Ich habe keinen einzigen Film von dem gesehen.

Michael Klier (im Publikum): Meine Frage knüpft da an: Ob man etwas Neues erfindet, was es noch nicht gegeben hat? Oder ob man den Realismus bei den Leuten vor uns fortsetzt?

Winckler: Also bei mir war es nicht so, dass ich das Gefühl hatte, dass ich etwas Neues kreiere. Mich hat der deutsche Film irgendwann nicht mehr interessiert. Die Sachen, die mich fesseln, sind eher in den Sechzigern oder frühen Siebzigern entstanden, wobei ich sagen muss, dass es immer wieder einzelne deutsche Filme gegeben hat, die mich beeindruckt haben. Ich sehe relativ viele Filme, und mein Hauptinteresse gilt älteren Filmen. Was ich sehr liebe, sind neben Cassavetes, Fassbinder, und Kiarostami die Filme von Warhol und Paul Morrissey, das sind für mich sehr große Filme, die extrem in diese (realistische) Richtung gehen.

Hochhäusler: Zu diesen Vorbildern gehört ja auch die Frage, gegen welches Kino man ist. Dich hat das, was im deutschen Film passiert ist, nicht interessiert. Inwieweit ist euer Kino ein Kino des Widerstands?

Winckler: Ich weiß nicht. Ich glaube, dass das kein deutsches Phänomen ist. In Dänemark gab es Dogma, in Österreich Filme von Jessica Hausner und Barbara Albert und so weiter. Auch in Frankreich oder Belgien gibt es diese neue realistische Tradition. In ganz vielen Ländern ist nach der Künstlichkeit der achtziger und frühen neunziger Jahre so ein Interesse daran entstanden. Das ist eine Welle, und die wird auch wieder zurückschlagen.

Hochhäusler: Du würdest sagen, Du bist Teil dieser Welle?

Ade: Wir hinken so einem Trend hinterher eigentlich. (Gelächter)

Hochhäusler: Aber jetzt mal abgesehen vom Trend… interessiert ihr euch für Deutschland?

Ade: Ich schon, ja, doch. (Gelächter)

Wackerbarth: Das ist ja eine Qualität, wenn so was im Film vorkommt. Dass man eben nicht versucht, München aussehen zu lassen wie Paris, sondern dass man Pinneberg zeigt, wie Pinneberg ist.

Voigt: Ich glaube, es ist noch nie ein Film in Pinneberg gedreht worden. (Gelächter)

Wackerbarth: Das war jetzt so ein kleiner Ideenanstoss. Habt ihr das Gefühl, dass Deutschland nicht gezeigt worden ist im Kino?

Voigt: Das Gefühl hatte ich eher Ende der neunziger Jahre, dass sich keiner damit auseinandersetzt. Das war die Motivation für meinen ersten Film, „Tolle Lage”. Bei „Identity Kills” gab es diese große Frage nach dem Land nicht.

Hochhäusler: Plötzlich spielen Filme in spezifischen Räumen, man treibt viel Aufwand, um eine Genauigkeit in den Figuren zu erreichen, eben nicht pars pro toto die Hexe und der andere Archetyp, sondern es wird hart an einer Individualisierung gearbeitet. Warum?

(Schweigen)

Winckler: Ich denke, es gibt sehr viele Filme, die unseren Filmen ähneln, die aber trotzdem die Welt erklären und nicht eine Frage formulieren… Die kommen mit einer klaren Aussage daher und benützen diese Mittel, um ein propagandistisches Bild von der Welt an den Mann zu bringen. Und genauso wenig, wie ich eine Gestaltungsanstrengung sehen will, möchte ich eine solche präfabrizierte Absicht spüren. Ich finde, jeder Film sollte ein Versuch sein, ergebnisoffen.

Hochhäusler: Diese Art von Versuchscharakter ist ja etwas, was sich beißt mit dem System und seinen Erwartungen. Also man gerät schon von der Seite her in Konflikt. Und sobald man in Konflikt gerät, muss man ja deutlicher spüren als vorher, was man nicht will, was man will, wofür man kämpft.

Winckler: Ja.

Wackerbarth: Gibt es bei euch eine Form von gesellschaftlicher Utopie? Wollt ihr die Welt „nur” begreifen, oder wollt ihr sie auch verändern?

Ade: Ich habe für meinen Film einen bestimmten Ausschnitt gewählt, der mich interessiert hat, mich ganz persönlich… und das war’s eigentlich. Also ich wollte jetzt nicht auf die Missstände im deutschen Schulsystem aufmerksam machen… Ich meine, wenn das mitschwingt, ist mir das recht. Aber ich wollte einfach nur zeigen, wie es für mich ist. Und was dann die Leute weiter damit anfangen… Immerhin, in dem Lehrerkollegium, in dem wir gedreht haben, wurde viel drüber geredet. Das hat mich schon sehr gefreut, als die dann sagten, die Dinge wären endlich mal so gezeigt worden, wie sie sind…

Wackerbarth: Sylke, gibt es bei Dir so eine Intention?

Enders: Niemand begreift sich selbst und schon gar nicht den anderen. Deshalb spreche ich nicht über die Gesellschaft, ich mache keine Filme über die Gesellschaft, ich kann das gar nicht, ich kann nur über bestimmte, ganz konkrete Dinge erzählen, die ich entweder persönlich erfahren oder beobachtet habe. Und dann wird es eben kritisch, eine Haltung dazu zu finden. Und wenn dann ein Journalist sagt: „Sie haben doch Soziologie studiert…“ Dann sage ich: „Ja, aber ich habe gar nichts recherchiert. Ich habe mir das ausgedacht.“ Das ist das Tolle daran. Ich muss das nicht empirisch untermauern.

Hochhäusler: Du willst ein Kino, das mich als Zuschauer zu einer Haltung zwingt?

Enders: Ach, nee, weiß ich gar nicht so genau. Vielleicht die Haltung nur: Guck Dir die Person drei Mal an! Und geh jeden Tag neu auf die zu. Wenn ich mit den Schauspielern zu tun habe, dann fange ich überhaupt nur mit den Verben an: Was tun sie? Was verstecken sie? Wissen sie, was sie tun? Nur das interessiert. Den Text kann man dann eigentlich wegwerfen. Wo sich Figuren offenbaren, gehen Welten auf, und es ist es mir egal, ob ein Starschauspieler spielt oder ein Laie.

Michael Klier (im Publikum): Bedeutet realistische Filme zu machen, dass man tiefer eindringt in eine Sache, in eine Welt oder Figuren? Und bedeutet Realismus weniger Gestaltung als nicht-realistische Filme?

Voigt: Ich würde sagen, Realismus heißt mehr gestalten. In meinem Fall muss ich sagen, dass mich die Herangehensweise an einen Film mindestens genauso interessiert, wie die Charaktere. Ich habe das gemacht, was möglich war. Das war mein Realismus.

Hochhäusler: Du warst realistisch den eigenen Produktionsbedingungen gegenüber.

Voigt: Ja.

systemfehler

Wackerbarth: Bleibt man dem „realistischen Film“ treu, wenn sich die Produktionsbedingungen ändern bzw. verbessern?

Enders: Nochmal: Für mich bedeutet realistisch nicht „Abwesenheit von Gestaltung”, wie es bei Dir hier im Notizheft steht.

Wackerbarth: (Gelächter) Du kannst auch weiterlesen: „Der realistische Film prostituiert seine Schauspieler.” (Gelächter)

Enders: Aus der Not sieht’s dann aus wie eine Tugend, aber es ist reiner Pragmatismus: soundsoviel steht mir zur Verfügung, das will ich erreichen, und ich sehe zu, dass ich da hin komme. Mini-DV gefällt mir persönlich nicht besonders, aber wenn der Kameramann eine gute Entscheidung trifft, sehen die Bilder klasse aus, auch ohne dass sie bearbeitet werden. Wir hatten im Schnitt plötzlich diese Überraschung „Mensch, das sieht gar nicht so aus wie Video! Ganz hübsch so.“

Hochhäusler: Wenn jetzt jemand zu Dir sagt: „Aha, Du bist also neue realistische Schule.“ Sagst Du dann nein, das hat nichts mit Dir zu tun?

Enders: Wenn mich jemand in irgendeine Schublade drücken will, sage ich nein, weil das wird derjenige sein, der beim nächsten Film sagt: „Mein Gott, was hast Du denn jetzt gemacht?“

Michael Klier (im Publikum): Wollt ihr persönliche Filme drehen, die eine eigene Handschrift haben? Seht ihr euch als Autorenfilmer?

Winckler: Also ich will auf alle Fälle sehr persönliche Filme machen. Aber es ist nicht so einfach. (lacht)

Michael Klier (im Publikum): Aber das habt ihr ja gemacht, alle die ihr da sitzt…

Enders: Das ist ein Luxus. Das darf man nicht vergessen. Natürlich macht der Film mehr Spaß, wenn man Dinge machen darf, die einem am Herzen liegen. Aber ich glaube, so viele Leute werden gar nicht auf uns zukommen und fragen, ob wir einen „Tatort“ machen wollen. (lacht)

Publikum: Würdest Du „Tatort“ machen, wenn man dich fragt?

Enders: Ja, klar! Für Geld mach ich alles. (Gelächter) Logisch. Aber die Frage ist doch wirklich: Warum nicht? Ich meine, das ist eine Herausforderung mehr.

Publikum: Weil das fast alles Schrott ist.

Enders: Na, ich würde erstmal über das Drehbuch gehen und natürlich auch auf meiner Besetzung bestehen.

Hochhäusler: Aber diese Antwort ist schon ein bisschen naiv, findest Du nicht?

Enders: Wieso?

Hochhäusler: Weil die Frage doch ist: Hast Du Lust, im System zu funktionieren? Dieses System ist ja nicht einfach jederzeit zu ändern, sondern da gibt es Regeln, da gibt es Quoten, da geht es um Geld. Der Schauspieler ist bankable und der andere nicht. Das ist ein System, in dem man mit Spaß funktionieren kann oder eben auch nicht. Aber man kann bestimmt nicht so persönlich sein, wie ihr in euren Filmen seid.

Enders: Ja, bestimmt nicht, ja.

Winckler: Mein Ideal, Filme zu machen, ist natürlich möglichst viel Einfluss auf jeden Bereich zu haben, die Produktionsbedingungen zu bestimmen, denn nur so ist es möglich, einen Film zu machen, der mein persönlicher Ausdruck ist… Das ist das Ideal. Aber ich finde es trotzdem in Ordnung, zum Geldverdienen im System zu funktionieren. Es gibt ja einige Leute, die sehr persönliche Filme machen und gleichzeitig auch im Fernsehen funktionieren… Das eine zum Geldverdienen machen und in das andere ihr Herzblut stecken. Das finde ich jetzt nicht sofort moralisch verwerflich… wobei mich eben die Filme interessieren, in denen Herzblut steckt.

Publikum: Bei den alten Autorenfilmern gibt es ja auch so richtige Controlfreaks… Aber ist „Realismus” nicht so eine Art Gegenkonzept zu dieser absoluten Kontrolle? Muss es da nicht Zufälle geben dürfen? Eigensinn der Welt…

Winckler: Für mich sind das zwei ganz unterschiedliche Sachen. Natürlich will ich alles kontrollieren, aber gleichzeitig interessieren mich auch unkontrollierte Momente im Film oder vielleicht sollte ich sagen: nicht reflektierte Momente. Die Kontrolle, die man im System abgibt – dass Dir jemand sagt, welchen Schauspieler du nehmen musst, wie viele Drehtage du hast usw. – betrifft Dinge, die ich immer kontrollieren will. Aber auch den Moment, den ich nicht kontrollieren will, will ich mir aussuchen können.

Voigt: Mein Dreh hat unter anderem auch die Erkenntnis gebracht, dass ein Film ohne Drehbuch nicht automatisch die Befreiung von allem ist, sondern genau das Gegenteil sein kann. Der größte Feind der Freiheit ist immer die Angst.

gesehen werden

Hochhäusler: Welche Rolle spielt eigentlich das Publikum? In euren Gedanken, in der Vorbereitung, auch in der Kalkulation der Mittel?

Ade: Meinst du jetzt damit, ob ich absichtlich jemanden quälen wollte…? (Gelächter).

Hochhäusler: Nein, nein…

Ade: Ich gebe meine Drehbücher immer vielen Leuten zu lesen und bin gespannt auf die Reaktionen. Insofern sucht man sich schon vorher ein Publikum. Aber ich denke nicht an eine Masse von Leuten, die nachher diesen Film anschaut. Ich hocke allein daheim und versuche, eine Logik zu finden.

Hochhäusler: Aber es ist doch so, dass man kommuniziert, man hat ein Gegenüber, man hat auch die Sehnsucht, dass es möglichst viele sehen. Sören hat extra Selbstverleih gemacht, damit den Film überhaupt Leute sehen außerhalb von Festivals… Ich glaube, dass ein neues Kino ohne ein neues Publikum unmöglich ist.

Ade: Ich hab da eine interessante Erfahrung gemacht. Wir haben den Film in Karlsruhe gezeigt, und da waren eigentlich nur Leute, die nie, nie, nie solche Filme sehen, die überhaupt keine deutschen Filme angucken… Und die waren danach richtig interessiert. Insofern kann man vielleicht schon ein neues Publikum entdecken. Ich habe mir vorher keine Gedanken darüber gemacht, ob der Film jemals ins Kino kommt und so weiter. Mich würde interessieren, was passieren würde, wenn man einen Film von uns mit einem Blockbuster vertauscht, unangekündigt.

Hochhäusler: Man stiehlt sich in Multiplexe und tauscht „Spiderman 2“ gegen „Der Wald vor lauter Bäumen“ aus. Das sollten wir vielleicht mal machen!

Wackerbarth: Sylke, wie sind Deine Erfahrungen? Gibt es ein Publikum für die Filme, die Du machst?

Enders: Das weiß ich nicht. Ich glaube eher nicht. Wer geht denn so oft ins Kino und bezahlt fünf Euro? Man darf sich da keinen naiven Erwartungen hingeben. Mund-zu-Mund-Propaganga ist etwas, worauf man vielleicht hofft…

Hochhäusler: Aber Du glaubst, dass niemand deine Filme sehen will?

Enders: Ich glaube, dass es sehr wenige Leute sehen wollen, ja. Ich finde es sehr gut, dass engagierte Menschen plötzlich ihre Kinder und Jugendlichen dazu verdonnern, den Film sehen zu müssen, das ist ja echt nett (lacht), da freut man sich (lacht).

Michael Klier (im Publikum): In den siebziger Jahren, da hat man ja neue Lesebücher gemacht. Das haben die ganzen linken Lehrer angefangen, da sollten die Kinder mal was anderes lesen, und da haben sie neue Lesebücher gemacht und die in die Schulen gebracht. Wollt ihr so etwas mit euren Filmen auf DVD machen, in den Schulen…?

Enders: Das „Wunder von Bern“ ist viel schneller. (Gelächter) Der wird schon in den Schulen gezeigt, ernsthaft!

Michael Klier (im Publikum): Ja, aber deswegen frage ich ja…

Hochhäusler: Seid ihr überhaupt Leute, die solche Filme, die ihr macht, guckt? (Gelächter)

Ade: Nicht ausschließlich, nee. (lacht)

Winckler: Ich finde schon, dass jetzt etwas Neues im deutschen Kino entstanden ist – das sind für mich auch vier Beispiele, die dazu zählen, aber es gibt auch ganz andere – „Mein Stern” von Valeska Grisebach zum Beispiel oder „Bungalow” von Ulrich Köhler – weswegen ich ins Kino gehe und weswegen ich auch in deutsche Filme gehe… Und das ist etwas, was es lange nicht gegeben hat.

Voigt: Ich gucke mir alle Filme an, die realistisch sind (Gelächter); ich gehe zum Beispiel nicht in amerikanische Filme.

Hochhäusler: Aus Prinzip?

Voigt: Das interessiert mich nicht. Ich hab das bis vor zehn Jahren oder so mitgenommen, aber es gibt kaum etwas, was mich da reinzieht. Ich bin schlichtweg angekotzt und voll von dem Brei. Das muss ich einfach mal so sagen. Und wenn ich dann so einen löchrigen Film wie meinen sehe oder auch hier den von der Dame zur Rechten (Maren Ade), dann bin ich froh, weil da will mich keiner abholen auf die gängige Art und Weise, und es will mir auch keiner erzählen, wie ein Film sein muss. Das interessiert mich. Das sehe ich nur leider kaum im Kino.

Hochhäusler: Du hast ja Deinen Film selber ins Kino gebracht. Da gibt es ja dann noch eine ganz andere Ebene, nämlich: Wie finde ich ein Publikum? Würdest Du Dich Sylke anschliessen, dass eure Filme niemand sehen will?

Voigt: Nee, also im Gegenteil. Meine Erfahrung ist ja die, dass der Verleih ein Publikum macht. Das ist ja auch etwas, was wir in Deutschland gar nicht so diskutieren. Da sind die Briten zum Beispiel viel weiter. Der Verleiher an sich sorgt für ein gewisses Maß an Publikum mit der jeweiligen Massnahme, die er trifft. Promo, Plakat, Werbemittel, Feuilleton, blabla. Ich glaube, dass die Grundneugier auf etwas Neues nach wie vor existiert. Warum geht man sonst ins Kino? Die Leute, die meine Filme zum Beispiel gucken würden oder unsere Filme, die wollen etwas Neues sehen. Die gehen ganz bewusst ins Kino, weil sie sagen, da könnte vielleicht doch mal so ein kleines, sperriges Ding kommen, das mir was zeigt aus der französischen Provinz hinter’m Berg, wo ich noch nie war. Und da will ich dann in Urlaub fahren. (Gelächter) Und dieses Publikum war lange nicht mehr draußen, weil diese kleinen Filme nicht mehr gezeigt werden und die kleinen Kinos sterben. Das ist das Phänomen. Und das ist unser schmaler Zweig, auf dem wir sitzen. Das hat mit dem fehlenden Publikum gar nichts zu tun.

Michael Klier (im Publikum): Glaubt ihr, dass schwierige Filme oder komplizierte Filme, nur noch einen Markt haben über die DVD in der Zukunft, in eurer Zukunft als Filmemacher?

Voigt: Also ich nicht. Ich weigere mich, das zu glauben. Und deswegen glaube ich das nicht. (Gelächter)

ende gut

Wackerbarth: Man kann die These aufstellen, dass es dem realistischen Film schwer fällt, ein Ende zu finden…

Ade: Also ich hatte große Schwierigkeiten, ein Ende zu finden. Wenn man anfängt, sich an einer bestimmten Logik durch ein Drehbuch durchzuhangeln, müsste man theoretisch immer weitererzählen. Das Problem meiner Hauptfigur ist ein Problem, das jetzt nicht einfach irgendwann zack! ein Ende findet. Das machen Probleme ja im echten Leben generell nicht, sondern die tauchen mal wieder in der Versenkung ab und kommen irgendwann mal wieder auf oder wie auch immer. Auf jeden Fall hatte ich deshalb große Probleme, so einen Schlusspunkt zu finden.

Voigt: Der Endpunkt, beziehungsweise das offene Ende in meinem Film wurde im Moment gefunden. Das haben wir gedreht, am Ende irgendwann, das sollte ursprünglich nicht das letzte Bild sein, aber in dem Moment, wo sich Brigitte (Hobmeier) mit dem Auto einreiht in den Verkehrsstrom, Berufsverkehr, fand ich, ist erzählt worden, was zu erzählen war.

Wackerbarth: Wie war das bei Dir, Henner?

Winckler: Ich hatte Schwierigkeiten, einen Anfang zu finden und Schwierigkeiten, ein Ende zu finden. Ich glaube, das ist schon so, wie Du das sagst. Ich glaube, bei einer Parabel oder etwas Parabelhaftem ist es klarer, was Anfang und Ende ist.

Ade: Irgendwie hat jeder unserer Filme so ein Bild am Ende stehen, das rückwirkend erklärend ist. Bei mir war das auch eine Ausflucht, dieses Bild des Loslassens. Eigentlich gibt es kein „natürliches” Ende.

Wackerbarth: Da wird am Ende dann eine Aussage getroffen… Zuvor gibt es Widersprüche, Ambivalenz, und plötzlich kommt ein Schlussbild und trifft eine Wertung.

Voigt: Na ja, im Film von Maren („Der Wald vor lauter Bäumen”) finde ich, dass der letzte Moment eigentlich zum wahrsten Moment, zum wahrsten Ausdruck des Problems der Frau wird. Deswegen ist das Ende so stark. Und das ist durchaus befriedigend für mich als Zuschauer.

Wackerbarth: Wie wichtig ist es Dir, Sylke, Deine Geschichte zu Ende zu erzählen?

Enders: Ich kriege den Vorwurf, dass ich das nicht tue. Die Probleme sind ähnlich.

Wackerbarth: Das hörst Du von Redakteuren oder von wem? Oder von Zuschauern?

Enders: Von Reinhard Hauff (Direktor der DFFB, Anm. d. Red.). (Gelächter) Der sagt dann, das Ende schleppt sich oder so was. Aber es gibt ja nun mal das offene Ende, und dann ist es vielleicht eher die Frage der eigenen Haltung zu der Glaubwürdigkeit des Endes. Wie groß oder wie klein sind die Schritte, die die Figuren machen dürfen am Ende? Das entscheide ich dann und muss es durchsetzen.

Das Gespräch führten Christoph Hochhäusler und Nicolas Wackerbarth im Rahmen von Revolver Live! am 8.05.2004 in Berlin. Transkript: Jens Börner. Gekürzt und bearbeitet von Christoph Hochhäusler. Danke: Alexandra Engel / Volksbühne Films, Barbara Schindler / Praterfernsehen.

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