Gegen ein Kino der Angst
Anmerkungen zu dem Text „Kino der Herausforderung“ in Revolver 11
„Im System funktionieren“
Die Rhetorik von Innen und Außen ist immer wieder verlockend: Draußen sind die letzten Gerechten, bestärkt im Wir-Gefühl der Ausgeschlossenen. Wir müssen draußen bleiben. Drinnen, im System, da ist die Hölle, da wird die Seele wie ein Werkstück in den Schraubstock der Medienindustrie eingespannt. Die Metropolis-Metapher: Die Seele rettet vor den Zurüstungen der Technik, der Strömungslehre der Geldflüsse, die dem Kunstliebhaber verdächtig ist. Der Ekel, vielleicht doch von den staatlichen Geldern für Ausbildung und Abschlussfilme oder von Fördergeldern korrumpierbar zu sein? Im gleichen Heft steht: „Der größte Feind der Freiheit ist immer die Angst.“ (Sören Voigt).
„Das Kino von morgen ist ein lebendiger Zusammenhang von Blicken“
Der Filmemacher als reiner Beobachter. Auch in anderen Sätzen gehen in der Metapher des Blicks Passiv und Aktiv seltsam ineinander über: Es heißt sogar, die „Medien der Kontrolle“ brächten „Dialoge oder (…) Bilder hervor, die den Eigenheiten des Mediums Film entgegenstehen.“ Klingt schlimm, meint aber vermutlich: Redakteure versauen uns reihenweise schon in der Entwicklung unsere Filme. Das Kino hat in seiner Geschichte schon zu viel durchgemacht, um an passivem Kleinmut wirklich scheitern zu können.
„Jeder ist ein Filmemacher.“
Ist also alles nur ein Trick: Schulterklopfend versichert der Filmemacher dem überraschten Zuschauer, gar nichts gemacht zu haben. Er hat den Film doch im Kopf erst entstehen lassen. Auch hier Passiv statt Aktiv: Der Kinobesucher schreibt das Drehbuch nicht, besetzt keine Schauspieler seiner Wahl, inszeniert auch nichts, schneidet nichts. Er liefert sich einem in der Zeit organisierten und dadurch vorläufig fertigen, kristallisierten Produkt freiwillig aus. Erst dann der Film im Kopf. Er kann die Augen schließen, gehen, auf die Fernbedienung des Fernsehers drücken und auf diese Weise den Film selbst montieren. Macht ihn das zum Filmemacher? Die Freundlichkeit der Umarmung ist falsch. Denn sie zielt nicht darauf, Grenzen einzureißen, sondern den Dilettanten, Amateur, Liebhaber oder Selfmademacher aus der Kunst herauszuhalten. Entsprechend klein veranschlagt wird die zunehmende Verfügbarkeit der Produktionsmittel qua Videotechnik. Mit dem Satz „Talent ist teuer“ ist das Gebiet für die ausgewiesenen Profis reserviert.
Trotzdem Kapitalismuskritik!
Kapitalismus heißt es nun, ist die „anti-narrative Zentrifuge, in der sich nur noch Bruchstücke von Bedeutung behaupten“. Auch hier Bilder, die sich widersprechen: Der Magnet, die Zentrifuge. Anziehend, abstoßend. Baudrillard, mit der entsprechenden Unschärfe im Sinn, der entsprechenden Düsternis der Verkündung. Ausweg bieten „subtile Abstufungen in der Beschreibung der Welt“. Der Bedrohung Kapitalismus entflieht der Filmemacher wie durch verborgene Türen, irgendwo zwischen Filmindustrie, Festivalkultur und Fernsehen tritt er durch den Spiegel, als ließen sich die drei Bereiche gerade unter Kapitalgesichtspunkten überhaupt trennen. Jeder große Medienkonzern hält sich neben den Sendern seine Majors und Minors, die Sender ihre Förderungen und in Deutschland Filmhochschulen und kleine Einzelkämpferfirmen, die mit gereckter Faust aus Gebühren und Steuergeldern Filme machen. Orchideenzucht im System. Der filmrevolutionäre Gestus ist die erhoffte seltene Blüte.
„Der Fernsehfilm, der die Formen des Kinos gleichzeitig bewundernd nachahmt und verharmlost“
Die Gebetsmühle der Philosophen ohne Fernseher: Adorno, Heidegger, Luhmann. Rituelle Abneigung gegen das Medium, dessen Distributionswege „kleinen“ Filmen überproportional zugute kommen. Sind das dann keine Fernsehfilme mehr? Haben sich Bergman, Fassbinder, Reitz, Kluge, Rohmer, Godard und Lars van Trier (eine Liste, die sich beliebig erweitern lässt), als sie nur fürs Fernsehen drehten, selbst bewundernd nachgeahmt und verharmlost? Immer noch sollen all denen Körperteile verdorren, die sich auf die große Hure Fernsehen einlassen. Ist das Angst, die eigenen Ambitionen könnten keiner Prüfung standhalten oder in der Flut des Gesendeten schlicht untergehen? Angst vor gemeinsamer Sache mit dem längst von den Geschmacklosigkeiten verdummten Pöbel? Angst, dass Honorare mehr korrumpieren als die Sendermittel der Filmstiftungen? Warum ist es ehrenrührig, sich und seine Kinofilme mit Fernsehspielen zu finanzieren oder das Fernsehen als Medium zu nutzen? Nicht jeder Film ist gut, weil er in Selbstausbeutung entsteht, nicht jeder schlecht, nur weil er vom Fernsehen finanziert wurde.
Manifeste leben von der trügerischen Hoffnung, man hielte etwas in der Hand, das sich schwarz auf weiß nach Hause tragen lässt. Doch verhält es sich damit wie mit dem guten Neujahrsvorsatz, der im Januar gebrochen wird. Ein unverbrüchlicher Treueschwur, an den sich schon der nächste Film nur undeutlich erinnern kann. Zum Glück. Alles andere wäre nur dogmatisch. In diesem Sinne kann auch die Gegenrede nur undogmatisch bleiben: „Der moderne Film muss sich vor seinen eigenen Klischees mehr in Acht nehmen als vor irgendwelchen äußeren.“ Hinter Okularen steckt der Muff von nunmehr vierzig Jahren akademischer Filmerziehung, die den Mythos perpetuiert, Film sei ein optisches Medium – vor langer Zeit mal der Schlachtruf gegen das „Theaterkino“. Film ist inzwischen als Kunst anerkannt. Der Ästhetizismus ist zu dem geworden, was er in den anderen Künsten immer schon war: Gradmesser für die eisigen Höhen der hohen Kunst, die nichts mit der niederen gemein haben will und dem eingeweihten Kenner allein zugedacht ist. Ich wünsche mir dagegen ein Kino, das eben nicht aus Blicken besteht, dessen „Suche nach Wahrheit“ sich nicht in ästhetischen Arrangements erschöpft, nicht in der Suche nach einer optischen Oberfläche, auch wenn sie wie „Perlmutt das Zugrundeliegende mitreflektiert“ (wieder ein edles Material). „The truth is rarely simple and never pure“. Ich wünsche mir ein Kino, dass auf die Bereinigung der Stilisierung verzichtet und stattdessen der Kraft der Figuren vertraut, der narrativen Stärke tönender Filmbilder. Ich wünsche mir Filme, die wissen, was ihre Figuren tun (auch wenn sie nichts tun), die ihre Figuren nicht im fünften Akt sterben lassen, sondern unsere Wohlstandsdramen in das überführen, was sie am ehesten sind: Zerrbilder von Entwicklungsromanen, bürgerliche Farcen. Ich wünsche mir Mut zur Darstellung der eigenen Banalität, Durchschnittlichkeit, Spießigkeit, Zufälligkeit statt den unbedingten Wunsch, ins Dramatische und Niedagewesene zu entkommen. Ich wünsche mir Mut zur Lächerlichkeit, auch den eigenen Ambitionen gegenüber, die hierzulande speziell im akademischen Umfeld immer zu ernst genommen werden. Mut zu einem dreckigen Erzählkino, das, wenn’s sein muss, mit dem Kugelschreiber kritzelt, statt mit Tusche zu zeichnen. Ein Kino, das nicht in der Erhabenheit der stummen Blicke den höchsten Ausdruck filmischer Kunst sieht, sondern auf das freie Spiel der filmischen Einbildungskraft mit ALLEN ihren Möglichkeiten setzt und sich weder Techniken noch (Erzähl-)formen verbieten lässt. Wir haben die Freiheit zu machen, was wir wollen. Dogmen sollten nur aufgestellt werden, um die Dogmatiker in die Irre zu führen. Ich wünsche mir entsprechend ein Kino, das keine Angst hat, nicht einmal vor sich selbst.
Marcus Seibert
→ zurück