Interview: Noémie Lvovsky
Andreas Gruber: Sie arbeiten als Autorin und Regisseurin. Haben Sie als Autorin schon die Erfahrung gemacht, etwas geschrieben zu haben, was Sie nicht wieder erkennen?
Noémie Lvovsky: Ja und nein, aber das geht mir auch bei meinen eigenen Filmen so. Ich arbeite nicht mit einer genauen Ausgangsidee, ich stelle mir nicht schon den fertigen Film im Kopf vor. Ich sage mir immer beim Schreiben, beim Drehen und auch beim Schnitt: Wie wird das wohl aussehen? Ich sage mir nie: Ich will, dass das so aussieht. Ob als Drehbuchautorin für andere oder für eigene Projekte denke ich mir also immer: Ah, das haben wir also gemacht! Ich lasse mich von der Bewegung tragen und versuche dabei, sie mehr oder weniger zu kontrollieren. Ich arbeite aber nicht über die Kontrolle. Eine gewisse Kontrolle, aber keine absolute Kontrolle.
Wichtiger als die Dialoge oder die Narration ist es mir beim Schreiben, dass man auf der Suche ist. Man sucht, was man denkt, man sucht seine eigene Sicht auf die Welt und ist so auf der Suche nach dem Film, der so bereits entsteht, während man ihn noch sucht.
Es passiert dabei sehr häufig, dass man sucht und sucht und sich nach dutzenden Sitzungen plötzlich viele Antworten ergeben und man erst dann merkt, dass diese ganzen Sitzungen notwendig, fruchtbar und wichtig waren. Für mich unterscheidet sich die Arbeit mit der Co-Autorin nicht sehr von der Arbeit mit den Schauspielern oder dem Kameramann. Man darf keine Angst haben, sich vor seiner Co-Autorin zu blamieren oder wie ein phantasieloser Idiot vor ihr zu stehen. Man sucht etwas gemeinsam und sollte ohne Angst in eine Welt eintauchen, auf die man Lust hat und die man zeigen möchte.
Ich denke, dass das Ergebnis umso reichhaltiger ist, je mehr Freiheiten man sich lässt. Man sollte sich nicht in Erwartungshaltungen hineinsteigern nach dem Motto: Ich muss genau wissen, was ich will. Die Angst, sich vor dem anderen zu blamieren oder die Verpflichtung, den ganzen Film in drei Sätzen pitchen zu können – all das führt auf künstliche Wege und damit auf Abwege.
Student: Wie reagieren dann die Produzenten, wenn Sie sagen, Sie wissen nicht, was für ein Film entsteht?
Das hängt wirklich von den Produktionen ab und ändert sich bei jedem Film. Ich versuche, Ihnen kleine Anhaltspunkte zu geben … Bei meinem letzten Film, „Les Sentiments“, zum Beispiel sagte der Produzent zu mir: „Es ist also eine Komödie!“ Und ich antwortete: „Ich weiss es nicht.“ Er war sehr verärgert über mich. Er dachte: „Sie lügt! Eigentlich weiss sie es sehr wohl.“ Ich habe erst später verstanden, warum ich ihm nicht antwortete. Ich tat es für mich und nicht, um ihm zu widersprechen. Hätte ich ihm gesagt, „Ja, es ist eine Komödie.“, hätte ich beim Dreh unbewusst die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt: „Du darfst nicht vergessen, dass es eine Komödie ist!“ Man kann alles Mögliche über einen Film sagen, aber wenn man in Bezug auf den eigenen Film lügt, dann habe ich so einen Aberglauben, der mich denken lässt, dass die Lüge dann möglicherweise wahr wird. (lacht)
Student: Sie sagten, die Arbeit mit der Co-Autorin unterscheide sich kaum von der Arbeit zum Beispiel mit den Schauspielern. Wie sieht das dann aus? Proben Sie viel?
Sobald das Buch fertig ist, wird gleichzeitig nach Geld und nach den Schauspielern gesucht – schon lange bevor es in die konkrete Drehvorbereitung geht. Das kann ein Jahr oder 6 Monate vor Drehbeginn sein. Wenn die Schauspieler feststehen, haben wir so noch genug Zeit vor Drehbeginn. Ich bitte sie dann um zwei, drei Monate Zeit, maximal zwei bis vier Stunden am Tag. Ich sage ihnen das sofort – auch dem Produzenten –, dass ich sie für die Proben brauche. Die sind abgegolten mit ihrer Gage. Es geht dabei vor allem darum, sich kennen zu lernen. Ich finde es wichtig, sich vorher kennen zu lernen, weil man dann keine Angst mehr hat, sich lächerlich zu machen. Man muss sich gut kennen, um diese Angst zu verlieren. Wir lesen dann zusammen das Buch und sehen uns in den verschiedensten Kombinationen und Zusammenstellungen. Es sind keine Proben, um die Dinge en detail festzulegen.
Es geht bei dieser Arbeit während der Vorbereitung darum, das zu umkreisen, was wir suchen, aber nicht darum, die Szene zu finden. Ich fände das sehr gefährlich, wenn man die Szene schon bei den Proben finden und festlegen würde. Ich denke, man findet sie einmal, und das sollte beim Dreh sein! Wir proben also einige Monate vor Beginn der Dreharbeiten, aber im Sitzen, ohne dass die Schauspieler sich dabei bewegen. Und wir lesen das Buch auf die „italienische Art“, wie man sagt, das heisst, trocken und ohne zu spielen. Und die Tatsache, dass die Schauspieler sich nicht bewegen dürfen, führt dazu, dass sich bei ihnen irgendwann die Begierde aufstaut, sich endlich zu bewegen. Und wenn sie das beim Dreh endlich dürfen, dann ist die Energie, die zutage tritt, gespeist aus all dem, was während der Probenzeit, bei der man immer nur sass, zurückgehalten wurde.
Ich höre mit den Proben auf, wenn die Schauspieler die Dialoge komplett auswendig kennen, wir uns alle wichtigen Fragen gestellt und über die Gefühle und Zustände jeder einzelnen Person nachgedacht haben. Es ist mir sehr wichtig, dass nach Ende der Proben noch etwa ein Monat vergeht, bevor wir mit den Dreharbeiten beginnen. Ich glaube, in diesem Monat passiert ganz viel. Es ist so wie das Widerkäuen der Kühe. Die Proben sind die Vorraussetzung für das Vergessen, das dann stattfindet. Und man vergisst besser, wenn man vorher etwas ausprobiert hat.
Wenn wir dann zu drehen beginnen, haben die Schauspieler all diese Proben sozusagen verdaut. Dann überlegen wir nicht mehr, sondern ich bitte sie, mir etwas anzubieten. Ich habe ein sehr starkes Gefühl in Bezug auf das, was ich will. Aber es handelt sich dann um ein Gefühl, um eine Empfindung, es sind keine Gedanken mehr im Moment des Drehens. Die Schauspieler bieten mir dann etwas an, und ich leite sie an, aber nicht mehr, wie bei den Proben. Das heisst, ich versuche, keine zu langen Sätze zu machen, ich gehe nicht mehr in die Analyse oder das Nachdenken über etwas. Ich arbeite dann anscheinend auch oft mit Gesten oder Lautmalerei – das haben mir die Schauspieler gesagt. All das findet nicht mehr auf der Ebene der Reflexion statt und ist trotzdem Schauspielführung. Ich reagiere immer auf das, was sie mir anbieten. Ich gebe ihnen nichts vor. Ich reagiere auf die Bewegungen, die sie mir anbieten. Ich habe ein Empfinden für den Rhythmus, den ich suche, und ich versuche, sie zu diesem Rhythmus zu bringen. Noch ohne die Kamera beobachte ich zusammen mit dem Kameramann die Schauspieler dabei, wie sie den Rhythmus suchen und schliesslich finden – und zwar den Rhythmus, den wir gemeinsam suchten, nicht den wir von vornherein wollten. Und wenn der dann gefunden ist, wenn es kurz davor ist, richtig und stimmig zu sein, dann ziehe ich mich sofort mit dem Kameramann zurück, um die Auflösung zu machen, und wenn wir zurückkommen, drehen wir.
Student: Wie muss man sich diese Proben vorstellen? Man verliert sich doch ganz leicht, wenn man einfach so über Gott und die Welt redet.
Nehmen wir das Beispiel von „Les Sentiments“, meinem letzten Film. Es gibt in diesem Film eine Liebesszene. In den ersten Proben mit den vier Schauspielern haben wir daher über Nacktheit gesprochen. Obwohl es eigentlich nur eine Figur gibt, die in diesem Film nackt ist, nämlich die von Isabelle Carré. Im zweiten Treffen mit Isabelle haben wir erneut darüber gesprochen. Wir haben dabei vor allem über uns gesprochen. Isabelle erzählte, wie sie ihren eigenen Körper empfindet, dass sie das Gefühl habe, dass sich seit ihrem 13./14. Lebensjahr nicht viel verändert hätte, dass sie gar keinen Frauenkörper hätte und es ihr deswegen nichts ausmache, nackt zu sein. Es ging in diesen Treffen nicht darum, konkret zu sagen: „In der Szene bist du nackt und in der …“, sondern es ging darum, sich kennen zu lernen. So kam es auch dazu, dass Isabelle mich fragte, wie ich meinen eigenen Körper empfinde. Durch dieses Frage und Antwort Spiel – wir waren beide weit davon entfernt, entspannt zu sein – habe ich ihr schliesslich erzählt, dass ich meinen Körper sehr obszön finde und eindeutig sexuell markiert. Dieses Gespräch war der Beginn von Schauspielführung: Es ging mir darum, ihr zu sagen, dass ich drei oder vier Monate später mit ihr vor der Kamera sein und nicht nur wie ein Voyeur hinter der Kamera stehen würde. Damit habe ich mich ganz klar an ihrer Seite positioniert, mich mit ihr zusammengetan.
Und wenn es zu diesen ersten komischen Gesprächen gekommen ist – und das kann ich erst mit dem gewonnenen Abstand beschreiben – dann deswegen, weil die Schauspieler ihre Körper hinhalten; sie liefern sich aus. Ich lebe mit dem Film 5 Jahre vom Schreiben über die Finanzierung, die sechs Monate Vorbereitung, die sechs Monate, über die sich die Dreharbeiten erstreckten, und die Postproduktion. Die Schauspieler proben mit mir nur drei Monate und drehen dann noch drei Monate, aber es ist ihr Körper, der zu sehen ist, sie geben ihren Körper in den Film hinein. Und diese Gespräche sind Momente, in denen ich das anerkennen muss. Die Schauspieler erleben, dass sie von mir als Regisseurin mitgetragen werden, wenn sie spüren, dass ich verstanden habe, dass sie ihr Gesicht, ihren Körper, ihren Geist und ihren Kopf hinhalten – während ich auf einer anderen, beobachtenden Position stehe.
Und beim Dreh bin ich sehr nah bei ihnen, das heisst, ich bin nie hinter einer Videoausspielung, ich bin nicht einmal hinter der Kamera, ich bin neben der Kamera, und ich beobachte sie die ganze Zeit. Natürlich während der Takes, aber auch in der Zwischenzeit. Und ich gehe nach der Aufnahme zuerst zu ihnen, noch bevor ich mit dem Kameramann spreche. Sie fühlen sich also die ganze Zeit von mir getragen.
Es ist wichtig für sie, zu merken, dass sie nicht Objekte für uns sind, dass sie uns nicht komplett ausgeliefert sind, dass es auch in schwierigen Szenen, in denen sie nach ihrer Emotion suchen oder in denen sie durch körperliche Dinge abgelenkt sind, trotzdem eine Grundlage des gemeinsamen Arbeitens gibt, die über eine Subjekt-Objekt-Beziehung hinausgeht. Indem man anerkennt, dass es sich oft um ganz triviale Dinge handelt, nimmt man dem Ganzen auch die Wucht. Möglicherweise ist der Schauspieler in einer schwierigen psychologischen Szene einfach nur abgelenkt von der Cola, die er gerade getrunken hat. Vielleicht hat er Angst zu rülpsen, oder es gibt Geräusche in seinem Bauch. Man muss einfach mit diesen physischen Gegebenheiten arbeiten. Und viele Dinge sind trivial, zum Beispiel auch über Nacktheit zu sprechen. Gleichzeitig heisst das aber auch, dass wir einen ziemlich trivialen Beruf machen. Wenn man das akzeptiert hat, dann hat man vielleicht auch nicht mehr die Angst, seinen Namen oder seinen Ruf hinzuhalten.
Eines hat mir nach meinen zwei Kurzfilmen und meinem ersten Langfilm sehr geholfen: Ich habe mir gesagt, ich muss den Druck beim Drehen in meine Arbeitsweise einbeziehen, den Zeitdruck, das fehlende Geld. Ich muss eine Arbeitsweise finden, die den Druck beim Drehen berücksichtigt. Und ich muss darauf Rücksicht nehmen, dass die Herstellung eines Films eine sehr physische Angelegenheit ist, dass es im Moment, wo die Kamera läuft, mehr um einen körperlichen, physischen Vorgang geht, als um einen intellektuellen.
Ich möchte noch etwas ergänzen in Bezug auf die Liebesszene, von der gerade die Rede war: Ich hatte grosse Angst vor dieser Szene und wusste nicht, was passieren würde. Aber die beiden durften nicht spüren, dass ich Angst habe, und ich musste auch einverstanden sein, dass ich nicht wusste, wohin sich das entwickeln, welchen Weg sich die Energie bahnen würde. Ich wusste, dass ich die gleiche Schamlosigkeit an den Tag legen musste, die ich ihnen abverlangte. Ich musste schamlos sein, um ihnen Regieanweisungen geben zu können wie: „Küsst euch! Nicht einfach so, sondern wie ein Liebespaar.“ Es war keine Schamlosigkeit im Umgang mit dem Körper, sondern im Umgang mit Emotionen. Jemanden vor einem Team, vor einer Kamera, wie einen Geliebten zu küssen, ist eben eine schamlose Situation. Ich hätte die Energie zerstört, wenn ich in diesem Moment schamhaft danach gefragt hätte. Ich habe in diesem Moment nur mit Isabelle gesprochen, nicht mit Jean Pierre Bacri, der in der Szene ihr Partner war. Er hat nicht mitbekommen, worüber wir redeten. Ich habe sie gebeten, an sehr rohe Sachen zu denken, nicht sie zu tun. Durch diese Bitte war ich genauso schamlos wie sie. Ich habe ihr ins Ohr geflüstert, dass ich in ihren Augen, in ihren Bewegungen, in ihrer Art ihn anzufassen, genau sehen möchte, worauf sie Lust hat. Ganz genau! Welche Stelle seines Körpers, welche Stelle ihres Körpers und was genau. Und dann wurde sie rot. Es ist vielleicht dumm, aber es ist sehr schön zu sehen, wie jemand beim Dreh errötet.
Student: Was machen Sie, wenn Sie beim Casting einen tollen Schauspieler haben, der aber nicht zu ihrer Art der Probenarbeit bereit ist?
Das Casting ist ein sehr wichtiger Moment für mich. Aber ich erwarte von einem Schauspieler nicht ein bestimmtes Know-how. Ich habe in gleicher Weise mit erfahrenen Schauspielern wie mit Laien gearbeitet, die noch nie zuvor gespielt hatten. Es gibt Regisseure, die mit einem Castingagenten arbeiten, der die Schauspieler filmt, ohne dass der Regisseur anwesend ist, und er sieht sie sich dann später auf Video an. Das scheint mir eine völlig irrwitzige Arbeitsweise! Es ist irrwitzig, weil ich von einem Schauspieler nicht erwarte, dass er sich wie ein guter Schauspieler verhalten kann. Ich denke, man erwartet von einem Schauspieler, dass es eine Begegnung gibt zwischen dem Regisseur, dem Schauspieler und der Rolle. Und auf einem Videoband kann man nicht feststellen, ob es eine Begegnung geben kann. Was also ihre Frage angeht: Einem Schauspieler, der diese Proben ablehnt, dem würde ich sagen, auch wenn es sich um den besten Schauspieler der Welt handelt, „Ganz hübsch, aber wir werden uns nirgendwo treffen, wir werden uns nicht verstehen“. Ich hätte keine Lust, mit ihm zu arbeiten.
Student: Hat das dann auch immer so geklappt, wie Sie sich das vorgestellt haben?
Ich muss eine Person mögen, um mit ihr arbeiten zu können. Aber bei „Oublie-moi“ zum Beispiel ist mir ein Missgeschick passiert, das einzige Mal in meinem Leben, wo es mit einem Schauspieler nicht wirklich gut gelaufen ist. Ich habe damals erst bei den Dreharbeiten verstanden, dass einer der Schauspieler die Rolle der Figur wegen angenommen hatte, aber nicht wegen des Films und nicht für mich. Er verliess sich auf sein handwerkliches Können. Und ich versuchte, ihn woanders hin zu bringen, ich wollte, dass er anfängt, sich zu vergessen. Das war sehr unangenehm für ihn, was ich da mit ihm machte. Wir drehten zum Beispiel eine Szene in der Metro, bei der ich wollte, dass er sehr unruhig wirkt, und ich fand, dass seine Unruhe künstlich wirkte, dass sie hergestellt war. Und irgendwann sagte er: „Lass mich aussteigen, ich muss auf Toilette.“ Und ich sagte: „Warte besser noch ein bisschen. Geh nicht auf Toilette, dann wirst du sehr unruhig sein.“ Für ihn war das eine Beleidigung für seinen Beruf und für sein Können. Wohingegen eine Schauspielerin wie Valéria Bruni-Tedeschi, die in „Oublie-moi“ die Hauptrolle der Nathalie spielte, jemand ist, der alles mit ausgebreiteten Armen aufnimmt, was von Nutzen sein kann. Wenn sie spielt, sagt sie: „Ich weiss weder, welchen Weg das in mir nehmen wird, noch was genau passieren wird.“ Und sie ist damit einverstanden, dass das so ist. Während Philippe Torreton, der die Rolle des Fabrice spielte, damit überhaupt nicht einverstanden ist. Er will absolut immer wissen, was mit ihm passieren wird, er will alles kontrollieren. Oder ein anderes Beispiel: Laurent Grévill, der Eric spielt. Im wahren Leben ist er sehr kontrolliert. Er ist ein sehr guter Schauspieler, aber er hat nicht das typische Temperament eines Schauspielers, er ist überhaupt nicht exhibitionistisch. Er ist sehr schüchtern und scheu und sehr, sehr kontrolliert. Aber er wollte im Gegensatz zu Philippe Torreton, dass ich ihn die Kontrolle verlieren lasse.
Diese unterschiedlichen „Funktionsweisen“ merkt man sehr stark schon bei den Proben. Aber es gibt manche Darsteller, die sind dann beim ersten Take besser, die anderen erst beim 15. Mal. Das merke ich erst beim Dreh und nicht bei den Proben. Und um sie in die gleiche Energie zu bekommen, damit sie zusammenspielen, gibt es viele kleine Dinge, die einzeln nach nichts aussehen: Das kann bedeuten, nur mit dem einen zu sprechen und nicht mit dem anderen. Zum Beispiel als Laurent überkontrolliert war und ich ihn destabilisieren wollte, nahm ich Valéria zur Seite und habe sehr lange mit ihr gesprochen. Laurent fragte sich, was passiert sei. Dann haben wir gedreht. Es klingt jetzt vielleicht etwas oberlehrerhaft, aber der Moment in dem man dreht, da kann man sich sehr leicht vertun, das muss auf die Sekunde genau stimmen. Das Team muss hierfür sehr viel geben, muss warten und grosszügig sein. Ich sage dann „wir drehen“, wenn die Schauspieler fertig sind. Um die beiden aufeinander einzuschwingen, musste ich häufig Tricks anwenden. Zum Beispiel habe ich häufig versucht, wenn sie sich für Schuss-Gegenschuss gegenseitig angespielt haben, dass wenn die Klappe fiel, ich an der Stelle von Valéria stand – und plötzlich war Laurent überrascht und völlig anders. Oder ich sage einfach nicht „Danke, aus!“, und sie wissen dann nicht, ob wir weiterdrehen oder nicht; ich gebe ihnen nur ein Zeichen, dass sie von vorn anfangen sollen. Sie wissen nicht warum, und das destabilisiert sie.
Ein letztes, ich muss da so oft darüber nachdenken: Als Zuschauerin sehe ich manchmal sehr grosse Schauspieler, die aber nur die Figur spielen, sie spielen nicht für den Film. Ich habe den Eindruck, dass sie sich für eine Figur entschieden haben, aber nicht für einen Regisseur oder einen Film. Und dann funktioniert etwas nicht, auch wenn es die grössten Schauspieler der Welt sind. Ich glaube, ein Schauspieler und ein Regisseur müssen sich irgendwann entschliessen, die Figur, die Rolle, aufzugeben zugunsten der realen Person des Schauspielers.
Sophie Maintigneux: Es gibt in „Oublie-moi“ eine Einstellung auf dem Krankenhausdach. Nathalie diskutiert mit ihrem ehemaligen Geliebten Eric. Sie diskutieren, er will und kann nicht mehr, dann geht sie aus dem Bild, und die Kamera bleibt auf ihm. Sie kommt wieder zurück ins Bild, sie diskutieren weiter, und schliesslich geht sie endgültig, die Kamera folgt und bleibt bei ihr, doch im letzten Moment schwenkt sie zurück auf ihn und bleibt dann auch bei ihm. Er hat der Kamera den Rücken zugewandt und wirkt völlig allein. Das ist wirklich eine klare Ausarbeitung der Szene, sie gleicht einem feinen Uhrwerk. Wie lange haben Sie dafür gebraucht, wie haben Sie diese Szene erarbeitet?
Die ganze Situation auf dem Dach – es waren insgesamt vier Plansequenzen – dauerte einen halben Tag. Bei dieser Szene haben wir die meisten Einstellungen des ganzen Films gedreht, für jede Einstellung über 30 Takes, und natürlich hat mir die Produktion dann Druck gemacht. Ich hatte den Eindruck, dass die Schauspieler die Ermüdung brauchten, die aus den vielen Takes resultierte, und ich hatte das große Glück, dass sie mir gefolgt sind, dass sie mitgemacht haben.
Mir gefällt das Bild vom Uhrwerk, aber es war keineswegs so ausgetimt und mechanisch durchkomponiert – man könnte fast sagen, dass es eigentlich gar nicht so geplant war. Ich glaube, es passierte so aufgrund der Nähe zwischen mir und dem Kameramann, Jean-Marc Fabre. Als ich Jean-Marc fragte, ob er den Film machen wollte, hatte ich vom ersten Moment an zu ihm eine ähnlich intensive, genauso intime Beziehung wie zu den Schauspielern. Wir kennen uns gut, wir haben zwei Kurz- und zwei Langfilme miteinander gemacht. Ich habe ihm gesagt, der Film wird dir ähneln so wie er den Schauspielern ähneln wird. Und ich habe gesagt, vielleicht bist du derjenige, der Eric besser versteht als ich. Es war ein absolut unbewusstes Vorgehen, es war nicht als Manipulation oder Taktik gedacht. Letztendlich war es mein Unterbewusstsein, das diese Taktik erfunden hat, dass ich implizit gesagt habe: Ich bin vielleicht zu stark in der weiblichen Hauptfigur, und du verstehst die männliche Figur, Eric, besser – also nimm ihn vielleicht auch ein bisschen an die Hand, kümmere dich um ihn. Das Ganze hat dazu geführt, dass er unter einem ungeheuerlichen Druck stand, dass er eine Verantwortung spürte. Der kleine dahingesprochene Satz blieb in seinem Kopf und konnte ihm so zwei, drei Monate später einen wichtigen Hinweis geben.
Ich habe mit ihm sehr viel und sehr genau in der Vorbereitung gearbeitet, fast so wie mit den Schauspielern. Wir hatten aber nichts gezeichnet, wir hatten im Grunde noch keine Auflösung gemacht. Wir sprachen vor allem über Figuren, über Situationen, über die Gefühle jeder einzelnen Szene. Als es dann ans Drehen ging, haben wir uns nach den Proben für diese vier Plansequenzen entschieden, und am Ende wollten wir bei Valeria bleiben. Mit dem einen Auge hat er in den Sucher geschaut, und mit dem anderen hat er gesehen, dass sich Laurent umgedreht hat, und dann hat er seinem Bühnenmann ein Zeichen gegeben und kam somit ganz von sich aus zurück auf Laurent.
Ich kenne mich mit der Kamera und den Optiken nicht aus. Ich will auch niemals durch den Sucher schauen oder zumindest so wenig wie möglich. Ich habe auch keine Videoausspiegelung. Das gibt ihm eine ungeheuer große Verantwortung für jede einzelne Einstellung. Ich kenne die Einstellung auch so, ich muss dafür nicht durchs Okular schauen. Und es schafft eine unbewusste und starke Bindung zwischen mir und dem Kameramann genauso wie zwischen mir und den Schauspielern. Es ist wie eine Taktik von mir, dass ich sage, ich hätte überhaupt keine Ahnung von der Kamera. Aber Jean-Marc sagt heute, wo wir beide schon etwas älter sind: „Ich fall auf deine Tricks nicht mehr rein.“
Student: Sie sagten, die Schauspieler hätten „eine Ermüdung“ gebraucht. Wie meinen Sie das?
Ich will versuchen, es Ihnen am Beispiel von Philippe Garrel zu erklären, dessen Filme ich sehr bewundere. Philippe Garrel hat eine besondere Methode mit den Schauspielern – und die Schauspieler sind immer wunderbar in seinen Filmen. Er bringt es fertig, auf seine Schauspieler zu warten, sie anzusehen, so wie ich Sie ansehe, zu warten, falls notwendig zwei Stunden, obwohl er nie ein grosses Budget hat, er hat nicht einfach so zwei Stunden zu verschenken. Er wartet, bis er sich sagt: „Jetzt geht es, das, an was er denkt, das gefällt mir.“ Er spricht immer von den Gedanken der Schauspieler im Moment des Drehs. Und er macht nur eine einzige Aufnahme. Er lehnt es ab, aus Sicherheit für das Kopierwerk einen zweiten Take zu machen. Die Taktik, nur eine einzige Aufnahme zu machen, ist Teil seiner Schauspielführung. Für die Szene auf dem Dach habe ich im Gegensatz dazu enorm viele Takes gemacht, um die Schauspieler „zu leeren“. Aber im Grundsatz ist es nicht sehr viel anders als bei Garrel. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an Philippes’ „J’entends plus la guitare“, ein Meisterwerk. Der Schauspieler war bereit zu drehen, und Philippe sah ihn einfach so an. Der Schauspieler sagte: „Ich bin dann soweit.“, und Philippe wartete und sagte: „Nein, es passt noch nicht. Das, woran du denkst, das stimmt noch nicht. Du denkst, du bist ein Schauspieler, der jetzt gleich drehen wird. Es wäre mir lieber, du würdest an die Frau denken, die du liebst.“ Und er wartete und wartete. Und der Schauspieler leerte sich, er war müde, er dachte an nichts mehr. Und in diesem Moment liess Philippe die Kamera laufen für eine Aufnahme. Es ist natürlich ein Unterschied, ob man dreissig Takes macht, aber dahinter steht derselbe Wunsch, die Schauspieler vom Gewicht der Aufnahme zu befreien. Entweder macht man dreissig Takes, um sie so zu „leeren“, oder man leert sie, indem man wartet; auf jeden Fall nimmt man ihnen das Bewusstsein, Schauspieler zu sein, das sie sonst zwangsläufig haben.
Student: Sie sprachen vorhin vom Rhythmus, den Sie suchen. Welche Bedeutung hat in dieser Hinsicht die Montage für Sie? Gerade in so Schuss-Gegenschuss-Geschichten könnte man das ja auch ganz leicht durch Montage herstellen und müsste es nicht in letzter Konsequenz am Set herstellen, so wie Sie es zum Beispiel mit den vier Plansequenzen auf dem Dach versucht haben.
Wenn ich drehe, tue ich so, als gäbe es keine Montage. Ich will mich nicht auf den Schnitt verlassen, um die Sachen zu reparieren. Ich glaube, man muss den internen Rhythmus jeder Szene im Moment des Drehs finden. Denn wenn Sie zum Beispiel eine langsame Einstellung im Schnitt beschleunigen wollen, dann wird es zwangsläufig eine künstliche Beschleunigung. Sie können natürlich Jump-Cuts machen, aber wenn die Einstellungen in sich zu unbestimmt sind, dann werden es die Fetzen der einzelnen Einstellungen auch bleiben. Und in gleicher Weise, wie ich mir bei den Dreharbeiten sage, „tu so, als gäbe es keinen Schnitt“, sage ich mir im Schnitt: „So, und jetzt fangen wir noch mal ganz von vorne an!“
Gruber: Ihre Arbeitsweise setzt sehr darauf, den einzelnen Mitarbeitern Mitverantwortung zu geben. Aber als Regisseur macht man doch oft die Erfahrung, dass nicht nur die Produktionsabteilung, sondern auch viele andere Mitarbeiter unheimlich gerne hierarchische Strukturen sehen. Sie wollen, dass man ihnen sagt: „Mach das, mach das!“ Und wenn man das nicht tut, muss man unheimlich aufpassen als Regisseur, dass man nicht sofort den Ruf hat, nicht zu wissen, was man will.
Ah, das ist furchtbar, das ist unerträglich! (lacht auf) Das stimmt, was Sie da sagen. Ich stelle das immer wieder fest. Und ich finde das sehr gefährlich für die Filme, weil es die Suche unmöglich macht. Und oft führt das dann zu ganz trockenen Filmen. Filmen, denen man ihre Unfreiheit und Dürre ansieht.
Maintigneux: Ich beobachte eine gewisse Komik in deinen Filmen. Du hast keine Scham vor merkwürdigen Szenen. Wie schaffst du es, bei den Filmen, die einen durchaus ernsten Grundton haben, in diesen anderen, komischen Tonfall zu wechseln?
Florence Seyvos, meine Co-Autorin, und ich haben gemeinsame Seiten obwohl wir eigentlich sehr unterschiedlich sind, und es gibt immer wieder einen Moment, in dem uns die schrecklichsten Dinge einfach nur lächerlich vorkommen. Das macht uns das Schreiben leichter, es atmet dadurch mehr. In den traurigsten Szenen gibt es irgendetwas, das merkwürdig ist, das abrutscht und was uns dann wieder zum Lachen bringt …
Das erinnert mich an Diskussionen, die ich als Filmstudentin geführt habe, als wir über Gott und die Welt und das Kino sprachen. Heute, 25 Jahre später, merke ich, dass etwas davon geblieben ist. Wir haben über Monate hinweg über die „Reinheit“ des Kinos diskutiert. Ich glaube nicht daran. Purismus kann eine Qualität sein, aber es hängt davon ab, worauf man Lust hat. Zur Zeit von „Oublie-moi“ sagte ich mir, ich möchte nur Brennweiten verwenden, die dem menschlichen Blick entsprechen; ich möchte, dass die Kamera immer auf Augenhöhe ist; ich will so wenig wie möglich auflösen. Die Filme von Garrel, die ja sehr puristisch sind, waren mein Vorbild und die von Eustache.
Meine Kollegen liebten Pasolini, Bresson, Godard, Tarkovski und Fassbinder und niemanden sonst, nur diese Herren. Ich mochte sie eigentlich auch, aber in dieser Ausschliesslichkeit wollte ich nichts von ihnen wissen. Sie sagten: „Wenn du diese Hauptwerke der Filmkunst nicht akzeptierst, dann liebst du das Kino nicht!“ Ich habe gesagt, auch wenn ich diese Herren nicht unbedingt liebe, werde ich mein Kino machen, und passt auf, dass ihr euch von eurem Bresson und Tarkovski nicht erdrücken lasst. Und wenn ich die Filme der Kollegen sehe, dann sehe ich darin die Diskussionen, die wir damals hatten. Ich erinnere mich noch sehr genau an diese Streitigkeiten. Ein Vorwurf, den man mir machte, war, dass ich nicht die Schönheit suchen würde. Diese Aussage machte mich skeptisch, denn so absolutistisch wollte ich nicht sein. Und wenn die Kollegen meine Filme heute sehen, dann fühlen sie sich bestätigt und ebenso anders herum.
Trotzdem gestand ich es mir zur Zeit von „Oublie-moi“ nicht zu – ich hoffe, das hat sich geändert – die Filme von Lubitsch und Billy Wilder anzusehen und mir zu sagen: „Ist das ein Spass, so zu arbeiten!“ Aber ich habe den Eindruck, oder ich hoffe es zumindest, dass es möglich ist, sich vom Purismus zu entfernen – was ein hässliches Wort, „Purismus“ – und dennoch keine unehrlichen Filme zu machen. Ich habe das Gefühl, dass ich heute einen Weg zurückgelegt habe, der mich dazu gebracht hat zu sagen: Nein, nein, man sollte nicht nach dem reinen, dem puren Kino suchen, das ist zu gefährlich!“ (Lachen)
Noémie Lvovsky war am 2.5.2005 zu Gast an der DFFB und am 4.5.2005 an der HFF München im Rahmen der Reihe „Mit Frankreich am Set“. In Berlin moderierte Sophie Maintigneux, in München Andreas Gruber. Unser Text ist eine Montage von Ausschnitten aus beiden Gesprächen. Vielen Dank: Noémie Lvovsky, Florence Charmasson. Bearbeitung: Jens Börner. Transkript: Sebastian Heidinger, Jens Börner.
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