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Fast Forward: Pirate Cinema

Was ist Pirate Cinema? Pirate Cinema ist eine Reihe von Behauptungen, und zwar – zum Beispiel und in relativ beliebiger Reihenfolge:

  • dass Filesharing eine der am wenigsten aussichtslosen, regressiven oder in ihrem eigenen Bild restlos aufgehenden sozialen Bewegungen der Gegenwart ist.
  • dass die Filesharing-Netzwerke in den letzten Jahren zum grössten, besten und am einfachsten zugänglichen Filmarchiv der Menschheitsgeschichte geworden sind.
  • dass das Interessanteste am Kino zur Zeit kein Regisseur, keine Schule und kein Genre ist, sondern Piraterie, also technischer und sozialer Fortschritt.
  • dass das Kino nicht nur als Kunst, sondern auch als Raum am Ende ist, solange es glaubt, Piraterie und Filesharing liessen sich bekämpfen oder ignorieren.
  • dass das Versprechen der Filesharing-Netzwerke nicht nur in der Distribution, sondern auch und vor allem in der Produktion und Reproduktion von Daten liegt.
  • dass die einzige und letzte Mission der Filmindustrie der vergebliche Versuch ist, die grundlegenden Gesetze der Informationstheorie ausser Kraft zu setzen.
  • dass eine der grössten Bedrohungen für die kulturelle Produktion heute die von Polizei und Kulturindustrie betriebene Abschaffung des Universalcomputers ist.
  • dass es ein selbstverständliches Recht zu kopieren und kopiert zu werden gibt, das jedes Urheberrecht ausser Kraft setzt und auf das sich jeder berufen kann.
  • dass Copyrights keine Frage der Gesetzgebung, sondern der Rechtsprechung sind, und es daher nicht um Prinzipien, sondern um das Herstellen von Fällen geht.
  • dass angesichts der geltenden Urheberrechtslage – Todesjahr plus 70 – man Urhebern etwas anderes als ihren möglichst baldigen Tod nicht wünschen kann.
  • dass „Geistiges Eigentum“ als Konzept eine ontologische Beleidigung und als Programm eine Kriegserklärung an das selbstbestimmte Leben der Leute ist.
  • dass der Krieg gegen Piraterie wie der gegen Drogen und der gegen Terror nicht geführt wird, um gewonnen zu werden, sondern allein, um geführt zu werden.
  • dass die digitale Reproduzierbarkeit, wie die mechanische, Ideen hervorbringt, die für den Kommunismus brauchbar und für den Faschismus unbrauchbar sind.
  • dass Politik erst in dem Moment anfinge, in dem neben Arbeit und Grenzen das materielle wie „geistige“ Eigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft wäre.
  • dass die Kritik der Copyrights sich nicht darin erschöpfen darf, Copyrights zu kritisieren, sondern die Feier der Umgehung von Copyrights einschliessen muss.
  • dass Archive keine Privatangelegenheit sind, sondern öffentlich und damit produktiv gemacht – sowie massenhaft verteilt und gespiegelt – werden müssen.
  • dass es digitalen Phänomenen an Räumen fehlt, in denen sie sich mit analogen mischen können, weswegen weiterhin alles für das Betreiben von Bars spricht.
  • dass der Raum für illegale und zugleich nicht-paranoide Unternehmungen grösser ist, als oft angenommen wird, aber immer erst konkret hergestellt werden muss.
  • dass es Formen von Produktion gibt, die nicht erst beim Gewerbeaufsichtsamt, bei der Gema oder bei der Kulturstiftung des Bundes beantragt werden müssen.
  • dass zwei o. drei formale Beschränkungen (nur heruntergeladene Filme, immer zum Mitnehmen, nie schlechtes Programm) als Grundidee völlig ausreichend sind.
  • dass es in Berlin und anderswo nicht an illegalen Kinos fehlt, sondern an illegalen Kinos, die sich von legalen Kinos in Form oder Inhalt unterscheiden.
  • dass es auch in den flüchtigsten Medien (wie zum Beispiel: Veranstaltungs-Spam) möglich ist, eine Rede über Kino und Piraterie zu etablieren, die Folgen hat.

Der Begriff „Pirate Cinema“ bezeichnet eine Vielzahl alltäglicher wie künstlerischer, derzeit grösstenteils illegaler Aktivitäten, die sichtbar zu machen das Pirate Cinema Berlin – eine seit Sommer 2004 wöchentliche Serie von Screenings populärer wie unpopulärer Filmdownloads – sich zur Aufgabe gemacht hat. Seit die Filmindustrie mit dem Aufkommen von Peer-to-Peer-Netzwerken die alleinige Kontrolle über die Distribution von Kinofilmen verloren hat, haben sich rund um die Praxis des File-Sharing völlig neue Produktionsformen und Umgangsweisen mit digitalen Bildern entwickelt. Ganz entgegen der Annahme, das Downloaden von Filmen sei lediglich eine neue, juvenil-delinquent-konsumistische Form der „Elektronischen Einsamkeit“, zeigt sich, dass das im Netz zirkulierende Bildmaterial sofort wieder in kollaborative Produktions- und Reproduktionskreisläufe eintritt. Tatsächlich ist bereits eine Generation von Filmemacher/ innen auszumachen, die – vielfach in Anlehnung an das von den Situationisten als künstlerische Strategie entwickelte Prinzip der „Zweckentfremdung“ – an neuartigen, zumeist urheberrechtswidrigen Verfahren zur digitalen Rekombination von Kinobildern arbeitet. Das ästhetische und politische Programm dieses „Pirate Cinema“ geht über die Ansätze von „Remix Video” oder „Found Footage Film“ weit hinaus: was es vorschlägt und bereits exemplarisch praktiziert, ist nichts weniger als die kollektive Wiederaneignung der Kunst des Kinos mit den Mitteln des digitalen Datenaustauschs.

Bei der Betrachtung der Filme der Situationisten zeigt sich, dass das Verfahren der Zweckentfremdung einen absolut zeitgemässen Eindruck macht. Überall werden heute solche Filme hergestellt – wenngleich unter völlig veränderten Vorzeichen. Denn während der Skandal des Situationistischen Films noch im Zweck der Entfremdung, dem Angriff auf die politische Ökonomie der bewegten Bilder gesehen wurde, nicht jedoch im Prinzip der Zweckentfremdung selbst, gilt heute, wo kaum jemand der Kritik des Spektakels mehr im Grundsatz widerspräche, jeder, der, zu welchem Zweck auch immer, die blossen Eigentumsrechte an den Bildern, aus denen das Spektakel sich zusammensetzt, ignoriert, als „Verbrecher“. Wenn das „Pirate Cinema“ (oder der „urheberrechtsverletzende Film“) die Enteignung der Filmindustrie bezweckt, dann in der Hoffung, dass die Lösung des einen Problems – dass einem die Bilder nicht gehören – auch das andere löst: dass auf den Bildern nichts zu sehen ist. Dass auf den Bildern nichts zu sehen ist, ausser dem Vermögen (und mittlerweile sogar dem „Recht“), sie in Umlauf zu bringen, ist das eigentliche Produkt der Unternehmen, die sie verwalten – und was die Filmindustrie derzeit so sehr in Panik versetzt, ist weniger die Befürchtung, die Zahlungsmoral ihrer Kundschaft nehme durch das massenhafte Rauf- und Runterladen digitaler Filmkopien Schaden, als vielmehr die Aussicht auf einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Millionen von Menschen über Bilder verfügen und diese selbst zu Filmen zusammensetzen, in denen Zusammenhänge sichtbar würden, die sich nicht mehr kontrollieren liessen – so dass das Kino nicht bloss ruiniert, sondern endgültig abgeschafft wäre.

Das Einzige, was wir von der Berlinale gesehen haben, war eine am Hackeschen Markt geparkte dunkle Limousine mit der Aufschrift „Cinema for Peace“. Was natürlich gelogen ist, denn seit der Verbindung von Computern mit dem Internet ist das Kino – ausser einigen völlig marginalen Kinos – ja Kino für den Krieg. Dieser „Krieg gegen Piraterie“ ist zuallererst ein Krieg gegen die eigene Kundschaft und wird als solcher auch beworben. „Raubkopierer sind Verbrecher“, nach der Verhaftung in Handschellen oder, „hart aber gerecht“, kurz vor der Vergewaltigung durch zwei Mitgefangene, diese „Botschaften“ sieht jeder, der ein Kino oder eine Videothek betritt. Zusätzlich noch mit einer mobilen Gefängniszelle auf Werbetour zu gehen, ist eine Marketingidee, die selbst der Waffenindustrie noch nicht gekommen ist. Dann ist der „Krieg gegen Piraterie“ auch ein Krieg gegen die eigenen Angestellten, diese angebliche Arbeiterklasse des „Geistigen Eigentums“, verkörpert durch den Toningenieur, der seine Krankenversicherung, oder die Kameraassistentin, die die Raten ihrer für das Studium aufgenommenen Kredite nicht bezahlen kann, und das nicht etwa, weil ihnen das Eigentum an den Produktionsmitteln vorenthalten wird, die weltweite Standortkonkurrenz ihr Einkommen drückt oder Versicherungs- und Kreditwesen aus ihrer Verschuldung ein Geschäft gemacht haben, sondern einzig und allein – die Ideologiekritik würde an dieser Stelle den Begriff der Traumfabrik bemühen – wegen der Verbindung von Computern mit dem Internet. Vor allem aber ist der „Krieg gegen Piraterie“ ein Krieg gegen die Revolution: die französische, die eine Generalisierung der individuellen Rechte, und die digitale, die eine Generalisierung des individuellen Datenaustauschs durchgesetzt hat. Was das Kino – mit Ausnahme des französischen und des digitalen – durchsetzen will, ist die Rücknahme dieser Rechte und die Rücknahme des Tauschs. Ein Verbrecher ist seitdem nicht nur, wer den Kopierschutz einer DVD umgeht oder eine Videokamera mit ins Kino nimmt – auf beides stehen in den USA mittlerweile Gefängnisstrafen, die die für Totschlag übertreffen – sondern jeder, der auf der technologischen Basisbanalität beharrt, dass digitale Daten sich kopieren lassen und alles, was zu sehen ist, auch reproduziert werden kann. Doch statt, was einfach wäre, auf die Bilder zu verzichten, zeigt uns das Kino seine vermeintlichen Rechte: generalisierte Copyrights, die nie mehr erlöschen und die es, statt bloss wahrzunehmen, digital zu managen droht. Denn die Enteignung der Leute, so der Traum des Kinos, muss, um irreversibel zu bleiben, nicht nur juristisch vollzogen, sondern technisch implementiert werden – ein Krieg, den Orwell sich nicht einmal im Ansatz und sogar Kafka sich nur zur Hälfe hat vorstellen können, und von dem noch die geringste Ahnung im Nebel von Public Relations und Fahrbereitschaften (es war übrigens ein Phaeton: die einzige Luxuslimousine der Welt, die nach einem Sohn benannt ist, der Vaters Wagen zu Schrott gefahren hat) zu zerstreuen das Programm der Berlinale ist. Das Kino des 21. Jahrhunderts ist so sehr „für den Frieden“ wie die Drogenfahndung oder die Antiterrorpolizei, und das „Pirate Cinema“ betreiben wir, um vor diesem Kino unsere Rechte zu schützen.

Sebastian Lütgert
www.piratecinema.org

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