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Interview Angela Schanelec und Reinhold Vorschneider

Revolver: Angela, könntest Du beschreiben, wie der Film „Marseille“ angefangen hat?

Schanelec: Bei „Marseille“ passiert am Ende des Films ein Überfall. Dieser Überfall war das Erste. Die Idee für dafür hatte ich vor ewiger Zeit, da war ich noch nicht mal an der DFFB. Das war eigentlich der Beginn dieses Films und des Drehbuchs.

Revolver: Hattest Du Dir etwas aufgeschrieben?

Schanelec: Ja, es war irgendwann mal der Anfang einer Geschichte.

Revolver: Arbeitest Du mit einem Zettelkasten, schreibst Du Tagebücher, liest Du in Zeitungen und recherchierst, oder wie gehst Du vor?

Schanelec: Nein. Ich habe keine Zettel. Ich schreibe schon, aber es ist nicht so, dass ich so konkret und bewusst sammle.

Revolver: Am Beispiel von „Marseille” – wie verläuft der Schreibprozess?

Schanelec: Ganz einfach. Ein Film ist fertig und dann fragt man sich: „Was mache ich jetzt?“. Ich bin diese Idee nicht mehr losgeworden. So etwas wie den Überfall am Ende von „Marseille“, wenn die Hauptfigur ausgeraubt wird, habe ich noch nie in einem Film erzählt. Meine Filme handeln ja eher von Dingen, die jedem passieren. Deshalb fand ich das sehr ungewöhnlich und es war mir lange nicht klar, wie ich damit umgehen soll. Nachdem ich nichts anderes gefunden habe, was mich mehr gefangen hat, habe ich eine neue Geschichte geschrieben, die nicht mit dem Überfall beginnt, sondern darauf zu läuft.

Revolver: Und bei diesem Nukleus wusstest Du schon, wer die Figur ist?

Schanelec: Die Figur gab es natürlich und ziemlich schnell die Konstellation. Ich wollte eine Liebesgeschichte erzählen, aber nur die Geschichte einer Person ohne Gegenüber. Deswegen gibt es eine zweite Frau und deren Mann, der quasi nicht erreichbar ist. Das habe ich aus „L’Histoire d’Adele H.“, einem Film von Truffaut, über den er selbst sagte, er wolle die Liebesgeschichte einer Person erzählen. Das fand ich damals beeindruckend. Da hatte ich noch gar nichts mit Spielen oder Film zu tun. So kommen dann Dinge, die hängen bleiben.

Revolver: Wie bringst Du diese Sachen dann beim Schreiben in eine Form?

Schanelec: Ich habe es jetzt schon öfter so gemacht, dass ich zuerst eine Geschichte schreibe. Das heisst, ich denke zuerst gar nicht an ein Drehbuch, sondern versuche einfach zu fassen, wie sich die Geschichte entwickeln könnte und schreibe das erstmal wie eine Erzählung in Prosa. Beim Schreiben an dieser Geschichte entwickeln sich viele Gedanken über Figuren, Konstellationen und Ereignisse. Dann weiss ich mehr darüber und fange mit dem Drehbuch an. Es hat sich aber herausgestellt, dass es für meine Art des Schreibens keinen Sinn macht, an der Geschichte entlang zu schreiben. Ich fange also wieder von vorne an, aber mit etwas mehr Wissen. Danach entwickelt sich das Drehbuch Szene für Szene.

Revolver: Ist das Drehbuch dann eine Art Echo der Geschichte, oder schaust Du doch hin und wieder rein?

Schanelec: Nein, das bringt eben nichts. Es ist eher das, was im Kopf oder als Wunsch übrig geblieben ist. Ich habe oft versucht, wenn mir in der Mitte nichts eingefallen ist, nachzuschauen, was ich da geschrieben hatte, aber das bringt mir nichts.

Revolver: Du triffst, wenn du dann das Drehbuch schreibst, dramaturgische Entscheidungen. Zum Beispiel hast Du den Bankraub nicht an den Anfang, sondern ans Ende der Geschichte gesetzt. Warum

Schanelec: Das hat wiederum mit dem zu tun, was ich in der Zwischenzeit gemacht habe. Die Struktur wäre ja ganz klassisch: am Anfang passiert etwas, wofür man die Figuren noch nicht kennen muss, weil es einfach so gross ist, dass es einen zwangläufig interessiert. Jemand wird überfallen, alles wird ihm genommen, was macht er jetzt? So zu schreiben, hätte bedeutet, dass es ein ganz klar formuliertes Ziel gibt, was eben erfüllt werden muss. Das ist aber nicht mein Bedürfnis. Im Zusammenhang mit meiner Art zu erzählen, dachte ich, der Überfall müsste völlig unangekündigt, nicht als dramaturgisches Moment, aus dem sich eine Geschichte entwickelt, erzählt werden, sondern als etwas das passiert, ohne das man es benutzt. Es passiert einfach.

Revolver: Warum ist dir wichtig, dass es einfach so passiert?

Schanelec: Mir ist zum Beispiel wichtig, dass ich es schaffe mich oder dann den Zuschauer für eine Person zu interessieren, ohne dass etwas Gewaltiges passiert. Ich suche dafür andere Mittel. Deswegen wäre mir das an den Anfang des Films zu stellen auch nicht möglich gewesen.

Revolver: Hat diese Haltung auch mit Vorbildern zu tun?

Schanelec: Schon. Wenn ich keine Filme gesehen hätte würde ich keine Filme machen. Es ist schon so, dass mich Filme inspirieren, mir Lust machen, einfach selber über Film nachzudenken, vielleicht nicht in der konkreten Umsetzung, ausser es wird wieder so konkret, dass es um eine einzelne Szene geht. In „Das Glück meiner Schwester“ gibt es eine Szene, die es, was die Kamera betrifft, genau so in einem Film von Phillip Garel gibt. Das hat mich damals dermassen beeindruckt, dass ich es unbedingt nachmachen wollte. Ausserdem gibt es Vorbilder aus der Literatur. Mich beeindruckt, was sprachlich möglich ist, was durch die Sprache erzählt werden kann, wie und in welcher Form. So etwas bewegt mich dann, eine Sache auf eine bestimmte Weise zu beschreiben.

Revolver: In welcher Phase involvierst Du (Kameramann) Reinhold Vorschneider?

Schanelec: Reinhold gebe ich das Buch, wenn es fertig ist – also das Drehbuch. (Gelächter)

Das Schreiben ist für mich etwas sehr einsames, es hat mit einer Person zu tun. Das ist für mich das Besondere am Schreiben, das man es alleine macht.

Revolver: Welche Rolle spielt Recherche bei einem Projekt wie „Marseille“? Kanntest Du die Stadt schon vorher?

Schanelec: Ja. Reinhold und ich hatten eigentlich ziemlich früh bei Motivsuchen festgestellt wie schwierig es ist, Motive zu finden. Ich schreibe etwas und habe beim Schreiben eine bestimmte Vorstellung. Der Vorgang, für eine Szene ein Motiv zu finden, das man sich schon vorher vorgestellt hat, ist ziemlich kompliziert und auch sehr langweilig. Man geht an einen Ort, weil man etwas Bestimmtes finden will und kommt an viele Orte, die man gleich abhaken kann. Öfter passiert es auch, dass man Orte findet, die zwar interessant sind, aber die einfach was anderes erzählen. Das ist natürlich nicht sehr erfreulich, deshalb haben wir uns schon ziemlich früh gedacht, man müsste einen Film von einem Motiv ausgehend schreiben.

Vorschneider: Obwohl es ja bei „Marseille“ ein bisschen anders war, weil Du während und bevor Du geschrieben hast, in Marseille warst und viele Szenen schon sehr spezifisch auf bestimmte Räume hin konzipiert hast.

Schanelec: Ja, aber das war wirklich zum ersten Mal so. Ich hatte die Geschichte geschrieben und diese erste Reise nach Marseille, als ich alleine dort war, hat das Drehbuch, was ich dann angefangen habe, extrem beeinflusst. Es gab Szenen, die ich nur geschrieben habe, weil ich vorher in Marseille war.

Revolver: Das heisst, diese Möglichkeit Filme zu machen: mit einem Schauplatz als Ausgangspunkt, der dann das Schreiben beeinflusst, ist näher gerückt.

Schanelec: Ja. Jedenfalls en Schritt weit, aber nicht so extrem, wie wir das dachten.

Revolver: Wollt ihr das weiter verfolgen?

Schanelec: Ja. Ich finde es gut von Orten auszugehen.

Revolver: Wie weiss man denn, dass ein Ort gut ist?

Schanelec: Das sieht man einfach. Man sieht, dass der Ort etwas entspricht, was einen interessiert. Das hat natürlich mit dem Licht, mit der Architektur, mit einer Vorstellung davon, wo Leute sein könnten, und mit unserem ganz persönlichen Geschmack zu tun.

Revolver: Spielen soziologische, biografische Dinge, die mit der Figur zu tun haben, auch eine Rolle?

Vorschneider: Wir versuchen diese soziale Dimension von Orten eher zu reduzieren, um uns auf die sozialen Definitionen nicht zu sehr zu kaprizieren. „Plätze in Städten“ z.B. spielt ja in einem, ich sag’s jetzt mal überspitzt, Arbeitermilieu. Die Mutter arbeitet in einer Fabrik. Aber bei der Suche nach der Wohnung der Mutter haben wir darauf geachtet, dass die Wohnung eine bestimmte soziale Neutralität hat. Damit man, was die Innenarchitektur und Ausstattung betrifft, nicht zu sehr in Richtung, in Anführungszeichen: „Proletarischer Wohnung” geht.

Revolver: Und warum?

Schanelec: Ich mag es nicht so gerne, wenn alles, was man im Bild sieht, etwas über die Figur erzählen soll. Es macht mich schon von vorneherein nervös, wenn alles dazu da ist, etwas begreiflich zu machen. Ich finde, ein Raum ist erstmal einfach ein Raum und ich denke der Begriff Neutralität ist wichtig, damit man die Figuren auch von ihrem sozialen Umfeld befreit. Gut, die Mutter arbeitet in einer Fabrik, aber sie ist noch etwas darüber hinaus. Ich wollte kein Portrait einer Fabrikarbeiterin zeigen. Es ist eine Mutter und eine Frau. Das ist das Wichtige.

Im Film ist natürlich alles Entscheidung. Deshalb geht bei uns die Bemühung immer eher dahin, den Gegenständen das zu nehmen, was zu einer permanenten Überinterpretation führt, und auch die Zuschauer nicht ständig auf irgendetwas zu stossen. Bei einer Wohnung muss vorstellbar sein, dass die Leute da leben, das ist klar, aber sie muss auch architektonisch interessant sein. Man muss auch Lust haben sie zu fotografieren – als Raum.

Revolver: Das Funktionalisieren von allem und jedem für ein Drama, findet bei dir nicht statt.

Vorschneider: Die fotografische Dimension von Orten ist ein sehr wichtiges Entscheidungskriterium. Dass man das Gefühl hat, in dem Raum kann man einen Ausschnitt finden, der eine Einstellung werden kann. Das heisst, dass der Raum auch einen gewissen autonomen Impuls hat, unabhängig von der Handlung oder einer sozialen Definition, so dass es sozusagen wegen des Raumes zu einer Einstellung kommt.

Revolver: Wie findet ihr das heraus? Ist es im Drehbuch präzise beschrieben, wie der Raum aussieht.

Schanelec: Im Drehbuch steht das nicht, aber wir sprechen darüber.

Revolver: Und dann sucht nur ihr beide oder gibt es auch einen Szenenbildner?

Schanelec: Am Anfang suchen wir beide, aber mittlerweile gibt es auch eine Szenenbildnerin, das ist Ulrika Andersson, mit der wir schon mehrfach gearbeitet haben und von der ich weiss, dass sie in der Lage ist, Motive zu finden. Sie wird auch relativ früh involviert und macht, wie wir auch, Fotos.

Revolver: Gibt es nicht auch tolle Räume, in denen man sich wohl fühlt, die einen begeistern, in denen man aber keine gute Einstellung findet?

Schanelec: Nein. Das gibt es eigentlich nicht. Uns begeistern ja nur die Räume in denen man Einstellungen findet.

Vorschneider: Wenn man sich dann für ein Motiv entschieden hat, ist es so, dass wir oft mehrmals an dieses Motiv gehen, um zu überlegen, wie die Szene da funktionieren kann. Das hat dann sehr viel mit Blickwinkeln zu tun, die wir auch vom Raum her interessant finden. Diese Blickwinkel werden dann fotografiert und führen mitunter zu einer Einstellung, aber nicht notwendiger Weise.

Revolver: Existieren diese Räume schon, sucht ihr immer sozusagen on location?

Vorschneider: Ich glaube idealtypisch ist es schon, dass man das alles sozusagen in der Wirklichkeit findet. Du beschreibst es ja auch für Dich immer als einen spannenden Prozess, von diesem Text in eine Art Realität zu gehen. Das sind jetzt natürlich fragwürdige Begriffe. Sozusagen diesem vorher Gedachten eine vorgefundene oder dokumentarische Dimension dazu zu geben. Deswegen ist es idealtypisch schon so, dass man die Orte findet und, wenn es irgend geht auch so belässt, wie man sie vorfindet. Das geht natürlich bei Wohnungen nur bedingt.

Revolver: Gibt es zu dem Zeitpunkt, wenn ihr das macht, schon eine Besetzung?

Schanelec: Das fängt eher später an. Meistens gibt es die Besetzung komplett sowieso erst ganz zum Schluss.

Revolver: Wenn Ihr sagt, ihr sucht lange nach Orten, um welche Zeiträume handelt es sich?

Schanelec: Monate.

Revolver:Wisst ihr dann schon, wann Ihr dreht, oder findet man die Orte und legt dann fest, wann man dreht?

Schanelec: Nein, nein. Der Zeitpunkt des Drehbeginns ist schon festgelegt.

(Fotos von der Motivsuche zu „Marseille“ werden gezeigt)

Schanelec: Auf den ersten Bildern hier, das ist das Eternithaus im Hansaviertel. Das Hansaviertel fand ich schon immer als Ort interessant, und in das Eternithaus wollte ich schon immer mal rein. Bei diesem Film und dem Motiv, was wir gesucht haben, dachte ich es könnte stimmen, dass diese Figur, für die wir eine Wohnung gesucht haben, da auch leben könnte. Ich finde das ein wunderschönes Foto. Nicht als Einstellung, aber irgendwie kann ich mir vorstellen, dass da jemand ist. Figuren über die ich nachdenke, über die ich erzählen will. Es ist ja nur ein Fenster und ein aufladendes Handy, es hat unheimlich viel Platz und ist ganz neutral, man sieht, da kommt Licht.

Revolver: Inwieweit spielt diese Stimmung und das Licht bei der Motivsuche eine Rolle?

Vorschneider: Wenn man an unsere ersten Filme zurückdenkt, ist bei der Recherche das Mittel der Fotografie entstanden, um das Licht zu fotografieren, gar nicht so sehr um den Raum fotografisch abzubilden. Es war ein ganz grosses Thema am Anfang unserer Zusammenarbeit, mit natürlichem Licht zu arbeiten oder zumindest den Eindruck herzustellen, dass es sich um natürliches Licht handelt, bzw. das man das natürliche Licht, das man vorfindet, nicht zu sehr modifiziert. Bei Angela war das am Anfang schon fast obsessiv. Klassische filmische Mittel wie die Aufhellung waren tabu und  bei Motivbesichtigungen haben wir immer schon versucht, uns ein Bild zu machen, wie die Szene mit natürlichem, oder von der Architektur gestalteten Licht aussieht. Teilweise hat Angela auch als Modell fungiert um das Licht auf den Personen sehen zu können.
Licht nimmt man natürlich in Abbildungen vor allem dann wahr, wenn dunkle Flächen das Bild dominieren. Die Wahrnehmung des Lichts passiert dann einfach dadurch, dass relativ wenige Flächen hell sind. Aus diesem Interesse an der Wahrnehmung des Lichts kommt auch die Obsession für Gegenlichtfotografie. In Wohnungen drehen wir sehr oft in Richtung Fenster oder achten bei Aussenaufnahmen darauf, dass es eine gegenlichtige Blickrichtung gibt, weil nach meinem Eindruck Licht spannender wird durch die Kontraste die entstehen.

Revolver: Hat das auch eine inhaltliche Dimension?

Vorschneider: Ich würde sagen, das ist ein relativ abstraktes Interesse. Das ist vielleicht auch ein Punkt, den man in anderen Zusammenhängen problematisieren kann. Aber vielleicht siehst Du das ja anders?

Schanelec: Für mich ist das völlig getrennt voneinander. Wenn ich nachdenke, wie eine Einstellung sein könnte oder wir in dem Prozess sind, eine Einstellung zu finden, dann ist es unabhängig vom Inhalt einfach das, was ich sehen möchte. Eine Szene, die auflichtig sein soll habe ich bisher noch nicht geschrieben.

Revolver: Ich habe in Vorgesprächen den Begriff „lyrisch“ verwendet, aber da hat Reinhold gleich gesagt: „Das wollen wir gar nicht“. Gibt es eine Form der Metaebene?

Schanelec: Dazu muss man sagen, dass wir über die Interpretationen nicht nachdenken. Mir geht es nicht darum, etwas zu erreichen, sondern darum, etwas zu machen, was mir gefällt. Wie soll ich das sagen? Mit „nicht etwas zu erreichen“, meine ich, dass es nichts mit Absicht besonders authentisch, lyrisch, oder sonstwie aussieht.

Vorschneider: Nur wenn dieser Effekt erzielt würde, müsste man es problematisieren.

Revolver: Ihr verwendet sehr lange Einstellungen. Das setzt bestimmte Dinge voraus. Dadurch, dass alles in einer Einstellung passieren muss, ist der Ausschnitt natürlich wichtiger, als wenn die Szene stärker fragmentiert würde.

Vorschneider: Was sogar vor allem für „Marseille” gilt. Bei den früheren Filmen „Das Glück meiner Schwester“ und „Plätze in Städten“ gibt es oft mehr Einstellungen pro Szene als in „Marseille“. In „Marseille” war die Tendenz, das Zeitkontinuum einer Szene zu respektieren, schon sehr stark und dann muss es passend dazu das Raumkontinuum geben in der Form, das eine Szene in einem bestimmten Ausschnitt möglich ist oder in der Form, das man die Kamera bewegt. „Marseille“ ist unser erster Film mit Schwenks.

Revolver: Inwiefern verändert sich Deine Vorstellung von der Szene noch, wenn zum Beispiel Schauspieler dazu kommen?

Schanelec: Eigentlich verändert es sich gar nicht mehr. Wenn man einen Raum gesucht und gefunden hat, dann löst er eine bestimmte Fantasie aus, für eine bestimmte Inszenierung, die dort möglich ist und die nicht mehr viel Anderes zulässt.

Revolver: Das heisst, Du weisst dann, wie sich die Schauspieler dort bewegen, oder finden Sie das selber heraus, weil der Raum schon so angelegt ist?

Schanelec: Es sind innerhalb der Einstellung nur bestimmte Bewegungen möglich.

Vorschneider: Also das Proben sieht dann notwendiger Weise nicht so aus, dass man sagt: „So nun mach mal, wir improvisieren und ihr könnt Euch bewegen wie ihr wollt“, sondern durch diese bestimmte Vorauswahl der Blickwinkel ist eben notwendig, dass es bestimmte Bewegungsabläufe gibt, die damit korrespondieren. Es ist natürlich Angelas gedankliche Vorarbeit, sich anhand von solchen Blickwinkeln vorstellen zu können, dass die Szene dort in einer bestimmten Art und Weise ablaufen kann.

Schanelec: Ich probiere das auch aus. Ich setze mich hin und stelle mir vor, dass ich das spielen soll. Und wenn ich das Gefühl habe es geht, ist es meistens so, dass es geht.

Revolver: Aber was machst Du, wenn ein Schauspieler sagt: „Du kannst es, aber ich kann es nicht so spielen.“

Schanelec: Dann habe ich ein Problem. Aber ich glaube nicht, dass ich von den Schauspielern etwas verlange, was nicht geht. Ganz im Gegenteil. Ich achte absolut darauf, ihnen keine Aufgaben zu stellen, die sie nicht lösen können. Das ist natürlich wichtig und die Voraussetzung. Sonst wäre es ja absurd.

Revolver: Die Vorgehensweise ist Interessant. In der Regel findet ihr die Einstellung, dann wird die Szene in dieser Einstellung gedreht und das war’s. Es gibt keine Sicherheiten in der Auflösung. Sonst ist es ja Branchenüblich, eine Szene zu covern oder zu sagen: „Wir machen es noch mal nah oder von alternativen Positionen“. Das gibt es bei Euch gar nicht oder doch manchmal?

Vorschneider: Das gibt es radikal nicht. Bei früheren Filmen, wo es durchaus noch mehrere Einstellungen für eine Szene gab, waren sie auch beim Drehen so voneinander abgesetzt, dass eine Einstellung nur bis zu einem bestimmten Punkt gedreht wurde, also nicht überlappend. Diese Zäsur wurde meistens in den Einstellungen so konsequent eingehalten, dass man auch wirklich an dieser Stelle schneiden musste.

Schanelec: Bettina, vielleicht willst Du mal was dazu sagen, weil es ja letztendlich doch immer unendlich viele Möglichkeiten gibt.

Bettina Böhler (Cutterin von „Marseille”): Ja. Wenn es so wenige Einstellungen gibt – ich glaube es sind 75 in dem Film – dann denkt man immer: „Na ja, wozu wird da überhaupt geschnitten und was ist das überhaupt für eine Arbeit?“. Aber durch die Reduktion hat man unter Umständen viel mehr Möglichkeiten, als wenn man jetzt 300 Schnitte hätte. Ich weiss nicht ob das verständlich ist, aber es ist sehr interessant, was dabei entsteht und wie man durch verschiedene Kombinationen die Geschichte völlig anders erzählen kann, als wenn man sehr viel mehr Material hätte.

Revolver: Wenn man so wenige Einstellungen dreht, wird es nötig so lange zu wiederholen bis sie stimmen. Inwieweit geht das überhaupt?

Schanelec: Zum Beispiel der Überfall ist nie gut geworden. Das kommt schon vor. Aber im Nachhinein denke ich mir, er konnte auch nicht gut werden, weil er mich letztendlich nie interessiert hat. Es hat mich nie interessiert zu fotografieren, wie einer dem anderen hinterher rennt, den festhält und irgendwo reinzerrt. Ich finde das als Vorgang für die Person interessant, aber ich finde es nicht interessant es zu inszenieren, weil – was ist das? Es ist nichts. Es ist etwas, das jeder schon tausendmal gesehen hat, aber unabhängig davon – es gibt Dinge die mich interessieren, die man schon tausendmal gesehen hat – aber es ist nicht schön in dem Sinne, dass ich etwas dabei herausfinden könnte.

Besucherin: Hat es damit zu tun, dass für dich eine bestimmte Strategie der Reduktion zu Schönheit führt?

Schanelec: Ich möchte, dass es schön ist. Was ich vorher dazu sagen wollte, spannt vielleicht den Bogen zum inhaltlichen. Ein Raum, den man architektonisch und vom Licht her gut findet, muss natürlich auch inhaltlich passen. Das hat auch damit zu tun, dass Figuren, die im Drehbuch auftauchen, auch Figuren sind, die mich interessieren. Ich schreibe ja nicht über einen Handwerker, der in Moabit wohnt. Insofern gibt es natürlich einen inhaltlichen Zusammenhang, insofern ich überhaupt nur dann in der Lage bin, ein Interesse zu entwickeln – weil ich etwas glaube zu erkennen oder zu wissen, oder zu sehen. Das ist der Anfangspunkt für eine Figur.

Revolver: Würdest Du sagen, Du kannst und willst nur Filme machen, die in dem Milieu spielen, das Du kennst?

Schanelec: Tja, das sieht ein bisschen so aus. Zum Beispiel in „Plätze in Städten“ ist die Mutter Arbeiterin. Es ist ja ein Film über ein neunzehnjähriges Mädchen. Nun hat man ja bei Figuren, die jung sind, den Vorteil, dass es immer eine grosse Offenheit gibt und dadurch auch eine Schönheit, zwangsläufig. Wir hatten das Glück, diese amerikanischen Wohnungen zu haben. Die sind architektonisch gut, aber da wohnen Leute, die nicht viel Geld haben. Das steht eben alles dann doch auch in einem inhaltlichen Zusammenhang, der sich mehr oder weniger automatisch ergibt.

Revolver: Gerät man nicht in die Gefahr, geschmäcklerisch zu entscheiden? Wann sagt ihr, jetzt kippt es über und hat keine Klarheit mehr, die eine Schönheit ergibt?

Vorschneider: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, dass sich zwischen diesen Polen die Entscheidung bewegt. Es gibt schon das Thema in unserer Arbeit, dass bestimmte Mittel, die man wählt, nicht zu sehr auf sich aufmerksam machen sollen. Das Thema kann heissen, Beiläufigkeit oder Normalität. Das kann kollidieren mit einem Interesse für ein bestimmtes Licht oder für einen Raum. Es kann sein, dass ein Raum zu sehr für sich selbst spricht, zu viel Interesse weckt, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das kann man natürlich dann nur aus seinem eigenen Empfinden heraus entscheiden. Für andere kann das geschmäcklerisch wirken.

Revolver: Ich würde gerne noch mal auf die Fragen der Auflösung kommen. Deine Filme zeichnen sich ja vor allem durch Momente aus, die durch die Kameraarbeit sehr betont werden. Mich würde interessieren, in wie weit Dich ein Fluss der Bilder interessiert oder ob Du in Deiner Arbeit tatsächlich vor allem darauf achtest, die besonderen Momente aneinander zu reihen.

Schanelec: Ich weiss nicht, ob Fluss das richtige Wort ist, aber jedenfalls geht es um eine Reihenfolge, um Bilder, die nach anderen Bildern und vor anderen Bildern kommen. Fluss kann man bei Film leicht so verstehen, dass der Schnitt nicht mehr sichtbar sein soll und alles fliesst. So ist es in diesem Fall nicht und es ist auch nicht richtig, wenn von Tableaus gesprochen wird. So denken wir nicht. Es sind keine einzelnen Bilder, sondern die Bilder sind so gemacht, dass wir sie in eine Reihenfolge bringen können.

Vorschneider: Ich erinnere mich an ein Thema in der Vorbereitung zu den ersten Filmen, die wir zusammen gemacht haben. Es ging darum, was Einstellungen für ein Verhältnis zueinander haben sollten. In dem Zusammenhang haben wir auch einen Film von Godard gesehen und das Thema war, dass die Einstellungen im Verhältnis zueinander eine bestimmte Autonomie, eine Selbstständigkeit haben sollten. Das heisst, dass es nicht ein Master und einen Sklaven gibt, also keine Hierarchie unter den Einstellungen, sondern Einstellungen die, obwohl es natürlich ein Vorher und ein Nachher gibt, eine relative Autonomie zueinander haben.

Besucher: Ist das der Grund warum ihr wenig Schuss-Gegenschuss macht?

Vorschneider: Schuss-Gegenschuss gibt es nie. Weil dabei ja genau der Gegenschuss abhängig ist vom Schuss. So ist es definiert. Ich kann nicht philosophisch begründen, warum wir es so gemacht haben, aber der Impuls war eindeutig, genau diese Definition einer Einstellung durch eine andere zu vermeiden und sie wirklich entweder durch Winkel oder auch von der Erzählung vorgegeben voneinander abzusetzen. Zum Beispiel gibt es bei uns häufig das Mittel einer Naheinstellung am Ende einer Szene. Es verläuft eine Szene in einer Halbnahen oder totaleren Einstellung, dann ist der Dialog zu Ende und danach gibt es eine Grossaufnahme, weil es auch erzählerisch abgesetzt ist. Das parallel fahren von Einstellungen über ganze Szenen hinweg haben wir immer ganz bewusst vermieden.

Schanelec: Schuss-Gegenschuss ist mir auch schon deswegen nicht möglich, weil man in ein Bild zurückkehrt, das man schon mal gesehen hat. Das habe ich noch nie gemacht. Mir scheint, das funktioniert gar nicht.

Revolver: Hast du das Gefühl, dass Dein Kino auch ein Kino gegen ein anderes ist?

Schanelec: Nein, nein. Überhaupt nicht. Es hat mehr mit dem zu tun, was wir gerade versucht haben zu beschreiben. Eine Bild folgt auf das andere. Zu einem Bild zurück zu kehren geht nicht. Das fängt schon so an, dass wir es nicht so drehen. Natürlich hätten wir im Schnitt die Möglichkeit, in Einstellungen zurück zu gehen, das ist ja klar, aber es entspricht nicht der Form von Fluss, an die ich denke.

Besucherin: Ich sehe Deine Filme immer so, dass es um innere Abläufe geht und die Figuren sich in dem Film wandeln, obwohl man es gar nicht merkt. Am Ende bin ich immer verblüfft, wenn die Figuren sich dann doch verändert haben, weil es so unsichtbar geschieht. Ich wollte fragen, ob Du diese Veränderung im Buch und beim Drehen steigerst und bearbeitest oder ob Du sie sozusagen eher in einem Fluss passieren lässt? Denkst Du über Konflikt überhaupt nach?

Schanelec: Den Begriff der Veränderung oder Entwicklung finde ich extrem kompliziert. Darüber wird im Vorfeld sehr viel geredet. Zum Beispiel die Kritik: die Figur entwickelt sich ja nicht. Wo ist die Entwicklung, wo ist die Steigerung? Es ist nicht so, dass mich das nicht interessiert, sondern ich würde gerne herausfinden, ob und wie sich jemand entwickelt, weil ich das wirklich absolut nicht weiss. Das ist etwas, über das ich nachdenke. Was heisst es, wenn jemand sich entwickelt oder verändert? Das ist sehr schwierig. Ich kann das nicht so beantworten, wie es, wenn es um das Drehbuch geht, von mir beantwortet werden soll. Es ist etwas, was ich selber gerne herausfinden würde, indem ich einen Film mache. Ich kann nicht Szenen schreiben, nur damit sich die Figur irgendwie entwickelt. Ich frage mich eher, wie redet, wie bewegt sich oder wie ist jemand? In einer Reihe von Szenen geht die Figur zum Beispiel nur. Ich versuche solche äusserlichen Dinge zu finden um dabei selber etwas zu sehen. Bei „Marseille” kann man sich fragen, was sich verändert hat. Das finde ich eine Interessante und komplizierte Frage, die ich nicht beantworten kann.

Revolver: Ist denn die Regie, wie Du sagst, äusserlich?

Schanelec: Ja. Total äusserlich. Natürlich komme ich ständig in Situationen, wo ich erklären soll warum jemand etwas sagt. Weil ich noch kein Mittel gefunden habe um diese Fragen abzublocken ohne jemand abzuwürgen, fange ich an darüber zu reden und merke, dass es nichts bringt. Ich finde vielleicht manchmal einen Weg, so darüber zu reden, dass es zumindest nichts zerstört, aber bewegen tut es nichts ausser der Befriedigung der Schauspieler und einem bestimmten Zeitverzögern. Am besten geht es, wenn Darsteller sich einfach darauf verlassen, dass ich schon sehen werde, ob das jetzt geht oder nicht. Schauspieler leben ja oft in einer Utopie, was sie können oder nicht können, was sie fragen oder erfahren müssen und wollen und was sie schon wissen. Das ist oft sehr schwierig für mich, weil ich auch ganz andere Erfahrungen mit Schauspielern gemacht habe. Zum Beispiel Maren Eggert in „Marseille” hat sich einfach darauf verlassen, dass es Sinn macht, wenn sie durch die Einstellung läuft, genauso wie darauf, dass sie am Ende weint. Sie hat es nicht in Frage gestellt, sondern als Aufgabe begriffen.

Revolver: Es gibt sicher auch den Fall, wo der Darsteller nicht macht, was Du dir vorstellst. Was passiert dann?

Schanelec: Das ist furchtbar. Ich habe kein richtiges Mittel. Ich habe ja selbst ganz lange gespielt und versuche dann etwas, aber das ist diffus. Natürlich suche ich sehr, sehr lange nach den richtigen Schauspielern, damit sich beim Dreh nicht plötzlich herausstellt, dass es einfach nicht geht.

Revolver: Wie sieht das Casting aus? Gehst Du ins Theater?

Schanelec: Wenn es sein muss. Ich gehe nicht sehr gerne ins Theater. Ich kucke über Fotos in der Castingagentur und höre ich mich um.  Lange Zeit kannte ich noch viele Schauspieler von früher her, aber das hat aufgehört. Schauspieler sind für mich wahnsinnig schwierig. Ich habe jedes Mal wieder das Gefühl, ich fange total von vorne an. Ich weiss wieder nicht wie ich mit den Leuten drehen soll, wie ich ihnen das begreiflich machen soll.

Revolver: Es gibt ja auch eine besondere Form der Sprache, die sich durch Deine ganzen Filme zieht. Ich habe den Eindruck, das ist ganz anders behandelt als viele andere Aspekte Deiner Arbeit, weil es schon eine fast festgeschriebene Sprachmelodie gibt, eine Stilisierung, die viel offensichtlicher ist als zum Beispiel im Licht. Das ist unterschiedlich stark in den verschiedenen Filmen, wirkt aber wie Deine eigene Kunstsprache mit einem gewissen Insistieren auf einer Betonungsart, die man auch neutral nennen könnte.

Schanelec: Über ein Mittel bin ich mir eigentlich sehr im Klaren und das ist, den Schauspielern ihren Dialog zu geben. Ich versuche so zu schreiben, dass sie sich durch den Dialog führen lassen können. Ich weiss, dass das geht. Schauspieler arbeiten allerdings oft ganz anders und sind nicht gewöhnt, es so zu machen, aber das ist das Mittel, das ich einsetzen kann. Wenn ich einen Dialog schreibe, arbeite ich sehr lange daran und versuche bis zum einzelnen Komma hin sehr genau zu sein, so dass die Schauspieler, wenn sie es lesen, etwas begreifen, was ich ihnen schwer erklären kann. Manche begreifen es nicht, dann tauchen die Probleme auf. In „Marseille”, bei der langen Szene in der Bar, habe ich den französischen Schauspieler mit dem Text gecastet und ihm sofort vertraut. Maren kannte ich bis dahin schon gut genug.  So eine lange Szene in einer Nacht zu inszenieren ist eigentlich unmöglich, weil man nicht eingreifen kann. Das heisst, man muss eine bestimmte Basis haben, um das zu machen. Wir haben natürlich probiert und die Einstellung sechs oder sieben Mal gedreht, aber die Grundlage des Textes ist absolut notwendig, weil ich in einer Nacht ausser Stande bin, die Schauspieler wirklich zu kritisieren. In einer Zehn-Minuten-Einstellung kann man sehr viel kritisieren, aber wenn ich es tun würde, könnten sie es sich nicht merken. So kann keiner spielen. Sie müssen etwas aus dem Text empfinden und dann ihrem Weg folgen.

Besucher: Könntest du Dir vorstellen, nur das Buch zu schreiben und Motive zu suchen und jemand anderes führt Regie?

Schanelec: Nein.

Revolver: Was kommt denn in der Regie dazu?

Schanelec: Nichts. Aber das muss erstmal hergestellt werden, dass nichts dazu kommt. Das ist ja nicht automatisch so.

Besucher: Das passt ja zu dem, was Du vorher über die Räume gesagt hast, über die Überdeutlichkeit und das hinweisen auf Dinge.

Schanelec: Es ist ja auch so. Ich möchte nicht, dass es so klingt, als würde der Schauspieler keine Rolle spielen. Im Gegenteil. Eigentlich sehe ich das, was die Kamera macht, wie sie ihn fotografiert und das, was ich ihm gebe, was er sagen kann, als ein Geschenk von uns, es ist das Geschenk, dass er sich als Mensch zeigen kann. Die Formulierung klingt vielleicht blöd, aber ich empfinde das so. Dieses Geschenk kann nicht jeder annehmen. Aber in „Marseille” oder in „Plätze in Städten” zum Beispiel sieht man diesen Menschen. Man sieht jemanden. Man sieht einen Menschen, der etwas zeigt, für den man sich interessieren kann und der auch eine Schönheit hat. Natürlich ist es extrem wichtig, diesen Schauspieler zu finden und wenn der Schauspieler nicht bereit dazu ist, müssen wir nicht mehr über Licht und oder sonst etwas nachdenken. Wir reden über diese ganzen anderen Sachen, aber dass es überhaupt erstmal diesen Schauspieler geben muss, ist für uns selbstverständlich.

Revolver: Man könnte ja auch sagen: „Ich interessiere mich für die Physis der Schauspieler und lasse sie sich im Raum bewegen und finde dann meine Einstellungen.“ Warum nicht so?

Vorschneider: Dann müsstest Du aber die Kamera bewegen.

Schanelec: Man kann sich ja mitbewegen, aber wir haben die Kamera nicht mitbewegt, weil bei einer Bewegung, die nicht vorher geplant ist, sondern abhängig davon, was der Schauspieler meint machen zu müssen, unendlich viele Bilder entstehen, die man nicht unbedingt haben möchte.

Vorschneider: Wobei wir die Kamera schon bewegen. Es gibt durchaus Fahrten in den Filmen, aber sie treffen in Bezug auf den Raum eine bestimmte Auswahl. Es sind sozusagen geschobene, feste Kader. Es geht nach meinem Empfinden in erster Linie um das Mittel des Schwenks. Ich glaube, dass wir bisher so wenig geschwenkt haben, hat mit dem Gefühl zu tun, dass der Schwenk im Verdacht der Beliebigkeit steht. Zumindest im Bezug auf das Zeigen des Raumes zeigt er eine beliebige Raumkontinuität, was uns so nicht interessiert.

Schanelec: Zum Beispiel, wenn sich Leute bewegen finde ich immer schön, wenn der Raum bleibt und die Leute sich im Raum, aus dem Raum raus- und wieder rein bewegen, und man hört nur den Ton. Ich finde schön, die Bewegung einer Figur zu zeigen und die Möglichkeit durch die Bewegung eine Figur wahrzunehmen, indem die Einstellung bleibt. Das ist eine Frage, wie man Bewegung sichtbar machen will. Jemandem hinterher zu fahren ist etwas ganz anderes. Das kann Sinn machen. Aber Bewegung kann man eben auch sichtbar machen, ohne dass sich die Kamera bewegt.

Revolver: Vielleicht können wir noch mal auf das Thema Sprache kommen…

Besucherin: Ich denke da an eine Szene aus Deinem Film „Mein langsames Leben“ in der die Tochter von Rüdiger Vogel heiratet. Die Stelle, die mir am meisten in Erinnerung ist, ist ihre Begründung, warum sie so früh heiratet. Ich weiss nicht, ob sie es erklärt, oder ihr Vater in seiner Rede, aber es ist ein Moment, der gar nicht besonders dramaturgisch motiviert ist. Deine Figuren sagen Sachen, weil Du willst, dass sie gesagt werden. Es geschieht nicht, wie man das oft in Filmen sieht, weil irgendwann nach fünfzehn Minuten der ganze Film unter einem Zwang steht, dass die Figuren etwas zu einem bestimmten Thema sagen.

Schanelec: Ja. Das ist so, dass die Leute Sachen sagen, die keine Funktion haben. Sie haben die Funktion gesagt zu werden, aber nicht im Hinblick auf etwas.

Besucherin: Sie charakterisieren Deine Personen und sind interessant als Statements, als individuelle Gefühle oder absurde Dinge.

Revolver: Es sind zum Beispiel sehr oft Geschichten. Viele Figuren erzählen etwas.

Schanelec: Ja. Wenn ich so etwas schreibe, dann aus dem Wunsch heraus, dass mir das jemand erzählt. Das ist nicht so einfach, aber ich finde es etwas tolles, wenn jemand im Film etwas erzählt, weil man über die Person etwas erfährt. Ganz einfach, weil er es erzählt. Das ist ganz simpel. Das kann sehr schön und auch gar nicht zu schlagen sein.

Die Sachen stehen unter keinem dramaturgischen Zwang. Ich kann es problemlos wegschneiden. Es gibt nie – und das versuche ich auch immer zu vermeiden – es gibt nie Sachen, die gesagt werden müssen, damit man etwas versteht, weil ein Satz jede Schönheit verliert, wenn er nur noch eine Funktion hat. Ausserdem verliert man auch jede Freiheit. Das versuche ich so gut wie möglich zu umgehen. Obwohl die Leute sehr viel erzählen, aber sie erzählen über die Handlung hinaus, etwas anderes.

Besucher: Wann weisst Du denn, wann ein Buch fertig ist und wie läuft die Diskussion dann mit Redakteuren ab?

Schanelec: Also erstmal muss man sagen, dass ich nicht mit vielen Redakteuren gearbeitet habe. Bei den wenigen hatte ich das Glück, dass sie es auch als Voraussetzung empfanden, Vertrauen zu haben. Man muss auch sagen, dass die Filme nicht teuer waren und ich nie mit vielen Leuten zu tun hatte. Es waren nie komplizierte Finanzierungen.

Revolver: Nochmal zum Korrektiv sozusagen. Entscheidest Du ganz alleine, ob das Buch fertig ist, oder gibst Du es auch Leuten zum lesen, die dazu ihre Meinung abgeben?

Vorschneider: Das Buch ist nie fertig, bevor der Film fertig ist.

Schanelec: Na ja doch. Ich schreibe schon ziemlich lang an den Drehbüchern und schreibe im Zweifelsfall auch wenn wir drehen noch Sachen um, aber irgendwann hat man das Gefühl es gefällt einem und man möchte daran nicht mehr herumbasteln.

Vorschneider: Ich finde interessant, in welchem Mass Du während der Dreharbeiten immer noch das Drehbuch und den Film veränderst. Ein ganz spezielles Thema bei Angelas Filmen ist die Frage des Schlusses, d.h. wie endet ein Film. Zumindest zwei Filme von Dir enden deutlich anders als sie geschrieben waren. Das war ein Prozess während der Dreharbeiten. Bei „Plätze in Städten“ ging die Frage: „Wie endet der Film und mit welcher Szene können wir ihn enden lassen?“ eigentlich bis zum vorletzten Drehtag, weil der Schluss und die damit verbundene Sequenz von Szenen aus bestimmten inhaltlichen Gründen weggefallen ist.

Besucher: Ich interessiere mich für den Schluss von „Marseille” und den Überfall. Es wurde vorher der Begriff des Offenen, Neutralen viel bemüht und ich habe diesen Überfall als etwas ganz dramaturgisch Gesetztes wahrgenommen, wo überhaupt nichts offen ist, sondern etwas ganz gezielt für eine Struktur gemacht wird. Hast Du je darüber nachgedacht den Schluss wegzulassen? Man fragt sich nämlich, ob Dir bewusst ist, dass bei aller Offenheit der Form natürlich beim Betrachter immer eine Rekonstruktion beginnt, bei der er Sinn zusammensetzt. Der Überfall passiert ihr als Figur wirklich beiläufig, aber mir als Zuschauer nicht.

Schanelec: Darüber habe ich nicht nachgedacht, dass das, was Du beschreibst, passieren könnte. Ich hatte nicht überlegt, den Überfall weg zu lassen, aber was ich am genialsten gefunden hätte wäre, wenn der Überfall jemand anderem passiert wäre. Wenn alles genau so ist, wie es ist und vielleicht kommt sie sogar am Bahnhof an, aber dann verlassen wir sie endgültig und wir sehen den Überfall, aber eine andere Frau wird überfallen. Das hätte mich interessiert. Auf der anderen Seite ging mir diese Idee nur so durch den Kopf. Aber ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, es zu machen und mir geht es mit dem Ende nicht so wie Dir. Ich leugne gar nicht, dass das Ende gesetzt ist. Natürlich ist es total dramaturgisch. Es ist ja nicht so, dass ein Film der offen ist, keine Dramaturgie hat. Der hat genauso eine Dramaturgie wie jeder andere Film auch.

Revolver: Mich hat „Marseille“ auch deshalb so begeistert hat, weil ich finde, dass es ein Aufbruch ist. Ich habe im Gegensatz zu Deinen anderen Filmen das Gefühl, dass es viel mehr ein Thriller ist. Das soll heissen es gibt viel mehr Drama. Keine funktionalisierte Dramaturgie, die ständig mit Fähnchen winkt, aber einen grösseren Willen das zu konzentrieren, was in Deinen anderen Filmen luftiger sein darf oder soll. Kannst Du das nachvollziehen?

Schanelec: Ich weiss nicht. Ich mache ja sehr wenige Filme. Und dann ist es so, dass zwischen den Filmen etwa zweieinhalb Jahre liegen. Wenn einer fertig ist, fängt man fast sofort an, das nächste Buch zu schreiben, bzw. darüber nach zu denken. Das sind manchmal schwerfällige Schritte, die man irgendwohin macht, aber ich nehme mir dabei gar nicht so viel vor. Teilweise sind es ganz simple Sachen. Zum Beispiel nach „Das Glück meiner Schwester“ – das war eine Dreiecksgeschichte – wollte ich lieber etwas mit einer Figur machen. Das war dann das neunzehnjährige Mädchen in „Plätze in Städten“. In dem Film wurde fast gar nicht geredet. Dann war der Film fertig und danach hatte ich Lust auf viel mehr Figuren, auf junge und alte. Der Wechsel zu „Marseille” war wieder anders, aber es sind immer kleine konkrete Dinge, die eine Rolle spielen.

Revolver: Was wird Dein nächstes Projekt sein?

Schanelec: „Die Möwe“ von Tschechow. Das ist ein Stück, das ich schon sehr lange kenne und das ich sehr schön und sehr gut finde. Tschechow überhaupt ist mir sehr nah und ich lese ihn schon lange und viel. Das taucht ja in „Marseille” schon auf, eben weil es mich so beschäftigt und jetzt habe ich auf Grund der „Möwe” ein Drehbuch geschrieben. Es spielt hier und jetzt, es sind weniger Figuren und es gibt keine einzige Szene, die so im Stück steht. Nur die Konstellation der Hauptfiguren ist die Gleiche. Aber von dem Projekt gibt es bisher nichts als das Buch. Es gibt keine Finanzierung, keinen Produzenten, kein Garnichts, aber ich würde es gerne nächsten Sommer drehen.

Revolver: Das Projekt wird nur an einem Ort spielen, während Deine letzten Filme immer von Suchen gehandelt und an verschiedenen Orten stattgefunden haben. Ist das eine grosse Veränderung für Dich, im Sinne einer Verdichtung oder gibt es an diesem Ort dann doch wieder ein Haus und einen See usw.?

Schanelec: Nein. Wir haben schon darüber gesprochen, was es für ein Raum sein könnte. Das finde ich eine massive Veränderung für mich, weil ich bisher Filme gemacht habe, die ganz konkret so entstehen, dass man einen Ort sieht und dann sieht man den nächsten. Bei dem, was ich jetzt geschrieben habe, dachte ich beim Schreiben immer: „Wann kommt denn jetzt der Sprung?“ Ich habe immer auf diesen Sprung woanders hin gewartet. Ein paar mal dachte ich, jetzt ist es so weit. Aber dann kam ich nicht weiter, weil ich nicht wusste, wohin. Es ist wirklich eine ganz andere Arbeit, weil ich festgestellt habe, ich muss doch an dem Punkt weiter machen und kann nirgends anders hin. Dramaturgisch ist das ganz anders und auch was den Ort betrifft wird es ganz anders sein. Das ist eine ganz andere Aufgabe, aber in unserem Sinne.

Besucher: Noch eine Frage zum Schauspiel. Führt die Art, wie Du mit Schauspielern umgehst nicht dazu, dass Schauspieler im Verlauf der Dreharbeiten das Bedürfnis entwickeln zu explodieren, bzw. mal etwas auszuspielen? Ein Schauspieler ist ja auch Schauspieler, weil er das Bedürfnis zu senden hat und sich nicht nur klein zu halten und sich alles weg zu nehmen. Wie geht ihr damit um?

Schanelec: Wenn die Schauspieler explodieren wollen?

Besucher: Ja. Zum Beispiel mit dem Wunsch mal eine bewegte Szene spielen zu können.

Schanelec: Das können sie ja in anderen Filmen machen. Aber das ist kein wirkliches Problem. Die müssen sich schon ein bisschen kontrollieren. (Gelächter) Ich belagere den Schauspieler ja nicht. Der kann ja auch zuhause, im Theater oder sonst wo explodieren. Das muss er nicht bei mir tun. Diese Vorstellung von Schauspiel ist etwas, von dem ich mich absolut abgewendet habe. Das ist ein Grund, warum ich nicht mehr am Theater arbeiten wollte… (Pause) Vielen Dank. (Gelächter, dann Applaus)

Das Gespräch führten Christoph Hochhäusler und Nicolas Wackerbarth im Rahmen von Revolver Live! am 6.04.2005 in Berlin. Transkript und Bearbeitung: Benjamin Heisenberg. Danke: Alexandra Engel / Volksbühne Films, Barbara Schindler / Praterfernsehen.

Weitere Informationen zu Marseille im Rahmen der Revolver Edition unter www.revolver-film.com/dvd und auf www.filmgalerie451.de

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