Interview: Werner Herzog
Revolver: Was bedeuten Bilder für sie?
Herzog: Ich glaube, daß das für mich ein Lebenselement ist – ohne Kinobilder wäre ich wahrscheinlich nicht sonderlich gut überlebensfähig. Vielleicht kommt das daher, daß ich nicht träume. Ich gehöre zu den ganz wenigen, die nie träumen. Ich empfinde das morgens als echtes Vakuum, als etwas, was fehlt. Irgend etwas stimmt nicht mit mir .
Es scheint zwei Arten von Bildern im Kino zu geben: Bilder aus einer äußeren Wirklichkeit – und Bilder, die aus dem Traum kommen, innere Bilder. Sind ihre Bilder innere Bilder?
Ich glaube, es ist richtig zu sagen, daß vieles, was ich gemacht habe – und zwar ganz egal, ob das jetzt Spielfilme oder sogenannte Dokumentarfilme waren – Innenansichten waren, visionäre oder Traumbilder. Sicherlich habe ich so etwas wie Träume, aber Tagträume. Vor allem, wenn ich zu Fuß gehe. Ich bin sehr viel zu Fuß unterwegs gewesen, lange Strecken, zwei, dreitausend Kilometer – da sind so Momente, in denen ich mich dann plötzlich in ganzen Romanen befinde und gar nicht merke, daß ich 30 Kilometer weiter bin. Oder ich finde mich in einem Fußballspiel, wo wirklich jeder Spielzug ein außerordentlicher ist und plötzlich pfeift der Schiedsrichter und ich schaue herum und bin 25 Kilometer weiter, das kommt schon vor. Und vielleicht ist es einfach ein Nachholbedarf, ein Vakuum, das sich da in irgendeiner Weise auffüllen muß.
Ihr Umgang mit Bildern motiviert sich also sehr persönlich?
Was bringt mich dazu Filme zu drehen? Das hat bei mir sehr früh angefangen, früher als das normalerweise losgeht bei jungen Leuten – und ich habe immer vermieden, die Frage zu stellen, warum ich diese Arbeit eigentlich mache. Ich habe immer versucht, nicht so genau auf mich zu schauen. Ich schaue auch nicht so genau auf mich selber im Spiegel, ich will das nicht. Ich muß mich zwar rasieren in der früh und sehe, daß ich mich nicht schneide, aber ich weiß bis heute nicht, welche Farbe meine Augen haben.
Sollen wir es ihnen sagen?
Es steht sogar etwas in meinem Paß drin, aber ich halte das für eher verdächtig.
In Wenders’ “Tokyo Ga” sagen sie, daß es heute eigentlich keine richtigen Bilder mehr gäbe und man schon auf einen Achttausender steigen müsse, um richtige Bilder zu bekommen.
Ich erinnere mich nur vage. Richtig ist, daß uns nur verbrauchte Bilder umgeben in den Zeitschriften, Postkarten, in der Werbung und im Fernsehen: Das sind Bilder, die nicht wirklich adäquat unserem zivilisatorischem Zustand sind.
Gerade in den letzten zwanzig, dreißig Jahren haben sich riesige, dramatische Veränderungen ergeben und die Bilder hinken hinterher. Man muß Bilder und auch eine Sprache finden, die unserer Situation angemessen ist. Wir brauchen eine neue Grammatik des Kinos.
Was könnte das sein?
Es gibt eine ganze Reihe von Leuten im Kino, die das richtig machen, glaube ich – die wirklich auf der Suche sind. Fast alle Filme, die ich gemacht habe, sind diese Suche nach Bildern. Ich gehe ja relativ weit, ich erfinde Landschaften und mache Sachen, die nicht dem Üblichen entsprechen, was sie sonst im Fernsehen sehen.
Was meinen sie mit verbrauchten Bildern konkret?
Wenn sie in ein Reisebüro gehen, sehen sie ein Plakat vom Grand Canyon. Oder schauen sie sich die Postkarten in dieser Stadt an (Sevilla), das sind Bilder, die schon vor 50, 60 Jahren so da waren und eigentlich schon damals verbraucht waren.
Wie könnte eine Postkarte von Sevilla aussehen, die der Zeit entspricht?
Ich kann das wirklich nicht beantworten, weil ich kein Fotograf bin, aber es ist ja auffällig, daß es keine einzige Postkarte unter Tausenden gibt, bei der nicht vollkommen blauer Himmel da ist. Da ist nicht ein einziges Wölkchen da. Es regnet ja hier auch, also dieser Tage hat es heftig geregnet – ich sehe nie auch nur die Spur einer Wolke auf diesen Bildern. Sicherlich, diese Bilder haben einen gewissen Charme, weil wir entdecken, wie sich die Stadt idealerweise sehen will. Ich will nicht sagen, daß ich grundsätzlich gegen diese Art von Bildern bin. Nur wenn sie Filme machen, dann überlegen sie sich besser, was ist eigentlich ihre Aufgabe mit der Kamera, was tut diese Kamera hier, was vermittelt sie einem Zuschauer, was wollen sie eigentlich herüberbringen, was wollen sie entdecken? Und nachdem sich so dramatische Veränderungen ergeben haben, müßten sich eigentlich konsequenterweise mit der Sprache auch die Bilder verändern. In den USA merkt man zum Beispiel sehr stark, wie sich die Sprache verändert. Das geht sehr sehr schnell. Von einem Jahr auf das andere verständigen sich die Kids nicht mehr mit denen, die zwei, drei Jahre älter sind, weil sie eine neue Sprache sprechen.
Warum leben sie in Amerika?
Das hat eine Reihe von Gründen, private und es hat vor allem auch Gründe, die mit der Arbeit zusammenhängen – ich arbeite an einem größeren, umfangreicheren Projekt, das auch nur mit größerem Geld zu machen ist – in diesem Fall San Francisco, Francis Ford Coppola hat da seine Produktionsfirma (American Zoetrope) und mit der planen wir etwas (Cortez). Ganz abgesehn davon möchte ich gerne in einem Land sein und arbeiten, in dem ein sehr intensives Arbeitsklima da ist – so ähnlich, wie wir das hatten – was sie nicht miterlebt haben – Ende der 60er Jahre, als jeder plötzlich daher kam und eine Kamera hatte und etwas machen wollte – und es gab so eine Aufbruchsstimmung. Und in San Francisco oder Los Angeles, abgesehen von der Industrie, die da herrscht, gibt es eine permanente Aufbruchsstimmung. Und das ist eigentich etwas, was mir sehr fehlt in Deutschland, wo eigentlich keine große Energie zu spüren ist und wo man das Gefühl hat, alle wollen nur noch Hollywood imitieren – das ist irgendwie ziemlich tot geworden. Und ich möchte da sein, wo es lebendig ist. Lieber in Algerien arbeiten, als in Deutschland derzeit.
Wie kommen sie zu ihren Themen?
Ich bin immer irgendwie über meine Sachen gestolpert, es hat nie etwas lange vorgeplantes gegeben. “Lektionen in Finsternis” wurde innerhalb von 20 Minuten an mich herangetragen und auch schon entschieden – oder “Das Land des Schweigens und der Dunkelheit” war eine Geschichte, da habe ich über einen anderen Film plötzlich eine Person entdeckt – und stellte dann erst hinterher fest, daß sie taub und blind war.
Das einzige, was länger geplant war vielleicht, war “Die große Extase des Bildschnitzers Steiner” und zwar deswegen, weil mich das persönlich sehr beschäftigt hat. Ich hatte als junger Kerl die wirre Idee, selber Weltmeister im Skifliegen zu werden. Ich meine, alle Buben im Dorf sind da über die Schanze gegangen und wir wollten alle Skispringer werden und mir war sehr ernst damit, bin das aber natürlich nie geworden.
Ein Freund von mir ist sehr schwer verunglückt, als wir gerade so 15, 16 Jahre alt waren. Und von dem Moment an war das vorbei – trotzdem blieb immer die große Idee, daß ich eigentlich da mitmachen wollte bei so einem Ereignis, daß ich einer von denen sein wollte. Und der größte Flieger von allen war Walter Steiner für mich, ein Schweizer, der in vollkommener Extase eigentlich jedes Mal fast in den Tod gesegelt ist. Wenn sie zu weit fliegen, landen sie ja im Flachen, und da können sie gleich vom Eifelturm herunterspringen.
Sie haben einmal gesagt, daß nach ihren begrabenen Skispringerträumen “zwangsläufig nur noch Film übrigblieb”. Warum?
Ich glaube, Skispringer und Weltmeister werden zu wollen, ist ein jugendlicher Traum. Dahinter steckt aber ein tieferer Traum: der Traum vom Fliegen. Wir sind zu sehr an die Schwerkraft gebunden und ich glaube, daß das wohl fast alle Menschen irgendwie bedrückt, daß wir nicht fliegen können.
“Die große Extase des Bildschnitzers Steiner” ist ein Film über Todesangst und das Überwinden von Todesangst, ein Film über den Moment, in die Spur zu gehen – das ist ein Moment, an dem sie niemand mehr aufhalten kann, nicht mal der liebe Gott kann sie mehr bremsen und aufhalten. Das heißt, es ist immer auch die Frage, wie sie die Frage nach dem Tod bewältigen, wie kommen solche Skispringer mit ihrer Angst zu Rande?
Beim Filmemachen – und sicherlich auch im Leben – stellt sich die Frage nach der Angst genauso – sie bekommen auf einmal zittrige Hände und wissen, das können sie eigentlich nicht mehr bewältigen und trotzdem wagen sie es, trotzdem wagen sie die Existenz. Weil eben etwas dahintersteht, das wichtiger ist, als die private Person.
Ganz simples Beispiel: der Film “La Soufrière”. Da war ein Vulkan am explodieren und wir alle wußten, es wird keinen Lavaausbruch geben, sondern der Berg wird explodieren mit der Gewalt von sieben, acht Atombomben in Hiroshimagröße – alles war blockiert, man durfte nur auf 25 Kilometer heran. Wir sind trotzdem hin, das heißt zwei Kameraleute (Namen), ich habe Ton gemacht, und dann plötzlich kommt die banalste aller Fragen: Sollen wir es überhaupt machen? Wir haben gesagt, jeder von uns muß jetzt entscheiden, ist es wichtig, daß wir diesen Film machen? Ist der Film wichtig oder ist unser eigener Hintern wichtig? Und alle drei haben dann gesagt: ja, wir machen es. Das heißt im Grunde genommen etwas, was wir uns als private Menschen ohne Kamera und ohne Tongerät niemals getraut hätten. Auf einmal erwächst durch das Gerät ein außerordentlicher Mut, eine Zuversicht.
Was hätten sie gemacht – das Skispringen einmal ausgeklammert – wenn sie nicht Filmemacher geworden wären?
Was gibt es für Alternativen? Ich habe oft gedacht, diese Last muß von meinen Schultern, ich muß in der Welt eigentlich auch anderes machen außer imaginäres, körperloses, was am Schluß nur eine Projektion von Licht auf einer Leinwand ist. Ich sehe immer wieder, daß Koch sein eine gute Alternative zum Filmemachen ist. In meinem Fall wäre es vielleicht anders gewesen, ich hätte gerne Mathematik gemacht, nur weiß ich, daß ich viel zu spät dafür dran war, man muß eigentlich als vierzehn, fünfzehnjähriger an die letzten Grenzen mit herangestoßen sein. Alle großen Mathematiker, alle großen Neuerungen kamen von Leuten, die zwischen vierzehn und vierundzwanzig waren. Also dafür wäre ich zu alt gewesen. Ich hätte gerne Cello gespielt, ich würde zehn Jahre von meinem Leben geben, wenn ich wirklich Cello spielen könnte.
Sie sagten eben, diese Projekte wurden oder werden an sie herangetragen – das hört sich an, wie ein Zufallsreigen.
Nein, es gibt natürlich niemals diese reine Zufälligkeit, ich bleibe ja auch immer und plötzlich an Dingen hängen, bei denen eine ganz tiefe Faszination von mir da ist, sonst würde ich nie so einen Film anfangen. Ich habe noch nie einen Film gemacht, bei dem nicht eine außergewöhnliche Faszination da war – egal, wie groß die Hindernisse waren, egal wie schwierig das war. Insofern ist es nicht so, daß jemand gesagt hat “Mach doch jetzt mal diesen Film” – ich bin gestolpert über diese Leute oder Themen und plötzlich war das so wie eine innere Erleuchtung – das muß ich machen, ich muß es machen, auf der Stelle ran an die Sache.
Machen sie Filme, um der eigenen Verzweiflung Herr zu werden?
Vor der Kamera kann man über so etwas nicht reden. Das gehört nicht in die Öffentlichkeit. Ich kann auch mit ihnen nicht reden, weil sie nicht mein Freund sind, ich kenne sie ja erst seit einem Tag. Man könnte vielleicht über so etwas reden mit einem langjährigen Freund oder einer Frau, der man alles anvertrauen kann. Ich hab einmal Ingmar Bergmann in Cannes erlebt – auf einer Pressekonferenz mit 1500 Journalisten – und Bergmann fing an, über den Tod zu reden. Ich bin vor Scham in meinem Sitz immer kleiner geworden und dachte mir, wie kann er das – das ist völlig unmöglich. Ich habe mich nur geschämt, obwohl ich nicht der war, der geredet hat.
Glauben sie, daß ihre Filme in dem Sinne verstanden werden, wie sie sie gemacht haben?
Ja und nein – man weiß das ja nie, wie kommt ein Film an, das ist oft anders, als man sich das vorgestellt hat. Ich habe den selben Film in einer Strafvollzugsanstalt gezeigt, der selbe Film lief in Usbekistan, Algerien und Los Angeles – mit jedem Publikum ist es plötzlich ein anderer Film und man muß sich daran gewöhnen, daß ab einem gewissen Zeitpunkt die Arbeit und das, was man hineinprojieziert hat, zu Ende ist und das Kind zu laufen anfängt. Und man muß dem Kind sozusagen auch die Beine lassen, daß es jetzt seinen eigenen Weg sucht und unabhängig wird und mit dem Publikum zu etwas wird oder eben nicht. Ich glaube aber, daß das, was ich versucht habe darzustellen, in der Regel auch verstanden worden ist, jedenfalls in groben Zügen. Manchmal seltsamerweise mit großer Zeitverzögerung. Es gibt Filme von mir, die man erst fünf, sechs, sieben, acht Jahre nach ihrem Start überhaupt sehen wollte und zum ersten Mal auch einigermaßen in Ordnung fand.
Denken sie beim Machen oder spätestens dann beim Schneiden an einen möglichen Zuschauer, an jemanden, an den sie sich wenden, dem sie etwas erzählen möchten?
Nicht direkt. Ich versuche ein guter Geschichtenerzähler zu sein. Und wenn sie eine gute Geschichte haben, dann ist es egal, ob das Publikum Zwölfjährige sind oder Leute aus dem Inneren Brasiliens – da gibt es allgemeingültige Gesetze. Man erkennt eine gute Story relativ schnell und da gibt es auch einen ziemlich einfachen Konsensus weltweit. Es gibt auch relativ rasch einen Konsensus darüber, ob die Musik zum Beispiel gut ist, ob die Kamera gut ist. Es gibt keinen Konsensus überhaupt je über den Rhythmus und das Tempo eines Films. Das ist völlig unterschiedlich und da treffen sie immer irgendwie daneben, egal wo sie jetzt gerade sind. In den USA finden den Film alle zu langweilig und zu langsam, in Skandinavien muß er doppelt so langsam sein, damit sie ihn gut finden – das ist sehr schwer vorherzusagen. Aber ich versuche natürlich schon nachzudenken, wer wird das sehen, wer könnte das sehen, wird man sich unter Umständen langweilen oder nicht.
Sie erwähnten eben das Wort Erzähler – daß sie sich als Erzähler verstehen. Gilt das mehr für die Spielfilme oder gilt das auch für die Dokumentarfilme?
Für mich besteht kein so deutlicher Unterschied zwischen sogenannten Dokumentarfilmen und Spielfilmen. Die Grenzlinie ist bei mir immer ganz verwischt. Zum Beispiel ein Film wie Fitzcaraldo, in dem ja ein Riesenschiff über einen Berg geschleppt wird, arbeitet weitgehend mit Methoden, die sozusagen dokumentarisch sind. Kein Mensch wußte vorher, was passieren würde, wenn wir das Schiff über den Berg ziehen – wie sieht das aus, welche Geräusche gibt das von sich – das hat ja niemand vorher gemacht. Das heißt, auf einmal wechselt der Spielfilm in eine ganz merkwürdige stilisierte Form der Dokumentation über – aber immer wirkt das so, als wäre es ein großes Opernereignis im Urwald. Gleichzeitig sind die Dokumentarfilme so weit inszeniert, daß sie zwar für den Zuschauer wie Dokumentationen aussehen, aber zum Teil vollkommen aus der Phantasie entwickelt sind. Für mich war von Anfang an wichtig, wie sich Wahrheit in Bildern oder Wahrheit im Kino konstituiert. Es ist schwer darüber zu reden, weil nicht mal die Philosophen oder Mathematiker das genau beantworten können – trotzdem: wenn sie ein großes Gedicht vor sich haben, dann merken sie außer der Sprache, die faszinierend und sehr schön ist, daß da eine tiefe Wahrheit für uns selber drin steckt. Das kann das Kino auch leisten. Nur: das Cinéma verité kann das nicht, das erreicht nur eine oberflächliche Schicht einer sogenannten Wahrheit. Um wirklich eine tiefe innere Wahrheit zu erreichen, müssen sie erfinden. Ich arbeite dann mit Phantasie. Ich habe “Dokumentarfilme” gemacht, immer in Anführungszeichen, in denen jede einzelne Einstellung erfunden ist, gestellt ist, inszeniert ist – in denen fast jedes Detail erfunden ist. Trotzdem, insgesamt, ergibt es eine ganz tiefe Wahrheit über die Person, über die der Film gemacht ist.
Wir sprachen gestern über einen Film von Jean Rouch, “Le Maitre fou”. Jean Rouch behauptet, seine Kamera sei in Extase geraten bei diesem Ritual. Was halten sie davon?
In gewisserweise glaube ich ihm das. Und zwar insofern, als Kamera und Person fast nicht mehr unterscheidbar sind. Die Kamera war so einfach, eine kleine aufziehbare Beaulieu mit einer einzigen Optik – und damit hat er einen der zehn größten Filme aller Zeiten gedreht. Vermutlich hat er recht. Aber die Frage habe ich mir noch nie gestellt – das ist sehr interessant. Bei “Lektionen in Finsternis” gibt es auch Momente, in denen es so eine Art von Extasis der Kamera gibt – in denen man drüber hinaus tritt.
War das schon während des Drehens so?
Bei “Lektionen in Finsternis” und bei einigen anderen Filmen war sicherlich schon beim Drehen das Gefühl da, daß da etwas ist, was weit über mir ist, was mir auf einmal wie ein Geschenk vom Himmel in den Schoß fällt. Schon beim Drehen hatte ich das Gefühl, hier ist etwas, bei dem auf einmal keine Schwerkraft mehr gilt und bei dem sich alles plötzlich in eine merkwürdige Extase auflöst.
Es passiert doch, daß man in der künstlerischen Arbeit große Momente erlebt, die später dann aber nicht erkannt werden von anderen.
Zum Glück ist mir das nie passiert. Die wirklich großen Momente sind alle immer irgendwie als etwas Besonderes empfunden worden, und zwar von jedem Publikum, auch von ablehnendem Publikum. Sicher, man muß darauf eingerichtet sein wenn man schreibt oder wenn man Filme macht oder Musik macht, daß das auch als scheußlich, schlecht, langweilig oder sonstwas empfunden wird. Das ist mir immer wieder passiert und damit muß man leben können.
Inwieweit geht es ihnen in ihren Filmen um den einzelnen Menschen, inwieweit geht es ihnen um Phänomene?
Das ist sicher immer beides. Jetzt zum Beispiel in meinem letzten Film “Little Dieter needs to fly”; da geht es sehr um seine Person, natürlich auch um seine unfaßbare Geschichte von Gefangenschaft und Flucht – eine Leidensgeschichte. Und um möglichst tief in ihn hineinschauen zu können, erfinde ich Geschichten. Zum Beispiel gleich am Anfang des Films macht er Türen auf und zu, auf und zu, das macht er in seinem Privatleben nie, das war für ihn erfunden.
Und er sagt dann auch vor der Kamera: “Wissen sie, als ich Gefangener war und in Fußblöcken war und mit sechs Leuten überkreuz in Handschellen war, sechs Monate lang – ich konnte nie eine Tür aufmachen, das ist wie ein Traum, das ist Freiheit. Eine Tür auf und zumachen zu können ist das Köstlichste, was ich machen kann” und schlägt die Tür noch zweimal auf und zu und geht erst dann ins Haus. Das ist völlig erfunden, aber es zeigt eine ganz tiefe Wahrheit, die in dem Mann drin steckt. Und seltsamerweise hat er gleich im ersten Vorraum Gemälde mit offenen Türen, und die habe ich nicht getürkt, die hat er wirklich dort. Das heißt von einem Element, das ich beobachtet habe in seiner Wohnung erfinde ich plötzlich ein Innenleben von ihm, das gar nicht so stimmt und trotzdem in tiefster Weise viel mehr stimmt als alles andere. Ich erfinde ununterbrochen.
Das Gespräch mit Reinhold Messner in “Das Leuchten der Berge” über die Begegnung mit seiner Mutter, nachdem sein Bruder gestorben war – wie kam es dazu?
Die Szene mit Messner, ich glaube, es war in einem Zelt, hatte eine Vorgeschichte. Gleich zu Anfang des Drehs sind wir am Nanga Parbat vorbeigekommen, ein brilliant klarer Tag, zum ersten Mal seit Wochen sah man den Gipfel. Und ich habe gesagt: Wir drehen sofort, schnell Reinhold raus … und wir bauen die Kamera auf – und auf einmal fängt er vor diesem Berg an, wie ein Fernsehconférencier zu reden, über die Geschichte dieses Bergs und wie sein Bruder umgekommen ist. Nach zwei, drei Minuten habe ich gesagt, den Film mache ich nicht, ich drehe gleich wieder um. Wir wollten immer eine tiefere Innenansicht haben, ich mache nicht einen Film mit einem Fernsehconférencier, wir müssen tiefer gehen und wir müssen uns auch was trauen. Bist du bereit dazu? – und da hat er eine Weile überlegt und dann gesagt: Ich glaube, ich habe dich verstanden. Und ich habe ihm auch gesagt, was immer jetzt sein wird, die Kamera kennt keine Gnade.
Die Stelle, in der er plötzlich weint, an der es ihn reißt – er hat ja die Geschichte sicher oft erzählt – kam möglicherweise durch die Art, wie gefragt wurde. Wenn ich ihn fragen würde, war das nicht fürchterlich, wie du dann nach Hause kamst und du deiner Mutter sagen mußtest, daß dein Bruder umgekommen ist und daß du allein heimgekommen bist – dann hätte er wahrscheinlich weiter erzählt. Auf einmal frage ich aber ganz biblisch: Wie war das, als du heim kamst und deiner Mutter vor das Angesicht treten mußtest? Eine alttestamentarische Heimsuchung, an der die Berge in Wut und Zorn geraten sind und die Menschen nicht haben wollten und sie einfach weggetötet haben. Und sein jüngerer Bruder bleibt tot am Berg. Auf einmal – dadurch, daß es ganz biblisch war – hat es ihn gerissen. Und ich habe der Kamera nur zugenickt: weiter drehen, weiter drehen, egal, was passiert. Es gab übrigens noch lange Diskussionen darüber, ob wir es im Film lassen sollen oder nicht. Ich habe es dem Messner vorgeführt, der schwankte und ich glaube, wir haben dann beide gesagt, es gehört in den Film, es geht sehr weit, aber es sollte in den Film hinein. Ich glaube nach wie vor, daß es richtig war.
Das glaube ich auf jeden Fall auch. Gab es während der “Szene” Zweifel, weiterzudrehen?
Es war klar, daß in so einem Fall weitergedreht wird. Der erste Kameramann, mit dem ich überhaupt gedreht habe, ein Argentinier, Jaime Patscheko, sagte mir etwas bei meinem allerersten Film. Es war irgendeine Situation, an die ich mich nicht mehr erinnere, in der ich dachte: nicht mehr filmen. Und da sagte er: Werner, die Kamera kennt keine Gnade. Es gibt ein eigenes Gesetz der Kamera, es muß das Auge aufgemacht werden, egal, wie fürchterlich es ist, was sich jetzt gerade abspielt. Da gibt es Grenzen und für mich sind die Grenzen völlig klar. In Nicaragua zum Beispiel, bei den Miskitoaufständischen (“Die Ballade vom kleinen Soldaten”), da gab es unschöne Sachen auf beiden Seiten, da wurden beispielsweise Gefangene erschossen – in so einer Situation würde ich niemals eine Kamera laufen lassen, selbst wenn man mich hinschleppen würde und sagen würde: Dreh das! – Ich würde es nicht machen. Also es gibt eine ziemlich klare Grenzlinie und die kenne ich.
Sich dem Krieg filmisch zu nähern ist ein fast unlösbares Problem. Sie haben für “Lektionen in Finsternis” eine Form gewählt, die nicht daran interessiert ist, aufzuklären, was wie wo wann passiert ist, sondern eine Form, die über die Ästhetik versucht, dieses Thema in den Griff zu kriegen.
Und Krieg im Übrigen kommt in “Lektionen in Finsternis” ja praktisch gar nicht vor. 20 Sekunden – und das ist ein völlig abstrakter Krieg. Im Begleitkommentar heißt es auch nur: der Krieg dauerte nur Minuten – so ein ganz merkwürdiger Sciencefiction-Krieg, der an sich völlig unwichtig ist, der gar keine Rolle spielt im Film. Es sind die Spuren, die übrig sind, die sind wichtig.
Ist es trotzdem ein Antikriegsfilm?
Ich glaube, er ist so empfunden worden. Er ist merkwürdigerweise auch als ökologischer Film empfunden worden – ich habe zum Beispiel in den USA einen Preis bekommen für den besten ökologischen Film des Jahres und dachte immer, eigentlich müßte es doch der beste Sciencefiction-Film sein. Wie immer man das auffaßt, natürlich bauen sich in einem Zuschauer, der solche Verwüstungen sieht, fast wie von selbst Gefühle gegen den Krieg auf. Mit Sicherheit wird sich auch ein Gefühl von Schutz für diese arme Erde in einem aufbauen, wenn man diesen Film sieht. Das Zentrum der Dinge aber sind Bilder, die wir nie vorher gesehen haben. Nachdem wir das hunderte von Malen jeden Abend im Fernsehen in Zehn-Sekunden-Spots gesehen haben, wußte ich natürlich, da ist ein großes Ereignis, das niemand richtig gefilmt hat. Allein für das Gedächtnis der Menschheit müssen wir es filmen – keiner hat es richtig gemacht.
War die Idee dieser Überästhetisierung von vornherein klar?
Ich habe noch nie in meinem Leben an Ästhetik gedacht. Ich schwöre es. Sie stellt sich komischerweise immer wieder ein und ich erkenne hinterher natürlich, ja, da ist eine gewisse Ästhetik da. Ähnlich wenn sie per Hand einen Liebesbrief schreiben, dann schreiben sie, weil sie ein Gefühl vermitteln wollen. Aber erst hinterher bemerken sie, daß ihre Handschrift einen bestimmten Charakter hat. Wenn sie aber nur diesen Charakter ihrer Handschrift stilisieren wollten, würden sie den Liebesbrief nicht mehr schreiben können. Da käme kein Gefühl mehr herüber. Und ich muß auch sagen, ich bin wie einer, der schreibt – mit der Hand schreibt – und nie daran denkt, wie seine Buchstaben dann hinterher auf dem Papier aussehen werden. Um Ästhetik habe ich mich nie gekümmert, weiß aber natürlich, daß sie sich auf irgendeine Weise einstellen wird. Wie, das ist mir ein Rätsel, aber sie stellt sich ein. Ich bin in Deutschland sehr angegriffen worden, “Ästhetisierung des Grauens” hieß es. Die Antwort ist ganz einfach: auch Dante hat das gemacht, Goya und Hieronymus Bosch – und nur über das hohe Niveau der Ästhetik und der Stilisierung ist Goya so eine lebendige Figur geblieben, oder Dante oder Hieronymus Bosch oder wen immer sie nehmen wollen.
Sie verwenden in diesem Film Bibelzitate, die ja auch Teil dieser Ästhetik sind. Hat das in irgendeiner Weise mit einem Gottglauben zu tun? Oder benutzen sie das nur?
Durch diese – leicht abgewandelten – Bibelzitate stellt sich ein gewisses Klima ein, ein Klima von biblischer Verheerung. Der Film beginnt ja auch im Übrigen mit einem schriftlichen Zitat, soweit ich mich erinnere “Der Untergang der Sternenwelten wird sich wie die Schöpfung in unermeßlicher Schönheit vollziehen”, oder so – und dann steht darunter Blaise Pascal, was natürlich völlig getürkt ist, das Zitat ist von mir. Also Leute, die über Philosophie Bescheid wissen, haben mich gefragt, wo haben sie denn das gefunden? Ich sage dann immer, ja es war so in einer fünfbändigen Ausgabe, es war nicht in den Pensées, es war irgendwo anders – also das hat viel Verwirrung gestiftet. Aber dieses Zitat bringt uns, bevor das erste Bild da ist, in ein inneres Klima, auf ein ganz hohes Niveau. Wir steigen als Zuschauer ins erste Bild auf einer ganz hohen Stufe ein – und zwar nur durch dieses dreizeilige Zitat. Und ähnlich ist es wohl auch mit diesen biblischen Zitaten.
Glauben sie an Gott?
Vielleicht gibt es in diesem Film und auch in anderen Filmen so ein fernes Echo von einer sehr intensiven religiösen Phase, die ich hatte als vierzehn, fünfzehnjähriger. Ich bin ja zum Katholizismus konvertiert in einer Familie, in der alle militante Atheisten sind und waren und das waren sehr wichtige, dramatische Ereignisse damals. Das Wort “Gott” kommt ja auch in etlichen Titeln vor: “Aguirre, der Zorn Gottes” oder “Jeder für sich und Gott gegen alle” – was fast wie ein Motto für mein Leben ist.
Das Filmemachen könnte man ja auch als eine Form von Abenteuer beschreiben. Ist das ein Anreiz, der heroische Prozeß?
Ich habe seltsamerweise den Ruf, Filme zu machen, weil ich Abenteuer suche. Das ist natürlich Unsinn, weil ich ein sehr professioneller Mensch bin und ja mit Bildern und einem Film zurückkommen will. Ich gehöre auch zu denen, die auf’s heftigste gegen jedes heutige Pseudoabenteurertum sind. Für mich gibt es Abenteuer schon nicht mehr, spätestens seit man versucht hat, den Nord- und Südpol zu erreichen. Schon da ist es zur absoluten Lächerlichkeit verkommen und ist nur noch peinlich. All diese Pseudoabenteurer, die das für die Leute zu Hause am Fernseher vorführen und die sich immer größere Schwierigkeiten suchen, barfuß auf den Mount Everest oder im Rückwärtsgang durch die Sahara – das ist zu einer absurden Unsinnigkeit verkommen. Ich gehöre nicht dazu, mich haben immer nur die Themen und die Menschen der Filme interessiert, alles andere wäre unsinnig.
Einschränkend muß ich sagen, daß ich komischerweise über die Themen der Filme häufig in schwierigere Situationen geraten bin, physisch oder auch anderer Art, als viele andere Leute, die Filme machen. Wenn es klar war, daß man Probleme haben wird, bin ich dann auch nie davor zurückgescheut. Also wenn sie zum Beispiel versuchen, ein 340 Tonnen schweres Flußboot, einen Dampfer, über den Berg zu schleifen, dann wissen sie, dann weiß jeder Depp, daß er Probleme haben wird, daß es nicht einfach wird. Trotzdem habe ich das gemacht, aber nicht, um mich jetzt selbst zu erfahren oder aus Abenteurertum, sondern es ging um die Geschichte, und die Geschichte hat das eben erforderlich gemacht.
Aber der Akt des Physischen gehört für sie zum Filmemachen?
Nein. Aber ich glaube, daß es kein Zufall ist, daß in der Filmgeschichte ein sehr hoher Prozentsatz der wirklich guten Leute sehr physische, athletische Leute waren – in einem viel höheren Maße als bei den Malern oder Schriftstellern zum Beispiel. Ich glaube, daß es ein physisches Verstehen von Raum und Bewegung gibt im Kino und daß die, die athletisch sind, das auch relativ gut verstehen können. Also immer dann, wenn die Sache physisch wird, wenn ich mit einer Armee von spanischen Eroberern irgendwo im Urwald durch den Sumpf wate, mache ich bessere Bilder als wenn ich zum Beispiel in einem Studio wäre – ich passe nicht in ein Studio, das ist zu künstlich, das ist zu tot.
Wenn sie an die Zukunft des Films denken, spielen da neue Möglichkeiten, neue Techniken eine Rolle?
Vielleicht ja, aber das braucht einen jetzt gar nicht so zu interesssieren, ob es jetzt neue Kanäle gibt, über die das geschleust werden kann, darüber wissen wir noch nicht sehr viel. Wir wissen nur, daß die explosive Entwicklung der neuen Medien und Kommunikationsinstrumente gleichzeitig die Einsamkeit wachsen läßt. Es ist also unsere Aufgabe, Filme zu machen, in denen wir für die Zuschauer, wo immer sie sind, plötzlich solche Momente erschaffen, in denen sie wissen, sie sind nicht mehr allein – egal, über welche Kanäle, welche Instrumente diese Filme zugänglich gemacht werden. Für mich ist das das größte, was ich erleben kann – der Film ist vielleicht vor sechzig Jahren gedreht worden und der Mann, der ihn gemacht hat, ist längst tot – und ich gehe aus dem Kino und weiß auf einmal, ich bin nicht mehr allein.
Mit Werner Herzog sprachen Daniel Sponsel und Jan Sebenig in Sevilla im Oktober 1998. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler.