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Interview: Katrin Cartlidge

Cartlidge: Ich muss vorausschicken, ich spreche als Schauspielerin über Mike Leighs Arbeit, es ist also ein spezieller Blickwinkel. Ich bin sicher, er selbst würde in vielen Dingen anders über seine Arbeit sprechen. Soweit ich es also sehe, beginnt Mike Leigh mit einer vagen Idee für eine Geschichte. Für “Naked” könnte er zum Beispiel gesagt haben: “Ich möchte eine Geschichte über junge Menschen machen, die keine Familie haben. Menschen einer bestimmten Generation, im gleichen Alter, die Probleme haben, ihr Leben zu meistern, aus welchen Gründen auch immer.” So etwa könnte seine Ausgangsposition gewesen sein, um in Folge 15 Schauspieler auszusuchen, die möglicherweise Figuren und Charaktere kreieren können, die in diese Ausgangssituation passen und mit ihm eine Geschichte daraus machen. Ich glaube nicht, dass er am Anfang viel mehr über seinen Film weiss, denn er kann ja nicht wissen, was die Schauspieler an Ideen einbringen werden. Möglicherweise wusste er noch etwas über das zerstörerische Verhalten einer Person und welche Auswirkungen sie damit auf ihre Umwelt hat. Und er hatte David Thewlis, mit dem er zuvor schon einmal gearbeitet hatte, und von dem er wusste, dass er in der Lage ist, einen Film als Hauptfigur zu tragen. Das also waren ungefähr die Parameter, aber wie die Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander genau aussehen sollten, wer diese Figuren überhaupt waren, das stand am Anfang sicher noch nicht fest.

Revolver: Wie beginnt dann für dich die Arbeit an der Rolle?

Gut – das sind also die Dinge, die Mike im Kopf hat und die er uns nicht mitteilt. Alles, was wir (Schauspieler) wissen, ist, dass unser Agent einen Anruf von Mike Leigh bekommen hat, der fragen lässt, ob wir mit ihm einen Film machen wollen. Die Antwort ist klarerweise ja. Ich meine, man kennt seine früheren Arbeiten. Und das ist alles, was man am Anfang erfährt. Man wird von der ersten Woche an bezahlt, in der man mit ihm arbeitet.

Also nicht nur für die Drehtage, sondern während der ganzen Probenzeit?

Ja. Wenn deine Rolle im Film sehr klein ist oder erst am Schluss auftaucht, dann hast du Glück gehabt (lacht). Du wirst für die ganze Probenzeit bezahlt und hast vielleicht nur eine Szene. Nein, es ist schon ein bisschen gestaffelt. Es gibt eine Summe für jede Probenwoche und eine höhere Gage für jede Drehwoche, aber du wirst definitiv nicht nur nach deinem Einsatz während der Drehzeit bezahlt.

Und alle Schauspieler fangen zur gleichen Zeit zu proben an?

Nein. Nicht unbedingt. Bei “Naked” zum Beispiel muss Mike gewusst haben, dass er eine Geschichte über jemanden macht, der aus dem Norden Englands nach London kommt. Der erste Schritt war also mit David Thewlis diesen Charakter zu schaffen, bevor irgendein anderer Schauspieler beschäftigt werden konnte. Nachdem aber die Figur definiert war und sozusagen nach London kommt, war es Zeit, die anderen Schauspieler in den Prozess einzubeziehen und mit den Proben anzufangen.

Wie sehen die Vorbereitungen aus?

Wie gesagt, im Fall von “Naked” haben die Proben mit David Thewlis und Leslie Sharp, dem Mädchen aus Manchester, begonnen, da ja zuerst diese Beziehung geschaffen werden musste, die aus ihrem Leben vor der Zeit in London stammt. Also probten sie ungefähr eine Woche, und dann kam ich dazu. Als ich anfing, hatte ich keine Ahnung, was die beiden bereits erarbeitet hatten, ich wusste absolut nichts. Am Anfang, vielleicht vier bis fünf Wochen, arbeitest du nur mit Mike Leigh, mit ihm und mit niemandem sonst. In dieser Zeit sprichst du mit ihm über die Figur, indem du zum Beispiel bei einer konkreten Person beginnst, als gemeinsame Basis sozusagen, mit der beide einverstanden sind. Es ist nicht wichtig, wie gut du sie kennst. Du sprichst über eine Menge Menschen, die du vielleicht nur fünf Minuten kennengelernt hast, die aber genau zu der gesuchten Figur passen. Wir haben über sehr viele Menschen und Dinge gesprochen, ich meine über fast alles, was ich in meinem Leben erlebt habe und woran ich mich erinnern kann. Es ist also eine Art Casting-Termin, bei dem er, während ich erzähle, ständig überlegt, ob nicht dieses oder jenes für seine Figur in Frage kommt. Ich habe über Gott und die Welt gesprochen und hatte keine Ahnung, was seiner Meinung nach für seine Geschichte passen könnte. In der Figur und in den Details, die Mike schliesslich eingegrenzt hat, war dann aber sehr vieles von dem enthalten, was ich erzählt hatte. Also die individuelle Erfahrung der Schauspieler spielt eine grosse Rolle bei der Festlegung der Charaktere.

Man weiss also am Anfang nicht, wohin es gehen wird. Nachdem wir uns für eine Figur entschieden hatten, haben wir angefangen, uns Geschichten für diesen Charakter auszudenken. Man erfindet eine Parallelwelt für diesen Menschen. Wenn also in Wahrheit meine Bekanntschaft in London geboren ist, dann habe ich sie in meiner Fiktion in Nordengland aufwachsen lassen. Man benutzt also diese reale Person nur als Referenz für die Figur und erzeugt eine ganz neue, fiktive Realität, damit am Ende dann eine reine Phantasiefigur entsteht, die so lebendig ist, weil sie auf tatsächlichen Details von Menschen und Erlebnissen beruht. Die Figur entsteht also in den Gesprächen mit Mike.

Aber wer entscheidet nun eigentlich, wer “Sophie” ist?

Na ja, nachdem wir also über ungefähr 16 Personen gesprochen haben, wird er sich für eine, sagen wir Nummer 3, entscheiden und dich bitten, die Figur von Sophie auf den Grundcharakterzügen dieser Person aufzubauen. Und du weisst nicht warum und sagst okay.

Und du weisst nichts über die Geschichte des Films?

Nein. Mike hat zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Geschichte. Er hat nur einen ungefähren Ausgangspunkt, aber das ist auch schon alles. Danach kommt die absolute Chaostheorie. Er hat das Fundament gelegt, und jetzt kann darauf aufgebaut werden. Nachdem du wochenlang über diese Figur gesprochen hast, weisst du, wann und wie sie ihre Jungfräulichkeit verloren hat, wie ihre Weihnachten waren und wie ihre Erinnerungen daran sind. Du kennst ihre Freunde, ihren Alltag, was sie isst, was sie trinkt – einfach absolut alles. Du beginnst diesen Charakter als physische Figur zu begreifen. Wenn du das tust, musst du dir aller psychischen Aspekte dieser Figur bewusst sein. Bei Sophie zum Beispiel war es für mich eine instinktive Entscheidung, dass sie nicht ruhig sitzen kann, dass sie sich ständig bewegen und ablenken, sich ständig irgendwo anlehnen muss, weil sie einfach kein Zentrum in sich hat. Das ist ihr Naturell und du kannst im Film sehen, dass sie sich ständig um irgendeinen Gegenstand windet. Sie kann einfach nicht still halten. Das hat nicht nur mit ihrem Alkohol- und Drogenkonsum zu tun, es ist genauso Ausdruck ihrer Natur. Eine sehr entwurzelte Figur, sehr verletzbar, ohne Selbstvertrauen und mit wenig Selbstrespekt. Die ganze Zeit macht sie herum und muss alles anfassen, als wäre sie auf einem schwankenden Schiff. Diese physischen Eigenschaften ergeben sich erstens aus dem Verständnis ihrer Psyche und zweitens aus dem Wissen um ihre biographischen Eckdaten und was ihr im Leben alles passiert ist. Wenn du mal so weit bist und auch ihre Art zu sprechen definiert hast – wobei die Person, die deiner Figur als Grundlage dient, immer der Ausgangspunkt bleibt – ist der Zeitpunkt gekommen, die anderen Schauspieler, genauer gesagt: die anderen Figuren, die dann im selben Stadium sind, zu treffen.

Mike Leigh arbeitet also die ersten Wochen mit jedem Schauspieler einzeln?

Das hängt natürlich vom Projekt ab und wie schnell man voran kommt, aber die Einzelgespräche dauern ungefähr vier Wochen. Nach dieser Zeit triffst du andere Schauspieler, und das ist sehr aufregend, weil du niemals über deine Arbeit an der Rolle mit ihnen sprichst. Ich begegne ihnen als Figur, in “Naked” also als Sophie, und niemals als Katrin. Es ist nicht erlaubt, über deine Vorarbeit zu sprechen, nicht mit den anderen Schauspielern und eigentlich nicht einmal mit deiner Mutter oder sonst irgend jemandem, nicht einmal mit deiner Katze. Das ist eine wichtige Regel für die Arbeit, weil die Figur sich ständig entwickelt. Wenn du jetzt beginnst, irgend jemandem über deine Figur etwas zu erzählen, beginnst du auch, Dinge festzulegen, zu kristallisieren, und das Ganze verhärtet, anstatt dass deine Figur formbar bleibt. Es ist auch wichtig, dass du nur das von der Figur weisst, was die Figur von sich selber weiss. Würde ich jetzt mit anderen darüber sprechen, und das dränge irgendwie zu anderen Schauspielern durch, wüssten sie Dinge über die Figur, die deren Figur nicht wüsste. Es ist sehr schwierig, etwas Gehörtes wieder aus seinem Gedächtnis zu streichen und eigentlich unmöglich so zu tun, als ob man es nicht gehört hat.

Ist es nicht auch schwierig, den anderen Schauspieler bloss als Figur zu treffen?

Natürlich. Es gab da einen lustigen Vorfall zwischen David und mir. Ich hatte ihn schon einmal zuvor getroffen, und da hatten wir uns als Schauspieler über unsere Arbeit unterhalten. Drei Monate später traf ich David alias Johnny dann als Sophie wieder – und natürlich landeten wir nach zehn Minuten im Bett, so sehr waren wir in unseren Rollen. Seine Hand war unter meinem T-Shirt usw. In solchen Fällen greift Mike Leigh ein und sagt, man solle aus seiner Figur herauskommen. Er tut das in Situationen, in denen es einfach lächerlich wäre, weiterzumachen oder wenn sich die Dinge totlaufen. Er unterbricht Situationen, die eindeutig zu intim werden, wenn also die nächste logische Konsequenz wäre, miteinander zu schlafen. Er tut das auch, um seine Schauspieler davor zu schützen, sich selbst allzu sehr blosszustellen. In dem Moment also, als David unter meinem T-Shirt beschäftigt war, hat Mike die Proben mit “Come out of character” unterbrochen, und ich habe “Hallo” gesagt zu David – als Katrin. Er war genauso irritiert wie ich, und wir gaben uns zur Begrüssung die Hand. Das Ganze ist schon sehr bizarr, aber es ist extrem wichtig für die Arbeit, alle Erlebnisse und Entdeckungen mit deinem Schauspielpartner als deine Figur gemacht zu haben. Das ist unheimlich dynamisch. Es ist faszinierend.

Wie trefft ihr als Figuren, nach den Einzelgesprächen, aufeinander – und wie wird eure Arbeit physisch?

Das ist der Moment, wo es ziemlich kompliziert wird. Nehmen wir zum Beispiel einen Tag wie heute. Es ist Mittwoch, und Mike würde fragen: “Was macht Sophie an einem Mittwoch Nachmittag?” Zu diesem Zeitpunkt weiss ich bereits alles über ihren Charakter, und ich weiss auch, was sie jeden einzelnen Tag in der Woche tut. Also nehmen wir an, heute ist Mittwoch, und gestern war Sophie auf einer Party. Sie steht nicht vor Mittag auf, und Mike würde wieder fragen, was sie nach dem Aufstehen macht, und ich würde weiter imaginieren und Sophie auf eine Couch setzen mit einem Bier und blöd in den Fernseher starren lassen. Mike würde dann sagen: “Okay, lass uns hier beginnen” und mich aufwärmen schicken (“warm up into character”). Du hast also immer Zeit, um in deine Figur zu schlüpfen, und es gibt da verschiedenste Techniken, die dir dabei helfen. Wichtig ist zum Beispiel, die Kleidungsstücke der Figur anzuziehen, auch wenn es nicht die Sachen sind, die vielleicht später im Film verwendet werden. Sie helfen dir sehr, in die Figur hineinzukommen. Die Proben finden in einem separaten Raum statt, in einem Gebäude, das extra für die Vorbereitungszeit angemietet ist. Ich sitze in Sophies Kleidern auf einer Couch und schaue fern mit einer Dose Bier in der Hand. Dann läutet es, und Sophie steht auf und öffnet Johnny die Tür. Das sind die Dinge, die Mike wie ein Komponist koordinieren muss. Er muss sich also vorher überlegen, dass er mit Sophie beginnen will und dass sie wahrscheinlich zu Hause bei sich auf einer Couch herumlungern wird usw. Er kennt zu diesem Zeitpunkt meine Figur genauso gut wie ich. Während das also stattfindet, bereitet sich David auf seine Rolle als Johnny vor, und alles, was ich weiss, ist, dass er aus dem Norden von England kommt. David läutet also an der Tür, und ich öffne als Sophie Johnny die Türe. Alles, was feststeht, ist diese Adresse, die ihm seine Freundin gegeben hat, bevor sie Nordengland verliess. Was danach passiert, ist absolute Improvisation, und das geht solange, bis Mike sagt: “Please come out of character”, und das kann vier Stunden später sein. Es war leicht möglich, mit David vier Stunden und mehr zu improvisieren, ohne dass Mike uns unterbrach.

Und du hattest keine Angaben von ihm, worum es in der Begegnung ungefähr gehen soll?

Nein, weil es ja sonst in der ganzen Szene nur um das Treffen von Sophie und Johnny gegangen wäre. Es gibt keine Limits für das, was passieren kann, bis Mike uns eben herausholt. David hatte keine Ahnung, wer ihm die Tür öffnen wird. Möglicherweise hat er seine Freundin erwartet, aber wer weiss. Das ist eben eine Situation, wo Mike gefordert ist, das Ganze zu “orchestrieren”, also uns zu dirigieren, ohne wirklich bewusst einzugreifen. Er hat natürlich diese magischen Worte “Come out of character” für den Fall, dass die Szene sich irgendwie gefährlich entwickelt, wobei er uns in den Improvisationen sehr weit gehen lässt. Die Erfahrung für die Schauspieler ist enorm, denn du bekommst wirklich das Gefühl, ein zweites Leben zu haben.

Nachdem also Sophie und Johnny für vier Stunden da herumgemacht haben, bittet er uns, “out of character” zu kommen. Mike hat irgendwo in einer Ecke das Ganze beobachtet, ohne sich auch nur eine Notiz zu machen. Wir haben ihn währenddessen total vergessen, er ist so etwas wie ein Einrichtungsgegenstand geworden. Ich brauche dann schon mindestens eine Stunde, um diese Figur wirklich wieder von mir abzustreifen. Danach haben wir mit Mike ein Gespräch über das, was wir gerade improvisiert haben, und zwar jeder alleine mit ihm. Das Gespräch sieht dann so aus, dass Mike dir Fragen stellt. Wie zum Beispiel: “Katrin, kannst du dich an Momente während der Improvisation erinnern, wo du nicht absolut in der Rolle von Sophie warst, oder gab es Momente, wo du Angst hattest, oder wo einfach die Umgebung hier dich eingeschränkt hat, und du deshalb nicht weiter gehen konntest.” Das ist ein sehr schwieriger Prozess, weil es um die Objektivierung der Szene geht, und da muss ich aus dem Innersten von Sophie heraus als Katrin mir Fragen stellen und versuchen, so Sophie zu analysieren. Das ist ein Moment, wo Mike dich dann immer auffordert, dich von der Figur zu trennen. Ich denke, dass es generell gut ist für Schauspieler, diese Art Disziplin zu praktizieren.

Diese Analysen finden also immer direkt nach den Proben statt?

Ja, in Einzelgesprächen, und der andere wartet inzwischen, manchmal für Stunden, trinkt Tee und weiss nicht, worüber nebenan eigentlich gesprochen wird. Diese Improvisationen dauern Monate, bei “Naked” waren es vier Monate. Danach, wenn alle Charaktere und Figuren sich auch untereinander kennengelernt haben, sitzen wir alle mit Mike zusammen und versuchen zurückzublicken und zu entscheiden, was die interessantesten Momente waren, aus denen man eine Geschichte machen kann. Und dann schreibt Mike … (Katrin Cartlidge steht auf und holt ein dünnes, geheftetes Etwas, vielleicht 20 Seiten stark) … das Drehbuch: “Ohne Titel 1992”. Dieses Ding ist absolut geheim, und es steht auch auf dem Deckblatt: “Not to be shown to anyone.” Und so sind die Szenen beschrieben ( sie liest vor ): “Szene 1: Mögliche Titelsequenz: Johnny. Szene 2: Sophie. Szene 3: Johnny …” usw. Hier in den nächsten Szenen kommen die Namen Jeremy und Max vor – ich hatte keine Ahnung, wer diese Figuren sind. Ich wusste nicht, wer sie spielen wird, und ich wusste nichts von ihrer Geschichte. Das also ist das Drehbuch, sonst nichts. Das ist die Struktur des Films und das Ergebnis von vier Monaten Proben. Der erste Drehtag ist auch der erste Tag im Buch. Es muss chronologisch gedreht werden, denn wir wissen bis zu diesem Zeitpunkt nicht, was zum Beispiel in Szene 14 passiert. Die Szenen geben nur eine dramaturgische Struktur vor, aber der Inhalt bleibt bis zu dem Moment, wo wir die Szene drehen, offen.

Alles befindet sich in einem ständigen Entwicklungsprozess.

Richtig. Alles, was wir bis dahin gemacht haben, ist, die Figuren und ihre Charaktere zu erforschen: wie sie leben, wie sie sprechen, usw. Der nächste Schritt ist, die Szenen festzulegen.

Macht ihr das noch vor dem Drehen?

Nein. Wir haben jetzt vier Monate Improvisation hinter uns. Das vorher erwähnte Drehbuch ist das Resultat, und am nächsten Morgen fangen wir an zu drehen. Also Szene 1 ist mit Johnny, und dann komme ich dran.

Du weisst nicht, was sie am ersten Drehtag mit Johnny gedreht haben?

Nein, keine Ahnung. Ich steige ein, und meine Ausgangsposition ist, dass Sophie gerade von einer Party nach Hause kommt. Es ist Mittag usw. Mike sagt also: “Ich möchte, dass du an diese Party denkst, mit wem du dort gesprochen hast, was du getrunken hast. Was war es überhaupt für eine Party? Hattest du Sex dort oder nicht, und wenn ja, mit wem? Und danach möchte ich, dass du also nach Hause kommst, an einem Montag. Wann wird sie nach Hause kommen?” “Mittags”, sage ich. “Okay.” Dann schickt er mich in die Garderobe, Kostüm anziehen und aufwärmen, und dann komme ich als Sophie nach Hause von dieser Party. Ich weiss, dass Sophie auf dem Heimweg Selbstgespräche führt. Die erste Szene, die man also mit mir sieht, ist Sophie, die gerade nach Hause kommt und Selbstgespräche führt. Danach heisst es “Danke”, und ich gehe in die Garderobe und warte auf meine nächste Szene.

Es wird nicht besprochen, wo die Kamera steht?

Ich sehe, wo die Kamera steht. Zum Beispiel beginne ich zu improvisieren und komme den Weg entlang bis zu meiner Haustür. Mike sagt dann: “Okay, wir fangen also hier an”, und dann ist es wie bei jedem anderen Film. Wenn eine Position sehr gut ist, fragt er mich, ob es irgendeinen guten Grund gibt, hier stehen zu bleiben, wenn eine andere Position besser wäre, fragt er, wie ich dort hinkommen könnte. Falls ich keinen Grund finde, und ich brauche wirklich einen verdammt guten Grund, dann werde ich eher versuchen, Mike davon zu überzeugen, meine Position nicht zu verändern und die Kamera umzustellen. Ich meine, wenn ich darauf bestehe, dass Sophie genau hier geht, weil sie eine spezielle Beziehung zu den Pflastersteinen vor ihrem Haus hat, kann ich Mike schon davon überzeugen, ausser es ist ein kleines und überflüssiges Detail. Dann sagt er: “Katrin, niemand kann das nachvollziehen, und es wird auch keiner bemerken, dass du da einen besonderen Bezug zu den Pflastersteinen hast, komm also einfach heim, und hör auf idiotisch zu sein.”

Aber es gab auch Szenen, wo wir wirklich Probleme hatten. Da war diese Szene, wo er Johnny aus meinem Haus gehen lassen wollte, und er bat mich, aus meinem Charakter herauszukommen, und wir besprachen, ob ich nicht für einen Moment aufs Klo oder sonstwie verschwinden könnte, damit Johnny die Flucht vor mir ergreifen kann. Ich sagte einfach: “Nein, ich sehe nicht, dass Sophie hier von Johnny weggeht.” Ich wusste, dass Mike damit ein Problem hatte, aber Sophie würde eher in die Hose machen, als Johnny so einfach entwischen zu lassen. Ich sagte ihm also: “Ich sehe da keine Möglichkeit, und du musst einfach zuschauen, wie weit wir in unserer Improvisation gehen. Wenn Johnny gehen will, dann wird er auch gehen, egal was mit mir passiert.” Das Resultat davon ist eine Szene, in der die Kamera unbewegt in einer Position steht und den Akteuren nur gelegentlich nachschwenkt und in der Sophie Johnny von einem Raum in den anderen nachläuft wie eine räudige Katze. Am Ende folgt sie ihm über die Stiegen bis zur Tür hinaus. Johnny muss versuchen, sie mit all seinen Kräften, also auch physisch, loszuwerden. Im Film wirft er mich dann auf den Boden, und ich glaube, es ist dadurch eine viel bessere Szene, als wenn Johnny einfach verschwunden wäre, während ich auf dem Klo sitze.

Aber diese Bereitschaft, solche Dinge zusammen mit den Schauspielern zu entscheiden, muss man Mike hoch anrechnen. Immerhin muss er ständig spontan entscheiden, ob das eine Bereicherung für den Film ist oder eher etwas Zerstörerisches, ob es dem Film hilft oder schadet. Am Ende war es die bessere Szene, wie ich am Boden lag. Aber du siehst, das Ganze ist eine ziemlich risikoreiche Sache.

Ich verstehe jetzt auch, warum die Auswahl der Schauspieler für einen solchen Arbeitsprozess so wichtig ist. Schauspieler und Regisseur sind überdurchschnittlich abhängig voneinander.

Die Zusammenarbeit ist natürlich immens wichtig, aber Mike muss auch fähig sein, in gewissen Momenten seine Linie zu verfolgen, denn die Schauspieler machen natürlich auch mal schlechte Bemerkungen, oder besser gesagt: Sie machen Vorschläge, die der Geschichte eine ganz andere Richtung geben würden. Und da muss Mike das letzte Wort haben, bzw. uns seine Ideen plausibel machen. Aber Mike Leigh sucht schon nach Schauspielern, die seine Vision vom Filmemachen teilen und bei denen eine ähnliche Sensibilität besteht. Ich weiss, dass Mike Schauspielern die Möglichkeit gibt, sehr weit zu gehen, um sehr tiefe Entdeckungen über sich zu machen. Andere Regisseure haben davor grosse Angst. Als ich Hannah in “Career Girls” spielte, gab es sehr extrovertierte Szenen. Andere Regisseure hätten gesagt, “Stopp Katrin, das kannst du nicht machen, wir filmen jetzt ein Close-Up, also lass diese grossen Gesten” usw. Ich denke, die meisten Regisseure würden mich nach dem ersten Drehtag umbesetzen. Ich weiss, dass Mike von der extremen Ausdrucksvielfalt der menschlichen Körper- und Gebärdensprache fasziniert ist. Natürlich sind nicht alle Menschen so, aber wir kennen genug oder haben solche kurz mal gesehen, und für Mike kann man solche Charaktere dann als Grundlage für die eigene Figur heranziehen. Für die meisten amerikanischen Produktionen wäre das natürlich nicht möglich. Die Leute wären entsetzt und würden dich für einen schrecklichen Schauspieler halten. Mike Leigh hat da ganz andere Masstäbe für die Wertschätzung eines Schauspielers.

In Amerika gibt es natürlich auch selten oder nie die Möglichkeit, vier Monate für einen Film zu proben. Ich glaube, dass auch die Angst des Regisseurs vor Problemen und Konflikten mit Schauspielern – vor allem am Set – ein Grund ist, solchen Prozessen aus dem Weg zu gehen.

Wenn es bei Mike am Set zu einem Problem mit den Schauspielern kommt, bittet er die Teammitglieder, alles liegen und stehen zu lassen, um mit den Schauspielern die Szene alleine zu besprechen. Wir drehen erst, wenn wir die Improvisationen beendet und die Szene soweit fixiert haben, dass wir sie nur noch filmen müssen. Das dauert meistens den grössten Teil des Drehtages, und erst danach kommt die Crew, um die Szene zu drehen.

Also ist die Crew während der Inszenierung einer Szene überhaupt nicht am Set?

Sie sehen am Anfang des Drehtages, wie die Szene ungefähr aussehen wird, und wenn wir dann in einem Nebenraum die letzten Details besprechen, setzen sie das Licht und richten das Set fertig ein. Es gibt also keine Menschen, die am Set herumhängen, während du an deiner Szene arbeitest.

Das ist sonst wirklich immer ein Problem, wenn die Crew nur darauf wartet, endlich zu drehen und der Schauspieler von allen Ecken begafft wird.

Mike würde diesen Druck nie zulassen. Solange er nicht zufrieden ist, wird auch nicht gedreht. Es kommt immer wieder vor, dass wir den ganzen Drehtag an der Szene proben und die Crew im Nebenraum wartet und am Ende des Tages, ohne einen Meter gedreht zu haben, wieder nach Hause geht. Wir proben dann weiter, vielleicht bis in die Nacht und länger, bis die Szene eben sitzt. Am nächsten Tag drehen wir sie aber erst, wenn Mike wirklich zufrieden damit ist. Was ich damit sagen will: Wir filmen keine Improvisation ohne Struktur. Was wir filmen, ist das Ergebnis von durch und durch geprobten Szenen. Als Schauspieler bedeutet das, dass der Prozess der Improvisation nie aufhört. Du arbeitetest ständig weiter an deiner Rolle, bis du dich mit Mike auf das beste Resultat einigst. Es gibt also nie einen Dialog, der niedergeschrieben ist, den der Schauspieler zur Vorbereitung lesen könnte. Aber es gibt am Set jemanden, der die Dialoge, die dann wirklich in den Takes gesprochen werden, niederschreibt. Das hilft natürlich, wenn Dinge noch weiter verändert und verbessert werden.

Also zusammengefasst sieht ein Drehtag wie folgt aus: Wir proben alleine am Set, ohne Crew, bis wir einen ungefähren Ablauf der Szene haben. Dann kommt die Crew und sieht sich einen Durchlauf an, um danach das Licht usw. einzurichten. Die Ausstattung wird übrigens schon vor Probenbeginn gemacht. Mike möchte, dass die Gegenstände und Möbel schon zum Spielen da sind und an ihrem Platz stehen. Er verändert sie auch ungern während der Proben und richtet oft seinen Kamerastandpunkt danach aus. Während also das Set zum Drehen fertig gemacht wird, gehen die Schauspieler mit Mike in einen Nebenraum und arbeiten an der Szene weiter, damit beim Drehen absolut klar ist, was sie sagen werden. Nichts wird vor der Kamera improvisiert. Nach dem Wort “Action” weiss ich genau, was ich in der folgenden Szene sagen werde, und also weiss es auch mein Charakter. Das ist ein schwieriger Prozess. Du musst also vom freien Improvisieren während der Proben umschalten auf einen fixierten Text. Für mich ist das aber immer noch einfacher als irgendeinen Text aus einem Drehbuch für meine Figur zu verwenden. Der Text, den ich als Figur in Mikes Film spreche, ist das Resultat eines organischen Prozesses der jeweiligen Rolle, und so ist das Spielen dieses Charakters viel einfacher.

Wie ist die Drehabfolge: immer noch chronologisch, oder dreht ihr den Mastershot zuerst, und dann erst die Nahen?

Wenn der Ablauf und der genaue Inhalt einer Szene einmal festgelegt ist, drehen wir die Szenen wie bei jeder anderen Produktion auch. Vielleicht den Mastershot zuerst, dann Teile der Szene, usw.

Wenn ihr also den Master dreht, folgen darauf Teileinstellungen einer schon angelegten Szene, das heisst, ihr spielt dann exakt immer wieder dasselbe, es gibt dann keine Improvisationen mehr?

Das ist für mich das Schwierigste, aber so ist es. Das ist Mike Leighs Konzept, und anders würde die Arbeit wohl zu kompliziert werden. Wenn wir also ständig weiter improvisieren würden und uns über Dinge nicht gleich einig werden würden, ginge es wohl nicht. Das ist aber eine Frage des Trainings. Du wirst immer besser, je länger der Dreh dauert, und auch das Switchen von der Figur zu dir selbst wird einfacher.

“Naked” könnte man als das Porträt einer Generation bezeichnen, gleichzeitig ist es eine Art “Weltuntergangszenario”. Welchen Anteil haben die Schauspieler am Inhalt der Geschichte? Inwieweit entscheiden sie auch über die “Message” des Films?

Ich denke, die Leute, mit denen Mike Leigh arbeitet, sind schon sehr spezifisch ausgewählt. Vielleicht war es meine Beschreibung eines Bekannten, bei meinem ersten Interview mit Mike Leigh, die ihn davon überzeugte, dass ich in die Welt seines Films passe und dass die Menschen, die ich beschreibe, um meine Figur zu finden, ebenfalls diesem Kosmos irgendwie angehören. Wenn ich von einer Freundin erzählt hätte, die irgendwo Sekretärin ist und fünf Kinder zu Hause hat, wäre das vielleicht nicht die richtige Grundlage für Mike gewesen, eine Figur für diesen Film zu schaffen. Mike macht also eine Art Doppelcasting. Er castet dich zuerst als Person und Schauspieler und dann erst als Charakter, als Figur, von der aus gearbeitet werden kann. Deshalb, glaube ich, passen die Schauspieler sehr gut in seine Filme. Er beeinflusst natürlich während der Probenzeit sehr, in welche Richtung die Figuren gehen sollen und somit auch die Geschichte, aber wir alle hatten schon ein sehr besonderes Gefühl für diesen Film. Wir waren sieben Monate am Stück zusammen daran beschäftigt. Das ist eine lange Zeit. Vier Monate Vorbereitung, drei Monate Drehzeit. Ich glaube, wir hatten nach zwei Monaten Dreh kein Geld mehr und haben dann eine Pause von zwei Wochen gemacht, um einerseits das fehlende Geld aufzubringen und um andererseits weiter zu improvisieren, um das Ende des Films zu entwickeln.

Bei einer so langen Produktionszeit ist es doch sicher schwer, sich für andere Projekte Zeit zu nehmen. Wie sehen eigentlich eure Verträge aus? Steht da dann “Open End”?

Das ist ein Problem, denn es gibt kein definitives Ende für deine Arbeit.

Dass heisst, du kannst eigentlich keine anderen Engagements annehmen.

Wir hatten bei “Career Girls” dieses Problem. Wir hätten überziehen müssen, aber wir konnten nicht, weil eine Schauspielerin bereits ein anderes Engagement hatte. Das hat einen furchtbaren Druck auf die Arbeit ausgelöst. Ich denke, Mike ist immer sehr besorgt, wenn Schauspieler andere Verpflichtungen eingehen, aber es wissen eigentlich nur wenige Leute, was sie in acht Monaten tun werden. Nach “Naked” zum Beispiel habe ich für Monate nicht gearbeitet. Ich hätte es auch nicht geschafft. Es war furchtbar. Ich habe zwei Monate gebraucht, um die Kleider von Sophie abzulegen. Ich habe noch immer eine Jacke von ihr in meinem Kasten hängen.

Ich möchte noch einmal auf die Proben mit Mike Leigh kommen. Du hast erzählt, wie es ist, wenn alles gut funktioniert. Wie sehen Situationen aus, wenn ihr nicht weiterkommt, wenn ihr Probleme habt?

Ich glaube, das ist die halbe Arbeit, Fehler zu machen, um dann genauer den richtigen Weg einzuschlagen. Mike Leigh beobachtet uns sehr genau, und es ist kaum möglich, ihm etwas vorzumachen. Er unterbricht dann, und nachdem du aus deiner Rolle wieder völlig heraus bist, besprichst du mit ihm von einem objektiveren Standpunkt die gerade improvisierte Szene und warum du die Figur nicht halten konntest. “Wann bist du ausgestiegen und warum, und wie könntest du als Figur anders wieder ansetzen”, und dann beginnen wir wieder bei diesem Punkt und machen weiter und schauen, ob es nun besser geht. Das ist ein intelligentes Prinzip. Die Improvisationen gehen nicht immer stundenlang ohne Unterbrechung. Oft kommen wir nur Stück für Stück voran, halten an, diskutieren und analysieren und machen dann wieder weiter. Manche Improvisationen sind besonders spannend, vor allem wenn es um sexuelle Situationen geht. Mike Leigh macht mit uns dann so etwas wie eine “Handimprovisation”. Du sitzt am Boden und gehst in deine Figur hinein – nicht komplett –, du versetzt dich innerlich in den Zustand des Charakters und sitzt der Person deines Begehrens, oder umgekehrt, gegenüber. Du versucht dann, nur mit deinen Händen die Gefühle deiner Figur auszudrücken. Ist deine Figur ein sexuell aggressiver Typ, dann wird es eben so aussehen: (Sie zeigt mit ihren Händen so etwas wie eine Kratz- und Beissattacke). Dabei geht es um eine blosse emotionale Darstellung. Du denkst dabei nicht wirklich nach. Anschliessend gibt es wieder Einzelgespräche mit Mike, und du besprichst die Improvisation. An Mike liegt es dann, die gemeinsame Basis der Improvisation zu finden, mit der die beiden Schauspieler auch einverstanden sind. Es ist oft erstaunlich, wie ähnlich die Erfahrungen sind. Es gibt viele Erlebnisse, wo man mit seinem Partner irgendwie verbunden ist und ohne Sprache kommuniziert. Das finde ich sehr aufregend.

Ihr führt also einen Dialog mit euren Händen, den ihr danach interpretiert?

Das dient dazu, mit deinem Schauspielpartner eine gemeinsame Erfahrung zu machen, um zum Beispiel eine Sexszene vorzubereiten. Aber es muss nicht immer Sex sein, es kann auch ein einfacher Spaziergang sein, weil es ja auch schwer ist, das in einem Raum wirklich zu proben. Natürlich ist das ein schwieriges Unterfangen, aber für logistisch schwierige Szenen durchwegs wirksam. Du hast natürlich nur ein Gefühl, aber immerhin hast du es emotional erlebt, und das gibt dir einen guten Background, um die Szene anzugehen. Wenn ich dann vor der Kamera stehe und die Szene mit Johnny am Grab spiele und ein Problem habe, könnte ich ihn an die Erfahrungen während unserer Handübung erinnern, und wir würden sofort gemeinsam verstehen, wovon ich gerade spreche. Wir haben dadurch beide eine Erinnerung an ein gemeinsames Erlebnis und wissen um die Gefühle und Zustände. Wir schaffen diese künstliche Erinnerung, um sie dann am Set für uns zu verwenden, für den Dialog oder was auch immer. Aber das alles ist natürlich sehr schwer mit Worten zu beschreiben. Mikes Art zu arbeiten ist einfach ein sehr komplexer Prozess.

Zur Erinnerung an die grossartige Schauspielerin Katrin Cartlidge, die am 7.9.2002 im Alter von 41 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben ist. Das Interview führte Antonin Svoboda am 23.7.1998 in London. Bearbeitung: Benjamin Heisenberg.

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