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Interview: Martin Nizara

Revolver: Du bist ein Filmemacher, der sich dem Kreislauf des Speicherns und Abrufens verweigert, indem du Filme machst, die nur einen Augenblick existieren.

Nizara: Ausgangspunkt war eigentlich die Sehnsucht nach Intensivierung. Aufmerksamkeit als Zustand ist das, was mich interessiert. In den 70ern habe ich dann angefangen, mit Filmmaterial zu experimentieren, das nicht – oder genauer gesagt nur sehr kurz – haltbar ist. Die Initialzündung war, wie so oft eigentlich, ein Zufall. Ich habe einen Film gedreht und den dann – im Heimlabor – fehlerhaft entwickelt, nicht lang genug fixiert, und auf diese Weise war dann letzten Endes gar nichts auf dem Material.

Und das hat dich gefreut?

Im Gegenteil, ich habe mich saumässig geärgert, (lacht) weil ja der ganze Aufwand umsonst war – scheinbar. Als Filmkünstler neigt man ja ohnehin dazu, darunter zu leiden, dass das Medium nicht handgreiflich ist. Man gibt sich furchtbar viel Mühe und will im Grunde genommen nur beweisen, wie schlau man ist. Aber dann ist etwas Merkwürdiges eingetreten: Ich habe diesen Phantomfilm, also das, was ich bei der Aufnahme ja sehr genau gesehen habe, präsenter gehabt, als jeden anderen Film davor, obwohl ich die anderen Filme in der Schnittphase und später ja wieder und wieder gesehen habe. Und diese Erfahrung war eigentlich der Anfang.

Warum, meinst du, war das so?

Das habe ich mich eben auch gefragt. Man kennt das ja von den Lieblingsfilmen, die beim ersten Mal „unvergesslich“ sind und bei jedem neuen Wiedersehen blasser werden. Als würde man seine Erinnerung mit einem Echo überschreiben. Man denkt dann gerne, dass man älter geworden ist oder dass man sich getäuscht hat damals. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Ich habe jedenfalls dieses Phänomen „Phantomfilm“ in meinem Kopf herumbewegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Haltbarkeit eigentlich im Weg ist, etwas wirklich wahrzunehmen. Ich meine, Filmmaterial ist immer ein verderbliches Gut, aber wenn etwas eine Generation oder zwei aushält, denken die Leute gerne, dass es ewig hält, was natürlich nicht der Fall ist. Der erste „echte“ Momentfilm war ein Streifen über meine Grossmutter, die kurz nachdem wir sie mit der Kamera besucht haben, gestorben ist. Eine Rolle 16 mm Film, eine durchgehende Einstellung. Es war also ein wirklich unwiederholbares Dokument und schien mir deshalb besonders gut geeignet. Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihr und war irrsinnig traurig, gleichzeitig wollte ich, dass ihre Freunde sie noch einmal ganz aufmerksam ansehen. Ich wollte ihr das zum Geschenk machen, aber vielleicht wollte ich auch einfach ein synchrones Erinnerungsbild finden, um mir den Abschied zu erleichtern. Der Film wurde also vorgeführt vor ungefähr fünfzig Leuten und gleichzeitig mit der Vorführung zerstört. Also die Spule lief durch so eine Art Säurefass, so dass am anderen Ende Blankfilm herauskam. Die Zuschauer waren darüber aufgeklärt; ich habe so getan, als wäre das der letzte Wille meiner Grossmutter – und die Leute haben die Bilder mit einer ungeheuren Aufmerksamkeit angesehen, weil sie wussten, sie würden die Letzten sein, die sie sehen. Und wenn du heute jemanden fragst, beschreiben die diese 8 Minuten, als wenn sie sie gerade erlebt hätten.

Das Experiment war also erfolgreich.

Ja. Auch wenn ein Teil dieser Aufmerksamkeit natürlich den besonderen Umständen geschuldet war.

Andy Warhol hat deine Arbeiten einmal „Konsumfilme“ genannt.

Ich finde diesen Begriff ein bisschen missverständlich. Natürlich, es geht um Verzehr, der Zuschauer verzehrt den Film, aber Konsum ist für mich eher etwas Gedankenloses: Man stopft etwas in sich hinein, ohne darauf zu achten. Und mir geht es ja eigentlich um das Gegenteil. Die Aufzeichnung dient nur dem Zweck der Intensivierung. Das Ziel ist die Verführung zur Aufmerksamkeit, was für mich das grösste Glück ist. Aber ich habe Warhols Ideen viel zu verdanken. Sein „Empire“-Film war ein Meilenstein für mich.

Deine Filme bestehen immer nur aus einzelnen Einstellungen. Warum lehnst du Schnitt ab?

Ich lehne Schnitt nicht ab, ich schneide nur nicht, das ist ein Unterschied. Ich meine, jeder Schnitt zieht Aufmerksamkeit auf sich und unterbricht damit in gewisser Weise autoritär das eigene Zeitmass des Zuschauers. Aber es ist natürlich richtig: Die Montage macht den Film eigentlich aus, da bin ich vollkommen d’accord mit Eisenstein und Konsorten. Deshalb habe ich ja auch aufgehört, meine Sachen Filme zu nennen oder mich einen Filmemacher. Ich bin ja doch eher ein Aufzeichner. Fast schon ein Monotypist. Das ist ein Druckverfahren, bei dem die Druckvorlage im einmaligen Druckvorgang zerstört bzw. verbraucht wird. Man könnte also sagen: Ich bin ein filmischer Monotypist.

Und dein Druckpapier ist der Zuschauer?

(Lacht) So ähnlich.

Passiert es dir nie, dass du denkst: Das ist mir so gut gelungen, das würde ich gerne noch mal zeigen. Oder dass du neugierig bist, wie die Sachen waren, die du früher gemacht hast?

Ich glaube, dass die flüssige, lebendige Erinnerung viel wertvoller ist, als dieses Stapeln von Hardware. Da geht es doch fast immer um Besitz. Das nächste ist dann immer Verteidigung. Besitz und Verteidigung gehören zusammen. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum die Grossen der Filmgeschichte so viel kämpfen mussten. Ich kämpfe nicht für ein „Werk“. Ich atme nur. Das eigentlich ist mein Ideal. Filme als Atemzüge, flüchtig, aber notwendig.

Aber ich zum Beispiel kann all deine Grosstaten nur noch ahnen. Das ist doch schade.

Du musst es dir erzählen lassen. Wenn die Erfahrungen es wert gewesen sind, wird dir jemand davon erzählen.

Ja, aber das ist doch nicht das Gleiche.

Alles was gestern war, ist unwiederbringlich verloren. Niemand wird das je zurückholen können. Man kann das bedauern oder auch nicht. Das übliche Kino ist vielleicht Trauerarbeit – ein Seufzer über das Vergängliche –, während meine Sachen eher Jauchzer sind. Ich glaube, dass die Vergänglichkeit unsere Existenz erst kostbar macht. Deshalb ist mir die Aufmerksamkeit so wichtig. Ein Film kann uns helfen, ganz im Moment zu sein. Das ist meine Hoffnung.

Du sprichst von Atemzügen und Vergänglichkeit, trotzdem gehst du diesen technischen Weg. Du könntest doch auch Theater machen oder etwas Vergleichbares.

Der Gedanke ist nicht abwegig. Aber erstens sind die Dinge, die ich zeigen will, im Theater nicht darstellbar. Dazu sind sie zu subtil und auch zu konkret. Und zweitens ist es ja gerade diese Technik, die uns hilft, genauer zu sehen. Der Film ist eine Sehhilfe. In gewisser Weise ist es obszön, einen Augenblick wiederholbar zu machen. Natürlich ist er nicht wirklich wiederholbar, aber die Illusion ist da. Deshalb ist mir so wichtig, auch das Vergehen zu zeigen. Also klarzumachen: Dieser Moment ist bereits vergangen und nur durch eine technische Illusion noch einmal wiedergekehrt. Deshalb habe ich dann angefangen, den Blankfilm, den gewaschenen Film, im Anschluss vorzuführen.

Wie ein Zauberer, der nachher seinen Trick erklärt.

Wie Film funktioniert, weiss ja im Grunde jeder. Aber wie jedes Ritual verweist es auf einen grösseren Zusammenhang. Und das Kino hat ja eindeutig diese rituelle Funktion. Es ist ein Kult. Wenn man sich einmal bemüht, archäologisch oder ethnologisch auf unsere Zeit zu schauen, dann hat man da all diese Schreine der Unterhaltung, und jeder hat einen kleinen Altar zu Hause. Und der wird dann angebetet. Und da gibt es religiöse und weniger religiöse Völker.

Einer deiner Momentfilme ist so eine Art sexuelle Annäherung an deine damalige Freundin. Die Kamera – wurde mir erzählt – nähert sich in einer 7-Minuten-Einstellung einer nackten Frau und verschwindet schliesslich in ihr. Dringt in sie ein.

Ja.

Findest du das nicht platt?

Wenn man es dir so platt erzählt hat, bin ich natürlich gescheitert. Aber vielleicht – ich meine ein guter Film ist eigentlich immer eine aussersprachliche Erfahrung. Ich würde behaupten, der Film war nicht voyeuristisch oder sexistisch.

Sondern?

Ja, ich meine, wenn man hört: „Dringt in sie ein, nackte Frau …“ – das ist so anonym. Aber gerade das war es nicht. In diesem Raum waren nur ich, die Kamera und eine Frau, die ich geliebt habe und die mich geliebt hat. Das ist das Gegenteil von Pornografie. Dass diese Einstellung so enden würde, war zu keinem Zeitpunkt absehbar, sonst wäre es wirklich abgeschmackt gewesen. Übrigens auch, wenn man den Film noch einmal gezeigt hätte: „Komm, wir schauen uns den Film an, in dem die Kamera in einer Vagina verschwindet.“ Schrecklich.

Ja, aber was geht uns das an? Welche Frau will, dass ihr ein ganzes Kino in den Schoss schaut?

(Lacht) Natürlich haben wir etwas von uns preisgegeben. Aber doch nicht mit der Absicht der billigen Provokation, sondern um einen Moment einzufangen, der über uns hinausweist. Es geht ja immer darum, etwas Allgemeines im Speziellen zu gestalten. Wenn es nur privat gewesen wäre, hätte ich es nie gezeigt.

Normalerweise ist es ja so, dass sich das Publikum seinen Film aussucht, indem es zum Beispiel nicht in den neuen „Star Wars“ geht, sondern in „Mulholland Drive“. Bei dir ist das ganz anders, du suchst dir dein Publikum selbst.

Da meine Filme ihre Vorführung ja gewissermassen nicht überleben, kann jeder Film von maximal 500 oder 600 Leuten gesehen werden, je nach Grösse des Kinos. Das heisst, es geht ohnehin nicht um Masse. Und da ich nicht erwarten kann, dass ein „Star Wars“-Publikum sich ohne weiteres auf so eine Sache einlässt, versuche ich eben, Leute zu finden, die mit dieser Erfahrung auch etwas anfangen können. Und die lade ich dann ein zu kommen.

Kommt da dann die Avantgarde-Szene, oder wie muss man sich das vorstellen?

Sehr gemischt. Das hängt natürlich auch vom Film ab. Bestimmte Sachen zeige ich lieber einer Schulklasse als Kollegen. Aber ich habe eigentlich immer versucht, das richtige Publikum zu finden.

Du hast seit 5 Jahren keinen Film mehr gemacht. Gehen dir die Ideen aus?

Man darf sich nicht zum Sklaven seiner Entdeckungen machen, und seien sie auch noch so schön. Mich interessieren zur Zeit andere Sachen. Und ich glaube, jedes Artikulationsbedürfnis sucht sich das geeignete Medium.

Was hältst du von Video?

Film liegt mir näher, ganz einfach weil es das transparentere Medium ist. Man versteht es leichter: Lichtempfindliche Emulsion auf einer perforierten Spule. Das sind Sachen, die wir ungefähr auch aus anderen Lebensbereichen kennen. Bei Video ist das anders. Halbbilder, Zeilen, jede Menge Elektronik, metallbeschichtete Plastikbänder, die über ihren Inhalt nichts verraten. Unsinnlich für mich. Ich komme aus einer Generation, der man noch beigebracht hat, dass es einen Zusammenhang von Innen und Aussen, von Form und Funktion geben muss. Dass man einer Form ansehe, ob sie etwas taugt. Die Videotechnologie ist Teil der Black-Boxisierung der Welt. Mysteriöse Kisten, die nicht erkennen lassen, was sie können – die nicht „begriffen“, sondern „bedient“ werden wollen. Aber das ist jetzt möglicherweise sentimentales Geschwätz.

Das Interview führte Yvonne Nitzer am 19.07.02 in Berlin. Bearbeitung: Yvonne Nitzer.

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