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Die Methode Seidl

Christoph Hochhäusler: Wie entsteht ein Film von Ulrich Seidl?

Ulrich Seidl: Ich führe immer Buch über das, was ich erlebe und sehe. In meinem Büro zuhause stapeln sich die Aufzeichnungen. Für „Hundstage” habe ich über viele Jahre hinweg Material gesammelt und irgendwann war es dann Zeit, einen Film daraus zu machen. Also habe ich die Notizen hervorgekramt und ein Drehbuch daraus gemacht.

Hochhäusler: Die Figuren in „Hundstage” – das sind Leute, die sie getroffen haben?

Seidl: Alle Figuren basieren auf Menschen, die ich irgendwann einmal kennen gelernt habe. Das war sozusagen die Grundlage, um ein Drehbuch zu schreiben. Wobei es natürlich so ist, dass die Geschichten, die in „Hundstage” erzählt werden, fiktiv sind. Im Laufe des Schreibens kommt es einfach zu Dingen, die in dem Sinne nicht mehr „wahr” sind.

Hochhäusler: Was hält das gesammelte Material zusammen?

Seidl: Für „Hundstage” hat es drei Klammern gegeben. Einmal die Hitze, die Atmosphäre der heißesten Tage des Jahres. Zweitens der Ort, diese anonymen Einfamilienhaussiedlungen, die es inzwischen überall in der westlichen Welt gibt. Und das Dritte war die Zeit des Wochenendes. Überhaupt war die erste Idee, Geschichten zu erzählen, die an einem Wochenende spielen, in der „Freizeit”. Der Arbeit enthoben wissen die meisten Menschen nicht, was sie tun sollen. Dann brechen die Konflikte auf. Laut Statistik finden die meisten Selbstmorde an Sonn- und Feiertagen statt. Das war für mich eine gute Voraussetzung. Ich wollte also einen Film machen, der mit einem „Hinaus ins Wochenende!” beginnt und mit der Rückkehr in die Stadt, ins normale Leben, endet.

Hochhäusler: Aber die Geschichten sind so eigensinnig, die sträuben sich gegen diese Ordnung…

Seidl: Ich habe die Geschichten linear geschrieben, eine nach der anderen, ohne sie zu vernetzen. Das wäre zu kompliziert gewesen. Zuerst habe ich es versucht, aber dann schnell gemerkt, dass es nicht so funktioniert, wie ich mir das vorstelle. Erst im Schnitt habe ich dann ausprobiert, ob man die Geschichten zusammenfügen kann und wenn, in welcher Reihenfolge. Aber das war wirklich offen; man hätte den Film auch episodenhaft schneiden können.

Nicolas Wackerbarth: Wenn man versucht, den Film nach zu erzählen, kommt man eigentlich nur auf Situationen und Figuren…

Seidl: Der Ist-Zustand ist bei mir das Wichtige, nicht der Handlungsablauf. Weil man aber so geschult ist, immer Handlung erzählen zu wollen, hat es auch in meinem Drehbuch viel mehr Handlung gegeben. Das ist dann im Schnitt rausgeflogen. Das erste, was rausfliegt, ist der Plot. Für die Episode mit den zwei jungen Leuten zum Beispiel – Claudia, Mario und das Auto – gab es einen Schluss, bei dem Mario mit dem Auto umkommt, und Claudia dann im Fernsehen sieht, wie darüber berichtet wird. Das haben wir alles brav gedreht. Im Vergleich zu den anderen Dingen im Film war es aber ein Fremdkörper, weil es zu viel Fiktion war. Die Menschen, die in dieser Atmosphäre und Nachbarschaft zusammen sind, die brauchen keine Handlungsverbindung, weil es für den Zuschauer sowieso klar ist, dass die im selben Bereich wohnen und miteinander zu tun haben.

Hochhäusler: Wie finanziert man ein Drehbuch, in dem keine Dialoge stehen?

Seidl: Indem man Seidl heißt. Das ist leider die Wahrheit. Würde ich als Unbekannter so ein Drehbuch einreichen, hätte ich keine Chance. Mir ist auch vor ein paar Jahren von Freunden und von Leuten, die in der Kommission saßen, gesagt worden, dass es Probleme geben könnte mit einem Drehbuch ohne Dialoge. Ich habe es einfach gemacht und es hat nie jemand gesagt: Da fehlt etwas.

Hochhäusler: Dieser Status ist hart errungen…

Seidl: Ich habe angefangen mit „Good News”, das war mein erster Kinofilm, der nicht sehr viel gekostet hat. Ich wollte Kinofilme machen, und für mich war es nicht so wichtig, ob das Etikett jetzt Dokumentarfilm oder Spielfilm lautet. Ich wollte einfach das machen, was mir wichtig war, meiner Vision folgen. Wenn man Dokumentarfilme macht, hat man viel größere Freiheiten als im Spielfilm. Man gibt ein Konzept ab, in dem der Inhalt beschrieben wird und wenn der Film finanziert ist, kann man eigentlich in sehr großer Freiheit arbeiten, solange man den finanziellen Rahmen nicht sprengt. Ich habe bei „Good News” über ein Jahr lang gedreht und dann ein halbes Jahr geschnitten. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die ich mir nehmen wollte. Das ist natürlich ein großer Unterschied zu einem Spielfilm. Wenn Sie ein Drehbuch einreichen, wird schon am Skript herumgemeckert, und man muss in den meisten Fällen gewisse Dinge ändern. Oft liegen dann zwei bis drei Jahre zwischen der Entstehung des Buches und dem eigentlichen Dreh. Ich habe oft erlebt, dass die Leute keinen Biss mehr hatten, den Film zu drehen, weil entweder so viel Zeit vergangen ist oder weil das Buch nach all den Änderungen nicht mehr ihr eigenes war. Und dann unterliegt man auch noch viel größeren produktionstechnischen Zwängen. Pro Drehtag muss man so und so viel Drehbuchseiten drehen, und das muss eingehalten werden. Da haben Sie überhaupt keinen Spielraum. Wenn etwas schief geht an einem Drehtag, hat man Pech gehabt. Wenn man Glück hat, bekommt man einen oder zwei Drehtage am Schluss dazu, um Misslungenes wiederholen können. Ich habe mir die Freiheit geschaffen, so lange drehen zu können, bis die Sachen funktionieren, bis ich zufrieden bin. Wenn es sein muss, noch mal und noch mal. Ich habe mein Budget so aufgeteilt, dass ich sehr wenig Kosten für Technik habe. Dafür brauche ich sehr viel Material, das kostet mehr, aber ich habe ein ganz kleines Team, was wiederum wenig kostet.

Wackerbarth: Wie viele Leute sind das? Wie viele waren es bei „Hundstage” zum Beispiel?

Seidl: Bei „Hundstage” war das Team natürlich größer, da waren es ungefähr zwanzig Leute, bei den anderen Filmen fünf bis sieben. Wenn sich die Dinge an einem Drehtag nicht fügen, dann geht bei einem kleinen Team nur wenig Geld verloren. Wenn ich einen Film zu drehen beginne, weiß ich schon, dass das Material der ersten Tage sicher nicht zu gebrauchen ist. Ich drehe das dann im Laufe der Zeit nach. Diese Produktionsbedingungen habe ich mir mit meinem ersten Film festgeschrieben. Der erste Film war ein Erfolg, und dadurch wusste jeder, der mit mir produzieren wird, dass ich es bei meinem nächsten Film wieder so machen werde. Damit war das erledigt und ich musste später nicht mehr grundsätzlich darum kämpfen.

Hochhäusler: Es gibt also einen drehbuchähnlichen Text, die Finanzierung steht, und was kommt dann?

Seidl: Nach der Finanzierung schmeiße ich das Konzept weg und fange mehr oder weniger wieder von Vorne an. Zu allererst suche ich Darsteller – das ist eigentlich der wichtigste Schritt.

Wackerbarth: Bei „Hundstage” haben Sie Laien und Schauspieler besetzt. Inwiefern machen Sie da Unterschiede? Wo liegen für sie die Stärken der Laien, wo die der Schauspieler?

Seidl: Ich mache keinen Unterschied zwischen Schauspielern und Laien. Meine Methode zu inszenieren ist dieselbe. Ich hab ja mit Laien jahrelange sehr gute Erfahrungen gemacht, weil sie in der Regel viel authentischer agieren als Schauspieler. Bei „Hundstage” wollte ich aber einen Schritt weiter gehen und ganz bewusst mit Schauspielern arbeiten; dabei war nicht von vornherein klar, welche Rolle mit Schauspielern und welche mit Laien besetzt werden soll. Wir haben auch in beiden Richtungen gesucht. Das Casting hat dann entsprechend lange gedauert.

Wackerbarth: Vielleicht könntest Du, Vivian, Dein Casting für den Film „Models” schildern? Wie war das, als Du Ulrich Seidl zum ersten Mal getroffen hast?

Vivian Bartsch: Als ich den Ulrich das erste Mal gesehen habe, hatte ich Angst… Er hatte einen langen schwarzen Mantel an und hat absolut nichts gesprochen. (lacht) Dann haben wir drei Tage oder so einen Probedreh gemacht…

Seidl: Das war schon nach dem Casting. Ich wollte einfach sehen, wie Ihr miteinander sprechen könnt. Ich habe zwei Mädels zusammengesetzt, und die mussten sich unterhalten über irgendein Thema. Ich war gar nicht vorhanden. Das war also kein Interview, sondern eher eine Spielfilmszene: Zwei Menschen unterhalten sich.

Hochhäusler: Mussten die Leute aus dem Milieu kommen, das da beschrieben wird?

Seidl: Ja. Ich habe nicht nach Schauspielerinnen gesucht, sondern nach Models. Das war in diesem Fall relativ einfach, weil wir Agenturen beschäftigt haben, die uns dann eine Auswahl von Models aus ihrer Kartei zur Verfügung gestellt haben.

Wackerbarth: Gedreht habt ihr in der Wohnung von Vivians damaligem Freund Werner. Was muss man tun, damit jemand bereit ist, seinen privaten Raum zur Verfügung zu stellen?

Seidl: Die Methode ist einfach. Man braucht eine sehr, sehr lange Vorbereitungszeit. Und in dieser Vorbereitungszeit lernt man die Menschen kennen. Ich lerne sie kennen, sie lernen mich kennen. Es funktioniert nicht so sehr über das Proben von Szenen, sondern es funktioniert eher im emotionalen Bereich, dass man sich klarmacht, was man eigentlich möchte. Ich versuche den Darstellern klarzumachen, was der Film eigentlich soll und welche Rolle sie dabei spielen. Wenn man sich da versteht, dann sind beim Drehen viele Dinge ausgeräumt.

Maria Hofstätter: Wir haben ganz am Anfang, 1990 glaube ich, eine kurze Arbeit miteinander gemacht, und uns dann immer mal wieder getroffen. Als ich dann die Rolle der Anna übernehmen sollte, (die Autostopperin in „Hundstage”), habe ich mich einerseits sehr gefreut, andererseits hatte ich aber auch ziemlich viel Angst davor. Aus zwei Gründen: Erstens, dass ich womöglich gerade als Schauspielerin bei weitem nicht so gut bin wie die Laien. Ich kannte ja die Filme von Ullrich und wusste, wie authentisch die Laiendarsteller bei ihm sind. Die zweite Angst war bezüglich dieser Rolle. Wenn man leicht behinderte Leute spielt – und diese Autostopperin ist ja etwas eigen – und da nicht genau die Nuance erwischt, kann das ganz, ganz peinlich werden. Ich war deswegen sehr froh, dass ich eine sehr lange Zeit hatte, um mich vorzubereiten.

Wackerbarth: Wie sah diese Vorbereitung aus?

Hofstätter: Ich hatte über ein Jahr Zeit. Ich bin in Behinderten-WGs gegangen und hab dort Vertrauen aufgebaut mit Leuten, die dort wohnen. Was ich dort erlebt habe, das hab ich immer wieder mit Ulrich besprochen. Ich habe Autofahrten mit Statisten gemacht und jemand hat hinten mit einer Videokamera mitgefilmt. Ulrich hat sich dann das Material angeschaut, um zu sehen, ob das funktioniert oder eben nicht. Ich war mit dem Casting Director auf normalen Supermarkt-Parkplätzen unterwegs und habe dort die Anna gespielt. Ich habe versucht, Leuten zu helfen, wenn sie ihre Einkaufswagen voll hatten, das ins Auto zu räumen oder irgendwas. Einfach um das zu testen, wie die reagieren, ob sie mir das überhaupt glauben. Es war für mich wichtig zu wissen, ob das, was ich da mache, glaubwürdig ist. Das war sehr gut, weil man nur so einen Charakter in Fleisch und Blut bekommt. Am Set konnte ich dann relativ frei agieren.

Seidl: Zweierlei hat es gegeben für die Maria. Das eine war, was im Drehbuch gestanden hat, diese Werbeslogans und die Jingles. Das haben wir gesucht und die Maria hat das dann auswendig gelernt. Wir mussten auch die Rechte abklären. Das andere, der Duktus der Sprache, die Körperlichkeit, das hat sie sich selber angelernt, dieses Gehetzte und dieses Jemanden-gar-nicht-zu-Wort-kommen-lassen. Das ist von ihr gekommen. Es ist immer eine Mischung von Dingen, die im Drehbuch stehen und Dingen, die man erfährt, indem man sich auf die Rolle vorbereitet.

Wackerbarth: Beim Dreh selber… Die Leute, die da im Auto sitzen, wussten die, was ihnen blüht?

Seidl: Das waren bestellte Statisten mit ihrem eigenen Auto (Gelächter). Die wussten nur, dass sie eine Autostopperin mitnehmen. Da hat man dann die Maria ins Auto gesetzt und den Kameramann und den Tonmann und mich auch noch dazu. Der Auftrag war eigentlich ganz einfach: Sie sollten einfach so reagieren, wie sie das im wirklichen Leben machen würden.

Hofstätter: Ich hatte aber einen anderen Auftrag: Die Leute zu durchschauen, ihre wunden Punkte zu finden.

Seidl: Natürlich ging es darum, einen Konflikt zu erzeugen in der Szene! Ich hab die Leute, die im Auto saßen, gekannt, habe so ein bisschen gefragt, damit ich schon weiß, wen ich da vor mir habe. Das habe ich dann der Maria erzählt, damit sie darauf vorbereitet ist, wie man hier einen Konflikt erzeugen kann.

Wackerbarth: Wie reduziert man das dann zu einer Szene?

Seidl: Das funktioniert über den Schnitt. Wir haben natürlich Schnittmaterial dazu gedreht. Zuerst die Hauptszene, dann eine Kameraposition von vorne und hinten, und einen Kamerablick aus dem Fenster, um das schneiden zu können.

Wackerbarth: Mit wie vielen Statisten habt ihr gedreht?

Seidl: Das weiß ich nicht. Ich habe insgesamt siebzig Stunden Material gedreht, an die Zahl der Statisten kann ich mich heute nicht mehr erinnern.

Hochhäusler: Georg, vielleicht kannst Du erzählen, wie das bei Dir in „Hundstage” war. Wieviel Zeit hattet ihr bei dem Trinkgelage in der Wohnung?

Georg Friedrich: Es war nie zeitlich begrenzt. Wir haben oft acht bis zehn Minuten durchgedreht, eine ganze Improvisation. Wichtig war, dass wir chronologisch gedreht haben, was wirklich einen Riesenunterschied macht. Man weiß nicht, wie groß der Unterscheid ist, wenn man das noch nie gemacht hat.

Wackerbarth: Und wie war das mit Viktor? Wie hast Du ihn kennen gelernt, wie habt ihr euch vorbereitet?

Friedrich: Viktor ist wirklich Swingerclubbesitzer und der Figur, die er im Film darstellt, sehr ähnlich. Wir haben uns in seinem Stammlokal kennen gelernt, woanders wollte er nicht hingehen. Das Stammlokal ist gleich neben seiner Wohnung und neben seinem Arbeitsplatz, also der geht überhaupt nicht viel woanders hin. (Gelächter) Wir haben viel improvisiert, und das auf Video aufgenommen, damit sich der Wiggerl an die Kamera gewöhnen kann und weiß, was man tun darf und was man nicht tun soll.

Seidl: Es war so, dass ich zuerst den Wiggerl kennen gelernt habe und dann den Georg. Wir haben uns völlig unabhängig voneinander vorbereitet, haben über die Dinge gesprochen. Irgendwann war der Zeitpunkt, wo ich dem Georg gesagt habe, Du musst jetzt den Wiggerl kennen lernen. Ich habe die beiden dann alleine losgeschickt. Es war mir wichtig, dass da kein dritter dabei war, damit die beiden ihre Nächte allein verbringen, ich weiß nicht wo…

Wackerbarth: Und den Wiggerl haben sie wo kennen gelernt?

Seidl: Im Swingerclub.

Wackerbarth: Also wirklich physisches Kino. Ich nehme an, auch der Schweiß war echt?

Friedrich: Wir haben eingeheizt. In der Wohnung hat es wirklich gute 30 Grad gehabt. Und wir haben auch getrunken. Alkohol. (Gelächter)

Hochhäusler: Aber die Grenze, die sich da verschiebt, dass man diese sichere, abgegrenzte Fiktion verlässt… Wie war das für Dich?

Friedrich: Na ja, wenn man seine sicheren Pfade verlässt, dann wird es überhaupt erst interessant.

Hofstätter: Genau.

Friedrich: Dann kann es ziemlich in die Hosen gehen, aber es kann auch etwas Großartiges entstehen dabei.

Seidl: Schauspieler, die nicht dazu bereit sind, das bekannte Terrain zu verlassen, die kommen für diese Art der Inszenierung und Improvisation überhaupt nicht in Frage. Leider ist ein Großteil der Schauspieler so geartet, dass sie das nicht wollen, dass sie das nicht an sich heranlassen. Sie sind nicht bereit, etwas aus ihrem Innersten, aus ihrem Leben, ihrem eigenen Menschsein herzugeben.

Hochhäusler: Welche Sachen haben sie Schauspieler eingebracht? In der erwähnten Szene zum Beispiel?

Seidl: Die Idee mit der Bundeshymne, das war Georgs Idee. Die Kerze im Hintern war auch Georgs Idee. (Gelächter) Der Wiggerl fand das überhaupt nicht gut. (Gelächter) Wirklich. Das war ganz schrecklich.

Friedrich: An dem Tag war sein Maß, sich zu wehren, aber schon erschöpft. (Gelächter) Im Buch war es bei unserer Szene eigentlich ein Messer und kein Revolver. Aber er wollte sich mit einem Messer nicht bedrohen lassen, weil er kein Warmer ist (Slangwort für Homosexueller, Anm. d. Red.). (Gelächter auf der Bühne) Darüber wurde zwei Stunden diskutiert. Da wusste er, jetzt ist das Maß voll.

Seidl: Für die Figur war Messer geschrieben, weil das zu ihm besser gepasst hätte. Für mich war er einfach keiner, der einen Revolver einstecken hat. Aber bei den ersten Takes, die wir mit dem Messer gedreht haben, hat Georg einmal in seiner Wut das Messer durch den Raum geschmissen, nur knapp am Wiggerl vorbei. Ab dem Moment hat der Wiggerl gesagt, er hört auf zu drehen, wenn das Messer nicht wegkommt. (Gelächter) Und das war sehr ernst. Dann musste ich auf den Revolver umschwenken. Hinzu kommt, dass der Wiggerl ja als Mensch ein gewisses Image zu vertreten hat von seinem Beruf her und so weiter, und dieser Part des Opfers in seiner Rolle, den wollte er überhaupt nicht spielen, es war ihm höchst unangenehm. Zum Glück hat er mir das Ehrenwort gegeben, dass er diese Rolle spielen und auch zu Ende führen wird. Es gibt so etwas wie ein Zuhälterehrenwort und das hält man auch.

Publikum: Woher kam seine Motivation grundsätzlich?

Seidl: Na ja, der Wiggerl ist ein sehr intelligenter Mensch, sehr versoffen, aber sprachbegabt. Das Künstlerische interessiert ihn. Er hat mit Schauspielerei begonnen und mit Live-Pornodarstellerei auf der Bühne aufgehört, das war seine kurze Laufbahn. Mir hat das irgendwie gefallen, was er darstellt. Der hat immer viel dicke Geldscheine einstecken gehabt und besitzt einen Wagenpark von zehn Autos, amerikanischen Schlitten…

Friedrich: …hat aber keinen Führerschein. (Gelächter)

Seidl: Das war so eine gegenseitige Beziehung. Er war auch von mir angetan.

Hochhäusler: Die Schauspieler bringen beim Drehen sehr viel von sich ein. Werden sie auch im Schnitt mit einbezogen?

Seidl: Ich kann gleich sagen, ich würde das nie machen, jemanden am Schnitt zu beteiligen. Man kann nicht Filme drehen und nachher fragen: Passt es Dir so, oder möchtest Du es ein bisschen anders haben? (Gelächter)

Wackerbarth: Ein Laie weiß unter Umständen nicht genau, was er von sich zeigt.

Seidl: Alle meine Darsteller wollen beim nächsten Film wieder mitmachen. Sie sehen sich so dargestellt, wie sie sind, und sie haben damit kein Problem. Ich halte es für einen großen Irrtum, zu glauben, Laien wüssten überhaupt nichts über ihre Wirkung… Als wären sie ein bisschen dumm, im Gegensatz zu den Schauspielern, die alles wissen. Ich glaube, dass jeder Mensch sehr genau weiß, was es bedeutet, etwas für die Kamera zu machen, was immer er macht. Er ist bereit, etwas zu zeigen und muss es mir überlassen, daraus etwas zu machen. Es ist ja nicht so, dass man im permanenten Misstrauen arbeitet, dass ich irgendjemanden dazu überreden oder überlisten müsste, um irgendetwas zu bekommen. Sondern ich kann ja nur von den Leuten das Beste bekommen, wenn ich ihnen Vertrauen gebe und wenn sie das, was ich von ihnen will, auch sind. Ich bekomme nichts, was sie nicht sind. Man kann aus ihnen nichts herausholen, was sie nicht wirklich sind. Oder wenn, würde man sofort merken, dass da etwas nicht stimmt. Das Kameraauge ist unbarmherzig.

Wackerbarth: Wie viele Drehtage hattet ihr bei „Hundstage”?

Seidl: Wir haben in einem Zeitraum von einem halben Jahr gedreht, von Juni bis Oktober. Und zwar chronologisch, das ist wirklich ganz, ganz wichtig. Wir haben begonnen mit der Episode A, dafür haben wir ungefähr zwei Wochen gebraucht. Dann hat es eine Pause von zwei, drei Wochen gegeben, um die nächste Episode vorzubereiten, und dann haben wir die nächste gedreht. Allerdings war es so, dass wir nur bei Sonnenschein drehen konnten. Das war das Konzept des Kameramanns, nur bei wirklich starkem Sonnenlicht zu drehen, am besten über die Mittagszeit. Das hatte die Konsequenz, dass wir die ganze Zeit auf Abruf bereit sein mussten. Diese Wartezeit kann man natürlich nicht bezahlen. Das geht nur, wenn die Leute freiwillig mitmachen, wenn sie damit einverstanden sind.

Hochhäusler: Wie entsteht der Seidl-Look? Wie wird er geplant?

Seidl: Das ist einfach mein Blick, wie ich die Welt sehe oder wie ich durch die Kamera schaue. Da gibt es keinen Plan. Aber es gibt eine Entwicklung hin zu dieser Ästhetik. Wenn man sich meinen ersten Film „Einsvierzig” heute anschaut, erkennt man schon gewisse Tendenzen, die dann weiterentwickelt wurden. Bei späteren Filmen war es oft so, dass der Kameramann schon bei Betreten der Wohnung ganz genau wusste, wo die Kamera stehen soll, weil ihm meine Bildsprache so vertraut war, dass es eigentlich nur einen Kamerastandpunkt geben konnte.

Hochhäusler: Gibt es so etwas wie einen typischen Drehtag?

Hofstätter: Ich habe immer gewartet, dass man mich anruft, ob heute gedreht wird. Dann bin ich schon im Kostüm zum Ort gefahren. Ich hatte das bei mir zuhause und habe mich immer selber hergerichtet.

Seidl:  Das war das Besondere, die Maria ist in der Rolle ans Set gekommen, was oft zu einer völligen Verwirrung geführt hat (Gelächter), weil selbst Mitarbeiter oft nicht gewusst haben, wer die ist. Für sie war es aber, glaube ich, das Beste.

Hofstätter: Es war für mich gut, und es war auch für die gut, mit denen ich gearbeitet habe. Die Begegnung war geplant, aber sie war gleichzeitig authentisch. Ich musste in der Rolle bleiben, und die waren mit mir konfrontiert. In dem Sinne ist dann natürlich vorher nicht geprobt worden, sondern wenn es geheißen hat, da ist jetzt eine Autofahrt, dann war ich eben da, die Person war da, dann sind noch technische Vorbereitungen gemacht worden, und dann ist man losgefahren. Es gab in dem Sinn keine genauen Dispos, sondern man reagierte immer je nach Situation.

Wackerbarth: Georg, habt ihr eure Szenen geprobt?

Friedrich: Nein, geprobt haben wir nicht. Das wäre auch zu anstrengend. (Gelächter)

Hochhäusler: Vivian, wie war das bei Dir?

Bartsch: Wir haben sehr viel gesprochen und vorher geprobt. Manchmal war es aber auch ein Sprung ins kalte Wasser. Mit Peter Baumann, dem Fotografen, war es teilweise schon gefährlich, weil der teilweise betrunken war.

Seidl: Teilweise ist gut.

Bartsch: Also eigentlich immer. Der hat uns immer Backpfeifen angedroht. Mehr oder weniger Dir und mir.

Wackerbarth: Und wie behält der Regisseur die Kontrolle? Wann schreiten Sie ein?

Bartsch: Gar nicht. Fast. (lacht) Na ja, ich hab mit dem Feuer gespielt und ich wusste es. Es war ein Kick.

Seidl: Das Einschreiten ist eine Sache des Gefühls, das kann man nicht erklären. Aber ich bin sicher einer, der sehr spät einschreitet. Die Verantwortung liegt letzten Endes bei mir, das ist mir klar. Das muss man in der Situation entscheiden, aber es gibt nicht a priori eine Grenze. Es ist noch nie schief gegangen.

Hochhäusler: Kommen wir zum Schnitt. Sind Sie da dabei? Oder lassen Sie erstmal einen Cutter machen?

Seidl: Bei mir ist es so, dass mit dem Schnitt alles noch einmal von vorne beginnt. Bei „Hundstage” habe ich ungefähr siebzig Stunden Material gedreht, nicht wissend, wie die Struktur des Films ausschauen wird, nicht wissend, wie die Chronologie sein wird, nicht wissend, ob man das wird vernetzen können. Der erste Schritt war, Episode für Episode zu schneiden. Das waren dann alles in allem acht Stunden Film. Ich habe mich dann sukzessive immer wieder in den Prozess begeben, um das Material zu reduzieren und zu vernetzen. Es geht nicht darum, was irgendwann einmal im Drehbuch gestanden hat. Das ist im Gegenteil oft hinderlich bei der Beurteilung des eigenen Materials. Das, was man einmal geschrieben hat, zählt nicht mehr im Schnitt. Ich setze aus dem Material einen Film zusammen und dazu brauche ich kein Drehbuch.

Publikum: Was wäre passiert, wenn die Produktion irgendwann nicht mehr mitgespielt hätte bei Ihren Drehmethoden? Wo war das Limit? Was wäre passiert, wenn es denen zu teuer geworden wäre?

Seidl: Es ist einfach so, dass der Regisseur, solange er dreht, das Sagen hat. Solange Sie den Film drehen, sind Sie dem Produzenten überlegen. Der Produzent wird keinen Film abbrechen, der schon so und so viel gekostet hat, weil er einen fertigen Film abliefern muss. Das würde ihn sehr, sehr viel Geld kosten. Insofern würde er mich während der Dreharbeiten nicht entlassen können. Das andere ist: Es gibt ein bestimmtes Budget, und das wird natürlich kalkuliert. Bei „Hundstage” hatte ich zum Beispiel sechzig Drehtage und zehn kamen dann noch hinzu. In einem gewissen Rahmen kann man überschreiten, aber nur in einem, der den Produzenten nicht wirklich arm macht. Meine Filme kosten im Übrigen nicht mehr als andere.

Hochhäusler: Es geht hier also nicht um ein System des Exzesses, sondern es ist mit viel Erfahrung darauf abgestimmt, dass man im gleichen Kostenrahmen freier arbeitet. Das bedeutet dann zum Beispiel eben, dass es keine Maske gibt und so weiter, also dass es sehr viel weniger Positionen gibt.

Seidl: Fragen Sie einmal, was die Schauspieler verdient haben bei „Hundstage”. Auch daran liegt es natürlich, dass man so einen Film nur machen kann mit dem Einverständnis von Schauspielern. Mit den Gagen, die normalerweise gezahlt werden, ginge es nicht.

Publikum: Arbeiten Sie immer mit dem gleichen Produzenten?

Seidl: Nein, das tragische ist: Ich habe in Österreich schon alle Produzenten ausprobiert und bin bei niemandem geblieben. Jetzt habe ich selber eine Produktionsfirma gegründet. In Zukunft werde ich selber produzieren.

Das Gespräch führten Nicolas Wackerbarth und Christoph Hochhäusler im Rahmen von Revolver Live! am 14.12.2003 in Berlin. Transkript: Jens Börner. Bearbeitung: Jens Börner, Nicolas Wackerbarth. Danke: Alexandra Engel / Volksbühne Films, Barbara Schindler / Praterfernsehen.

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