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Interview Eric Rohmer

Revolver: Bereiten Sie ihre Drehbücher immer noch so vor, wie Sie das anlässlich von „Pauline am Strand“ mal geschildert haben, dass Sie lange Interviews mitschneiden und danach die Dialoge gestalten?

Eric Rohmer: Ich arbeite allein und habe keinen Drehbuchautor. In gewisser Hinsicht ersetzen mir meine Darsteller diese Rolle. Aber sie sind nicht wirklich meine Drehbuchautoren. Ich stelle ihnen Fragen, die ich anschließend normalerweise nicht verwende. Manchmal geht das allerdings so weit, dass sie mir tatsächlich Dialogsätze liefern. Zum Beispiel für „Die Sammlerin“ habe ich Tonbandaufnahmen gemacht und den Aufnahmen Dialoge entnommen. Bei den „Moralischen Erzählungen“ habe ich dieses Verfahren ausgiebig angewendet und fast bei allen Filmen der „Komödien und Sprichwörter“. Manchmal hat sich der Charakter einer Figur durch die Diskussionen mit den Schauspielern angereichert oder verfeinert. Es gibt Schauspieler, denen ihre Figuren sehr stark ähneln. Es gibt andere, die keinerlei Anteil an der Kreation ihrer Figur haben. Im Allgemeinen sind die weiblichen Darsteller näher an ihren Figuren als die männlichen. Oft arbeite ich die Dialoge mit den weiblichen Darstellern zusammen aus und gebe den männlichen die Texte vor. Bei „Frühlingserzählung“ habe ich die Hauptdarstellerin gefragt, was sie sein wollte. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie als Lehrerin sähe und habe sie nach dem Fach gefragt. Sie hat gesagt „Philosophielehrerin“. Das blieb dann auch so und war wirklich nicht meine Idee. Was sie über Philosophie sagt, habe ich ihr allerdings in den Mund gelegt. In „Sommererzählung“ habe ich einen jungen Schauspieler genommen, der gerne Gitarre spielen wollte. Ich habe das ausgenutzt und einen jungen Amateurmusiker aus ihm gemacht. In „Herbstgeschichte“ baut eine der Schauspielerinnen im Film Wein an. Gut, sie macht das normalerweise nicht, aber ich habe da ein Versuchskaninchen genommen: Ich habe denjenigen, der uns seinen Weinberg zum Drehen überlassen hat, interviewt, mitgeschrieben und dann wiedergegeben, was er gesagt hat, weil ich keine Ahnung vom Weinanbau habe.

Im „Grünen Leuchten“ bin ich noch einen Schritt weiter gegangen. Die Dialoge sind vor der Kamera entwickelt worden. Es gab keinen fertigen Text. Die Darsteller haben improvisiert. Ich bin sehr zufrieden mit dieser Erfahrung. Es gibt tausend Möglichkeiten, unfreiwillige Mitarbeiter für einen Film zu finden, und ich denke, das ist wesentlich spannender, als einen Drehbuchautor zu beauftragen (lacht).

Immer wieder hat man Ihnen vorgeworfen, in Ihren Filmen würde zu viel geredet. In ihrem Artikel über Mankiewicz, einem Filmemacher, der wie sie ein Spezialist des geschliffenen Dialogs war, sagen Sie: „Es macht Spaß, Leuten zuzuhören, die das Reden beherrschen.“…

Ich mag tatsächlich Leute, die eine interessante Art zu reden haben. Aber das müssen nicht unbedingt Intellektuelle sein. In „Das grüne Leuchten“ gibt es zum Beispiel einen Taxifahrer, der ist nicht gerade ein Märchenprinz (lacht). In „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ kommen Bauern aus dem Dorf zu Wort. Ich finde es interessant, Leute sprechen zu lassen, die eine eigene Sprache haben. Aber dann muss man schon dokumentarisch vorgehen. Ich mag es nicht sonderlich, mir eine ländliche Art zu reden auszudenken. Ich glaube, dass das auch für die meisten falsch klingen würde. Ich könnte auch keinen Krimi drehen und darin Gauner zu Wort kommen lassen. Oder man muss „echte“ nehmen, die dann selbst sprechen (lacht). Das wäre dann wieder dokumentarisch. Aber es gibt in der Welt der Polizeifilme aller Länder eine spezielle künstliche Sprache, die keineswegs unbedingt die ist, die von den Beteiligten wirklich gesprochen wird, ein literarischer Jargon. Das mache ich nicht. Was mich aber vor allem an vielen französischen Filmen stört, ist die Armut des Textes. Ein Dialogtext kann sehr raffiniert sein, oder im Gegenteil, sehr, wie soll ich sagen, roh und rudimentär. Trotzdem kann er eine gewisse Schönheit haben, überraschende Wendungen enthalten, interessante Ausdrücke. Das gefällt mir. Ich habe zwar noch nie einen Film über die Pariser Banlieue, die Pariser Vorstädte, gedreht, weil ich die nicht gut genug kenne. Wenn ich jünger wäre, würde ich so was vielleicht machen. Ich müsste mich aber für so etwas auf jeden Fall unter die Leute dieses Milieus mischen. Aber da ich keinen Kontakt zu ihnen habe, findet man die besondere Sprache, die in den Vorstädten gesprochen wird, nicht in meinen Filmen. Das heißt nicht, dass ich etwas gegen sie habe. Ich habe nur recht hohe Ansprüche an die Wahrhaftigkeit der Darstellung. In so einem Fall würde ich Wert darauf legen, dass das Gesprochene authentisch klingt.

In Ihrem letzten Film, „Triple Agent“, haben Sie zum ersten Mal auch dokumentarisches Filmmaterial verwendet.

Man erfindet nie etwas aus dem Nichts. Es gibt immer einen Ausgangspunkt in der Realität. In diesem Fall vielleicht in besonders entscheidender Weise, weil ich auf ein historisch belegtes Ereignis zurückgegriffen habe. Aber immer folgt darauf die gleiche Operation. Man geht von einer Realität aus und erfindet den Gesamtzusammenhang. Es ist schwer, da eine Grenze zu ziehen. Ich schreibe kein Tagebuch und lasse mich auch nicht von meinem eigenen Leben inspirieren. Aber es gibt eine Reihe Schriftsteller, die das tun. Als Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ schrieb, war das dokumentarisch oder nicht? In bestimmter Hinsicht ja, weil er Dinge erzählt, die er mit einiger Sicherheit selbst erlebt hat. Goethe hat sich, als er „Die Wahlverwandtschaften“ schrieb, auch von seinen Lebensumständen inspirieren lassen. Die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentarischem entzieht sich also der klaren Festlegung.

In „Triple Agent“ geht es, wie schon zuvor in „L’Anglaise et le duc“, um Royalisten in Situationen der Revolution. Was interessiert sie an diesen zwiespältigen Figuren, deren „politische Klasse“, wie man aus der Geschichte weiß, dem Untergang geweiht ist?

Ich denke grundsätzlich – und nicht nur in Bezug auf politische Veränderungen -, dass ich Leute nicht sonderlich mag, die „ganz aus einem Guss“ sind. Ich bin kein Freund des Manichäismus, demzufolge eine Seite gut, die andere böse ist. Ich mag es sehr, wenn eine Figur nicht von vornherein einzuordnen ist. Das ist in allen meinen Filmen so, selbst wenn es in erster Linie um Gefühle geht.

Auch politisch legen Sie sich nicht gerne fest.

Ja, das ist auch in meinen politischen Filmen nicht anders, zum Beispiel in „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“. Die Figuren haben dort recht eindeutige Ansichten, aber man spürt, dass die Wahrheit nicht in dem liegt, was einzelne Figuren sagen, sondern was der Dialog ergibt. Jede Figur steuert dabei sowohl Wahres als auch Falsches zur Geschichte bei. Die Figur kann Recht haben, aber auch falsch liegen. Diese Zwiespältigkeit ist aber nicht in der einzelnen Figur angelegt, sondern im Figurenensemble.

In „Triple Agent“ ist Fjodor allerdings eine klar zwiespältige Figur.

Das ist eine meiner komplexesten Hauptfiguren überhaupt. Aber alle meine Figuren sind eher komplex. In der einzigen Erzählung, die ich adaptiert habe, in der „Marquise von O“ von Kleist, sind sie das übrigens auch. Meine literarischen Vorbilder, die Autoren, denen ich mich verbunden fühle, sind alle sehr komplex. Balzac und Dostojewski. Deshalb ziehe ich zum Beispiel Dostojewski Tolstoi vor. Tolstoi ist als Persönlichkeit viel einfacher gestrickt. Es gibt da nicht diese für Dostojewski typische Komplexität.

Der Anspruch an eine hohe Wahrhaftigkeit der Darstellung ist schon ihrem frühen Roman „Elisabeth“ anzumerken, der erst Ende 2003 in deutscher Übersetzung erschien. Haben Sie 1944, als Sie diesen stark dialogisierten Roman schrieben, schon an Filme gedacht?

Nein, zu der Zeit dachte ich gar nicht an Film. Ich habe mich noch nicht mal übermäßig für Film interessiert. Ich wollte eher Schriftsteller als Filmemacher sein. Der Krieg war noch nicht vorbei, und ich habe den Roman in meinem Hotelzimmer geschrieben, als Paris befreit wurde. Man hörte auf der Straße die Kugeln pfeifen, und ich saß in meinem Zimmer und war damit beschäftigt, diese Geschichte zu schreiben, die absolut nichts mit dem Krieg zu tun hat. Ich habe mich in dieser Situation gefragt: Was kann man jetzt schreiben? Kann man über das schreiben, was gerade passiert? Und meine Antwort war: Nein. Das ist unmöglich, es fehlt der nötige Abstand. Ich habe es nicht geschafft, auch nur eine Erzählung über die wichtigen Ereignisse zu schreiben, die sich gerade abspielten. Aber gut, das interessierte mich vom literarischen Standpunkt aus auch einfach nicht. Ich habe stattdessen Dinge geschrieben, die sich auf Zurückliegendes vor dem Krieg bezogen. Ich habe das immer so gemacht. Ich habe nie über meine eigene Gegenwart schreiben wollen, genauer gesagt über Dinge, die mir persönlich zu nahe waren, bin gleichzeitig aber der Darstellung der Gesellschaft, die mich umgab, immer treu geblieben. Wenn historische Ereignisse eintreten… wie soll ich sagen: Poet der Gegenwart zu sein, so etwas ist unmöglich. Ich muss allerdings eine Einschränkung machen: „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ war ein sehr aktueller Film. Das war aber nur möglich, weil ich das Thema als Komödie behandelt habe, ironisch. Ich hätte das Thema nicht ernst behandeln können. Aber ich habe keine Theorie der möglichen Gegenstände. Ich sage nicht: „Man kann dies und jenes nicht.“ Ich sage nur: „Ich könnte das nicht. Das inspiriert mich nicht.“ Um inspiriert zu sein, brauche ich Abstand, entweder zeitlich oder den Abstand ironischer Brechung. Wenn ich in Filmen spüre, dass der Autor sich um den aktuellen Bezug bemüht, beispielsweise um zu zeigen, wie gut er seine Zeit kennt, oder dass er den Ereignissen gegenüber nicht gleichgültig ist, so fühle ich mich stets peinlich berührt. Ich finde, das geht meist daneben. Insbesondere bei Europäern. Amerikanern gelingt das irgendwie besser, wenn auch zum Preis gewisser Konventionen. Denn es ist eine amerikanische Konvention, die es erlaubt, nahezu alles Gesehene in einen Film zu verwandeln. Aber in Frankreich… Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist.

Sie haben gesagt, dass Sie mit Vorliebe Figuren zeigen, die sich selbst beobachten, also auch eine gewisse Distanz zu sich selbst haben. Wie sehen sie aus der Distanz ihr literarisches Erstlingswerk?

Was mich betrifft, also wenn Sie mich nach dem Roman fragen, kann ich das kaum beantworten, denn – ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat – man kann nicht gleichzeitig am Fenster stehen und sich unten auf der Straße vorbeigehen sehen. Ich würde mich dabei ein wenig so fühlen (lacht).

Warum haben Sie keine weiteren Romane geschrieben? Passte „Elisabeth“ nicht in die literarische Landschaft?

Zehn Jahre später kam der Nouveau Roman auf, mit Robbe-Grillet und Marguerite Duras. Ich will nicht behaupten, ich sei ein Vorläufer des Nouveau Roman gewesen. Ich habe den Nouveau Roman ein wenig vorausgeahnt, aber das lässt sich einfach erklären, denn der Nouveau Roman war vom amerikanischen Roman beeinflusst, und ich habe zu der Zeit, als ich „Elisabeth“ schrieb, viele amerikanische Autoren gelesen, insbesondere Hemingway und Faulkner, die mich beide enorm beeinflusst haben. Was mich allerdings im Nachhinein wundert, ist in der Tat, dass ich nach dem Roman nicht weitermachen konnte. Ich hatte keinerlei Inspiration mehr. Ich habe es einfach nicht zustande gebracht, einen zweiten Roman zu schreiben. Zu der Zeit, als mein Roman erschien, habe ich dann Erzählungen geschrieben in einem völlig anderen Stil. Ich las Novellen von Melville, bin also in der Zeit zurückgegangen. Nicht mehr Faulkner und Hemingway, sondern Melville. Ich wollte in diesem Stil schreiben, in diesem Stil des 19. Jahrhunderts. Die Erzählungen waren sehr kurz. Worum ging es darin? Eine hieß zum Beispiel „Claires Knie“ (lacht), eine andere nannte sich „Meine Nacht mit Maud“, eine dritte hatte zwar nicht diesen Titel, handelte aber von der „Sammlerin“. Zehn Jahre später, als ich darüber nachdachte, Filme zu drehen, habe ich mir überlegt, ob ich sie nicht vielleicht verfilmen könnte, habe das aber verworfen, weil ich dachte, man könne sie nicht verfilmen. Ich habe mich auch gefragt, ob ich eine Adaption von „Elisabeth“ vornehmen könnte, aber es gelang mir nicht. Meine Filme bauen auf gut konstruierten Geschichten auf, zumindest sind die Geschichten logisch. Im Roman gibt es das nicht. Da sind nur Detailschilderungen und einzelne Szenen, die sich zu einem Ensemble von Szenen zusammenschließen.

Ich habe dann einen Film gedreht, „Im Zeichen des Löwen“. Danach passierte wieder das Gleiche: Ich hatte keine Idee für einen zweiten Film. Ich habe einen Roman geschrieben, prompt fällt mir nichts mehr für ein zweiten ein; ich habe einen Film gedreht und genau das gleiche Spiel (lacht). Irgendwann ist mir dann etwas aufgegangen, nämlich: Unter meinen Freunden aus der Nouvelle Vague bin ich vielleicht der Einzige, der sich eigene Geschichten ausdenken kann. Ich habe festgestellt, dass die Leute um mich herum keine persönlichen Filme machten, sondern Adaptionen. Truffaut drehte einen Krimi, „Schießen Sie nicht auf den Pianisten“, Godard hatte für „Eine Frau ist eine Frau“ ein fremdes Drehbuch genommen, Rivette beschäftigte sich nach „Paris gehört uns“ mit Diderots „Die Nonne“ und Chabrol verfilmte Krimiromane. Ich habe mir gesagt: „Du kannst Geschichten schreiben, vielleicht kannst du ja doch Filme daraus machen.“ Und so ist das dann zustande gekommen mit den „Moralischen Erzählungen“. Was ursprünglich in die literarische Lähmung geführt hatte, wurde Film und hat mich dort nachhaltig inspiriert. Plötzlich hatte ich kein Problem mehr mit neuen Filmideen. Und als ich dann als Filmemacher Fuß gefasst habe, hatte ich auch absolut keine Lust mehr zu schreiben, zumindest keinen Roman mehr.

Es war, als hätte ich mit dem einen Roman alle meine Möglichkeiten zu beschreiben ausgeschöpft, als würde ich in meiner persönlichen Entwicklung die Entwicklung der Geburt des Films, den Übergang von Roman zu Film nachvollziehen. Ich dachte, dass Literatur zwar gut beschreiben kann, aber das dachte ich, sei einfach vorbei, und ich fand, man müsste nun Filme drehen. Und instinktiv waren meine Erzählungen auf die Geschichte beschränkt, ohne dass ich damals schon ernsthaft daran dachte, sie zu verfilmen. Ich verspürte den Drang zum Filme machen zu einem Zeitpunkt, als ein junger Kritiker, Alexandre Astruc – der später übrigens ohne großen Erfolg Romane geschrieben und mit mäßigem Erfolg Filme gedreht hat – einen Artikel geschrieben hatte, der sich „Caméra-stylo“ nannte. Er behauptete dort, dass das Schreibgerät verschwinden würde, wie überhaupt das Schreiben. Man würde direkt mit der Kamera schreiben. Ich habe mich an seine Theorie gehalten und das Schreiben aufgegeben. Statt weiter zu schreiben, habe ich Orte gesucht und habe sie gefilmt. Ich hatte auch gar keine Lust, weiter zu schreiben. Ich hatte bewiesen, dass ich das kann: Ich habe den Regen in allen Details beschrieben. Aber ich sehe nicht, wie man dem noch etwas hinzufügen kann. Und den Regen kann ich genauso gut in dem Moment einsetzen, in dem Jean-Claude Brialy das Knie von Claire streichelt. Das finde ich interessanter. Auch wenn dem etwas fehlt, weil es den Reichtum der Wörter nicht mehr gibt.

Wie würden Sie die Unterschiede zwischen den Erzählungen und den später daraus entstandenen Filmen beschreiben?

Im Film „Meine Nacht mit Maud“ habe ich gegenüber der Erzählung, die ich geschrieben hatte, einiges hinzugefügt. Die Erzählung spielt noch während des Krieges, und der Grund für die Übernachtung bei Maud ist die Sperrstunde, die die Hauptfigur verpasst. Im Film übernachtet der Held bei Maud, weil es draußen schneit. Es gibt einige Übereinstimmungen zwischen Erzählung und Film, aber der Stil der Erzählung ist sehr nüchtern, und die Diskussionen zwischen Katholik und Atheistin fehlen. Das habe ich später hinzugefügt. Die Erzählungen waren alle sehr kurz. Es waren nicht die späteren Filme, die ich da entwickelt habe. Ich hätte aus der Erzählung auch einen Roman machen können, auch aus der Erzählung, aus der später „Die Sammlerin“ geworden ist. Meine Inspiration war, als ich um die 25 war, sehr stark. Später habe ich alle diese Ideen wieder aufgenommen. Aber es kamen keine neuen dazu. Erst sehr viel später, nachdem ich sechzig war, in den achtziger Jahren, hatte ich neue Ideen für Geschichten. Keine meiner frühen Geschichten hat mir seitdem mehr als Inspirationsquelle gedient. In den „Vier Jahreszeiten“ gibt es keinerlei Rückbezüge mehr auf die Geschichten aus den 50er und 60er Jahren. „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“, „Die Abenteuer von Reinette und Mirabelle“, alle diese Filme habe ich später konzipiert. Aber bis „Pauline am Strand“ habe ich das belletristische Gepäck meiner frühen Jahre mit mir herumgetragen. „Der Freund meiner Freundin“ habe ich als erste der „Komödien und Sprichwörtern“ neu entwickelt, etwa um 1978, als ich Lust hatte, einen neuen Zyklus zu drehen. Die Geschichte habe ich dann aber 1986 als letzte gedreht. Es ist glatter Selbstmord, Geschichten in dem Moment zu drehen, wo sie einem einfallen.

Manche Regisseure finden es deshalb vorteilhaft, sich gelegentlich an fremden Geschichten abzuarbeiten. Was hat Sie davon abgehalten?

Nach „Im Zeichen des Löwen“, als ich in der Tat Schwierigkeiten hatte, ein neues Thema zu finden, habe ich kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, die Dostojewski-Erzählung „Die Sanfte“ zu verfilmen, ein Vorhaben, dass dann aber Bresson in die Tat umgesetzt hat. Ich habe zwar immer Probleme, Stoffe für meine Filme zu finden, aber ich beschwere mich nicht. Dass ich keine Adaptionen gemacht habe, hat mir erlaubt, persönlichere Filme zu machen, sie länger mit mir herumzutragen und immer weiter zu verfeinern. So bin ich eben.

Es ist schon erstaunlich, dass Sie behaupten, Ihnen seien keine Filmstoffe eingefallen, wenn man sich ansieht, wie viele Filme Sie nach eigenen Stoffen gedreht haben.

Ich habe 23 Filme gemacht, das ist viel. Aber die Geschichten sind mir nicht so einfach zugefallen. Ich habe auch keine überquellenden Schubladen. Aber gerade deshalb hänge ich mehr an meinen Geschichten. Ich empfinde viel für sie. Sie sind mir über die Jahre ans Herz gewachsen. Ich bin immer gut damit gefahren, mir zu sagen: „Überhaste das mit der Auswahl der Geschichten nicht.“ Sie haben nach den noch nicht gedrehten Geschichten gefragt. Es gibt keine. Ich habe keine Qual der Wahl, muss aber auch nichts weglassen.

Worin besteht eigentlich in dem Roman „Elisabeth“ der „Ausgangspunkt in der Realität”?

Der Roman ist eindeutig aus Dingen entstanden, die ich selbst erlebt habe. Ich hatte eine Freundin, mit der ich eine Beziehung hatte, die der von Michel und Irene ähnelt. Die Topografie habe ich auch ein wenig daher genommen. Aber ich hatte zum Beispiel nie einen Garten. Ich kannte mich auch nicht wirklich mit Gärten aus. Ich habe extrapoliert. Aber das ist eben schreiben. Von nichts ausgehen.

Ansonsten erscheint mir alles recht disparat. Aber es war auch Mode, das zu verdammen, was seit Aristoteles in der Antike als Maßstab gesetzt worden ist, zum Beispiel was die Verbindlichkeit der Einheit von Handlung, Ort und Zeit anbelangt. Einheit von Zeit und Handlung liegen jedenfalls jenseits dieser Art zu beschreiben. Es gibt auch keinen Film, in dem die Kamera so lange auf einem Gegenstand ruht, keinen, in dem ein solches Atemholen vorkommt. Wenn man einen Film macht, ruht die Aufmerksamkeit in einer Weise auf der Handlung, dass diese schlicht beschreibenden ‚Strände der Erholung’ nicht möglich wären. Das heisst nicht, dass ich nicht versucht hätte, solche Phasen im Film zu finden, zum Beispiel in „Die Sammlerin“. Da gibt es fünf Minuten, in denen nichts weiter passiert, als dass die Hauptfiguren vom Strand zurückkehren. Das soll nicht heißen, ich hätte in diesem Film versucht, das zu wiederholen, was ich in „Elisabeth“ geschrieben hatte. Ich habe dabei nicht an den Roman gedacht.

Aber es gibt doch durchaus diese quasi beschreibenden Sequenzen, die nicht direkt der Fortschreibung der Handlung dienen, zum Beispiel in Filmen von Antonioni.

Ja, das stimmt, bei Antonioni gibt es das. Aber meine Art, Filme zu machen, hat eine andere Richtung genommen als die von Antonioni. „Die Sammlerin“ ist vielleicht noch am ähnlichsten. Ich mag die gerade genannte Szene in „Die Sammlerin“ auch sehr gerne. Aber ich sehe in meinen Filmen kaum andere Beispiele. Ich habe immer wieder versucht, diese ‚Strände der Erholung’ in meine Filme einzubauen, diese Momente, die sich von der Handlung entfernen, aber ich habe das nie geschafft. Das folgt nicht mal irgendeiner kommerziellen Notwendigkeit, der ich verpflichtet gewesen wäre. Ich fühlte mich einfach nicht in der Lage, die beiden unterschiedlichen Erzählweisen miteinander zu versöhnen.

Aber in „Das grüne Leuchten“ sind doch einige Passagen auch eher ‚beschreibend’.

In „Das grüne Leuchten“ sind diese Passagen eng mit der Geschichte verknüpft, mit dem Leben der Hauptfiguren, mit der Entwicklung der Gefühle. Zum Beispiel als die Hauptfigur auf den Felsen spazieren geht und sich an ein Holzgatter lehnt. Der Wind fängt an, heftiger zu wehen, und sie beginnt zu weinen. In diesem Augenblick ist die Situation gewissermassen realistischer als die Geschichte. Hier im Roman dagegen… Es wird zwar, wie im Film, das Knie von Claire beschrieben. Aber im Film suchen die beiden Protagonisten Schutz vor dem Regen. Der Regen und dass er aufhört, sind eng mit der Geschichte verbunden. Im Roman dagegen ist das alles voneinander abgelöst. Das Ganze ist sehr von außen betrachtet.

Damit zu spielen, ist doch eine literarische Möglichkeit…

Literarisch ja, aber im Film ist man da wesentlich mehr eingeschränkt. Es gibt dafür andere Möglichkeiten. Und genau deshalb machen die meisten Romanautoren keine guten Filme. Man kann das gleiche Thema behandeln, aber nicht auf die gleiche Weise.

Hat Sie damals ein Text wie Sartres „Ekel“ beeinflusst? Dessen Stil ist in weiten Passagen ähnlich wie bei „Elisabeth“, und Sie haben einmal als wesentlichen Einfluss ihrer frühen Jahre Sartre genannt.

Die Ähnlichkeit ist aber leicht zu erklären: der Einfluss des amerikanischen Romans. Diese Art, die Dinge zu beschreiben, finden Sie bei Faulkner, gleichermassen aber bei Dos Passos, Caldwell, selbst bei einem Autor, den ich immer gerne gelesen habe, von dem man aber kaum noch spricht, obwohl er sehr schöne Dinge geschrieben hat: Saroyan. Alle diese Autoren haben meine Generation und selbst die etwas Älteren wie Sartre stark beeinflusst und auch den Nouveau Roman.

In „Das Imaginäre“ stellt Sartre die These auf, die inneren Bilder bei der Lektüre eines Romans seien schwach. Das folgt doch aber nicht dem Einfluss des amerikanischen Romans, sondern der philosophischen Tradition…

Die spielt natürlich auch eine Rolle. Ich bin wie er von einem Sorbonne-Professor namens Alain beeinflusst worden. Er nannte sich Alain nach dem Schriftsteller aus dem vierzehnten Jahrhundert Alain Chartier, weil sein bürgerlicher Name Emile Chartier mit dem eines anderen Schriftstellers identisch war. Dieser Philosoph Alain war, man kann sagen, ein Philosoph der „Essenz“. Er hat unglaublich viele Philosophen in Frankreich geformt. Eins seiner Bücher heisst „L’idée d’objet“, und er spricht da von Descartes, Platon, Hegel und Auguste Comte. Er war ganz und gar gegen die Empiristen eingestellt, also gegen die naturwissenschaftliche Richtung in der Philosophie. Er war allerdings auch gegen Bergson. Er war ein Bewunderer der großen Autoren, der großen philosophischen Tradition. Sartre ist von Alain beeinflusst. Die Idee von Alain war die, dass das Bild keine objektiv feststellbaren Eigenschaften hat. Ein inneres Bild ist die Illusion eines Bildes. Er stellte seinen Studenten zum Test eine Aufgabe: „Stellen Sie sich das Pantheon vor“ – gut, das Pantheon – „Wie viele Säulen sehen Sie?“ – Niemand konnte darauf antworten. Er folgerte daraus, dass es sich bei der Vorstellung eben um eine Idee handelt und nicht um ein Bild. Das innere Bild ist eine Idee. Man weiß, das Pantheon hat Säulen, aber man kann sie nicht sehen. Daraus entwickelte er seine Theorie der Einbildungskraft. Ein gewisser Intellektualismus ist der Theorie Alains nicht abzusprechen. Aber daher stammt die Annahme, das innere Bild existiere nicht ausserhalb unserer Vorstellungskraft, sei kein Gegebenes, sondern eine Setzung, eine Konstruktion. Und deshalb war ich als eine Art Schüler von Alain immer gegen den subjektiven Film, gegen das subjektive Filmbild. Und insbesondere gegen Alain Resnais und Robbe-Grillet. Im Film, zumindest in bestimmten Filmen, gibt es sehr oft die Ambivalenz zwischen innerem und äußerem Bild. Man kann nicht unterscheiden, ob es sich nun um Gegenwart oder Vergangenheit handelt, ob das Bild die Einbildung der Figur ist oder eine objektive Realität abbildet. Im Leben dagegen weiß ich, dass das Bild des Pantheons, das Bild des Eiffel-Turms ein Bild ist. Ich kann auf keinen Fall ein Bild des Eiffel-Turms mit dem Bild verwechseln, das sich ergibt, wenn ich den Eiffel-Turm mit eigenen Augen sehe. Im Film empfinde ich das als falsch, mit dieser Ambivalenz zu spielen. Als Filmemacher denke ich so.

Das Gespräch führte Marcus Seibert am 23.3.2004 in Paris. Übersetzt von Marcus Seibert. Gekürzt und bearbeitet von Marcus Seibert und Jens Börner.

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