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Julia Albrecht: Die Schädel knacken hören

Der Schrecken so falsch, wie das Leben

Eine der schönsten Möglichkeiten des Kinos, eine der erschreckenden, ist es, den Teufel an die Wand zu malen. Schreckensbilder aber sind nicht neu. Wir kennen sie schon von früher, als man die Analphabeten mit ihnen erreichte und sie anhielt zu glauben, was sie sahen. Die Malereien, meistens an Wänden der Kathedralen, kamen daher mit ihren Höllenkreisen, in denen Ungeheuer und deren Knechte ihre Zähne in die nackten Körper der von Schmerz zerrissenen Sünder bohrten; mit Feuersbrünsten, auf denen wiederum die gleichen Sünderhände ringend in Töpfen brodelten; mit Plagen, Qualen, Biestern, Zangen. Ein ganzes Inventar der Höllenwerkzeuge, an denen sich die Kraft der Phantasie im Verhältnis zum Fortschritt der Mittel, der Werkzeuge also, erkennen liess. In solchen Bildern wurde der Schrecken in die Seelen der Glaubenden gemalt. Als Gegenstand und gleichzeitig Deutung ihrer Angst wurde er umgewandelt in verlässliche Gottesfurcht und in Unterwerfung unter die moralischen Instanzen in ihrem Leben. Aber auch von Wut, der Wut erbarmungsloser Zerstörung erzählen diese Bilder. In ihr und gleichzeitig im Leid, diese einspruchslos erdulden zu müssen, erkannten sich die Menschen wieder. Die Hölle war ein Spiegel der eigenen Qualen, sie schaffte Identität in Angst und Schrecken. Der Schrecken hatte Gemeinschaftsfunktion, er verwandelte die Reglementierungen, die erniedrigende Ohnmacht gegenüber der Herrschaft in einen gleichsam „freiwilligen“ Akt der Unterwerfung und Anpassung. Bilder waren es, die, nicht zuletzt weil sie unterdrückte Aggressionen ausdrückten, beim Leben halfen, während sie ein anderes Leben verhinderten. Und man glaubte, was man sah.

Die Bilder begannen, sich zu bewegen. Und auch die Kraft, uns in ihrer Illusion einzunehmen, veränderte sich unserem entwickelten Bewusstsein entsprechend, der Bildung der Analphabeten. Wir selbst nun wünschen immer noch anzuschauen, was erschreckt und was man sonst nicht sehen kann. Ahnen wir nämlich, dass in Wahrheit da etwas im Untergrund, auch in unserem Leben brodelt, wie die Hölle. Und so verlangen wir nach unserem Teil. Wir wollen die höllische Zerstörung: direkt, in einem Bild, in einem Zusammenhang. Ob mit Kettensägen, Edelstahlbeilen, mit Superwaffen, Panzerkanonen oder Pressluftnaglern: Das bunte Höllenpersonal in meist feinen Anzügen mordet und schändet sich in den modernen Schreckensbildern für „Analphabeten“, in Filmen also, durch die geliebten Einkaufszentren. Köpfe schiessen durch die Luft, Ohren fliegen gegen Wände, je doller, desto toller, in unaufhaltsamer Expansion, dass das Blut spritzt, als müsste man noch einmal diesen letzten und einzigen Beweis für ehemals Lebendiges anführen. Und wenigstens für Momente wollen wir glauben, was wir sehen. Warum?

Weil die wohltrainierte Seele mit sanften Schritten und im Turnschuh von Nike durch die heimischen Parks läuft; weil sie und ihr Glück öder sind als Gefängniszellen, suchen wir nach einem anderen Leben, nach anderer Bewegung. Auch im Kino. Der Wunsch nach Gewalt zeugt von dem Bedürfnis, aufgerüttelt zu werden und das Leben in der Illusion wiederzufinden. Wir sehnen uns danach, anzuschauen, wie wir in grösster Gefahr noch einmal mit dem Leben davonkommen. Wir sehnen uns, die schwierigen Fragen einfach auch mal mit Ja oder Nein, Leben oder Tod zu beantworten. Gewalt drückt uns endlich mit sich selbst in den Kinosessel, macht uns von Unbeteiligten, Ausgeschlossenen zu Teilnehmern. Und wir springen ins Geschehen, vergessen das Geraschel der Popcorntüten, den nach Schweiss stinkenden Nachbarn und das Leben, weil wir etwas Bedeutenderes erleben. Das Unglaubliche, das uns angeht. Da werden unsere Instinkte wieder wach, in der Gefahr meldet sich ein längst vergessener Überlebenswille, und wir: Wir wollen leben. Und weil wir ja irgendwie Tiefe suchen… Plötzlich, so mit der Knarre in der Hand, stellen wir sie endlich: die Frage nach Leben und Tod.

Aber wo eine Frage ist, wartet man nicht gern vergeblich auf Antwort. Auf den Frust folgt blinde Gewalt, sie entspricht wenigstens unserer Aggression, und sie ist eine Lösung, wenn auch eine ziemlich einfache. Mehr was fürs Kino. Und so, wie wir gern denselben feinen Anzug hätten, den der Held für uns trägt, das Auto und ’ne tolle Sekretärin, so sind wir auch froh, wenn er richtig zupackt und um sich schlägt. Denn wünschen wir es uns nicht manchmal selbst heiss und innig? Dass irgendwie Schluss ist mit allem. Wir lassen es ihn für uns tun. Unseren Mut halten wir klein, unsere Wünsche leiten wir fehl. Wir schaffen uns das Leiden vom Hals und an den Hals eines anderen. Wir verkehren, was wir wünschten, vor unseren Augen in Perversion und Zerrbilder der Oberfläche. Wir grenzen uns wieder ab von der wahren, mit uns identischen Angst, vom wahren Schmerz, der Mitleid erfordert, der Identität sucht im Verletzlichen.

Und dann, mit Hilfe des „je doller, desto toller“ in der Wahl der Menüs und auch der Waffen, mogeln wir uns davon. Vom Versuch, etwas vom Leben im Bild zu fassen, flüchten wir uns ins Abstrakte und weiter noch in Absurdität. Wenn die Kettensäge dann ansetzt und sauber in den Körper der Blondine dringt, können wir endlich, selbst Zombie und unbesiegbar, die Verletzlichkeit verlachen. Ganz umgeben von Schreckensbildern, müssen wir nicht hinsehen. Wir machen einfach schlapp. Mehr noch als damals die Höllenbilder, wandeln diese Bilder vom Schrecken die Wahrheit in Illusion. Und die Flucht geht weiter. Wo nämlich auch kein Individuum vor uns auf der Leinwand für uns leidet, sondern die komische Type handelt, ist es schwer teilzuhaben und ihren Tod, den Tod zu betrauern. Was bleibt, ist Schadenfreude.

Und warum sollte man nicht froh sein, nicht ganz zu leben, was man da sieht. Seien wir lieber zufrieden mit dem Leben. Diese Art Gewalt banalisiert Leben wie Tod, und wir müssen weder das eine, noch das andere weiter fürchten. War alles nur ein Witz. Und der Schrecken falsch, wie das Leben. Unsere Suche nach Tiefe und Intensität geht in dem schockierten Lachen auf. Und wem das nicht reicht, der freut sich an dem Einfall, dass man mit dem Parmesan-Kerber der Mutti die Adern aufschlitzen kann… Die Aufrüstung hilft, über den Kinobesuch hinaus noch etwas mit nach Hause zu nehmen: Als Nachdenken über Tötungstechniken kehrt unser Interesse zurück und wandelt die Frage nach Leben und Tod zu einer Frage nach der Machbarkeit, nach Technik. Wir geniessen einmal mehr den Kitzel der perfekten Illusion, in der wir die Schädel haben knacken hören. Und hört sich das wirklich so an? Wie bei den alten Höllenbildern, Gewalt schafft auch beim Film Gemeinschaft. Faszination ging schon immer von dem gemeinsamen Hinstarren auf Unheil aus. Und feiern wir darin nicht eigentlich sogar unser geheimes Einverständnis? Dann suchten wir also in der Grausamkeit, mit der wir den freien Abend geniessen, eine Verklärung des Unrechtes, wie es ist.

Und dennoch. Und deshalb: Eine der schönsten Möglichkeiten des Kinos ist es, den Teufel, und wirklich den Teufel an die Wand zu malen.

Auch, wenn wir in die richtige Richtung losgelaufen und dann irgendwie doch falsch rausgekommen sind. Wenn wir uns auch dumm und blind und einfach tot gelacht haben. Unser Bedürfnis nach Gewalt war echt. Wenn die Grausamkeit in ihrer Wucht allein unsere Ohnmacht in Hingebung verwandelt. Dann toben sich zwar andere für uns auf der Leinwand aus und wir kehren nach Mord und Totschlag froh zurück in die saubere Welt von Arbeit und Feierabend, in der die moralische Auseinandersetzung im Mitmachen von Mülltrennung und Biokost gipfelt. Aber die Irrationalität und Ungerechtigkeit der Herrschaft über unser alltägliches Leben, hinter dem wir oft kaum herrennen, kehrt als Grausamkeit zu uns zurück: Sie gehört zu uns und wir zu ihr. Film versucht im besten Fall und, das ist wichtig, auf jeweils eigene Art, die Sensibilisierung der Menschen entgegen emotionaler Verrohung zu verteidigen und voranzutreiben. All das, was im Alltag verloren geht, was seiner Emotionalität beraubt ist, diesem ständigen Verlust von Empfindung, Lust und Phantasie, kann Film begegnen. Die Verrohung also weder zu verdrängen und sie auch damit zu zementieren noch zu banalisieren in der kaltblütigen Grimasse. Sondern, was an uns so vorbeihuscht, einzufangen in seiner widersprüchlichen, manchmal zerstörerischen Kraft. Dem Alltäglichen den Schrecken wiederzugeben. Ihm eine Perspektive zu geben, ihn handeln zu lassen. Und dem Teufel endlich ins Gesicht zu sehen, das, seine Wahrheit, ist es, die uns tief bewegt. Erst dann werden wir entscheiden, ob und wie wir ihn verlachen. Dumm sein macht nicht glücklich. Wenn auch nicht das einzige, so ist der Schrecken doch ein Mass unserer Wünsche. Und es ist eine der schönsten Möglichkeiten des Kinos, ihn, den Teufel an die Wand zu malen.

Malen wir also.

Aber wirklich, wir sitzen mit der 3D-Brille noch in den Bäumen. Hoffentlich kommt da keiner mit der Kettensäge.

Julia Albrecht

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