Überspringen zu Hauptinhalt

Tagebuch: Christoph Hochhäusler

Früher war der Tod ein eleganter Mann. Eine Verabredung mit ihm nannte sich Schicksal. Ein Greis entschlief, ein Mann ging zu Boden und Frauen liessen ihr Leben nur, wenn es unbedingt nötig war. Kugeln trafen ins Herz – und liessen Zeit für letzte Worte, so lang sie auch waren. Körpersäfte wurden in Millilitern bemessen, und den grössten Posten stellten die Tränen. Das alles ist lange vorbei. Heute herrscht die Pornographie des Banalen. Die Schrecken der Gebrüder Grimm filmt man als Reportage. Selbst Science-fiction will heute aussehen wie zufällig von unbekannten Zeugen aufgenommen. Nur das Echte zählt. Die Zufälligkeit triumphiert über den lächerlichen Ernst eines Gedankens. Realismus ist zu einem Terror des Realen verkommen. Nichts mehr zu sehen in diesem Brei der Nähe. Dogma schreit, man müsse sich vor den Illusionen schützen – aber in Wirklichkeit ist die Täuschung in Gefahr. Es lebe der Taschenspielertrick! Der Operntod, der lang besungene! Die Wahrheit eines Fellini-Meeres aus Plastiktüten!

Ich denke mir oft: Die einzige Schwierigkeit ist die Verwandlung. Egal, worum es sich handelt, mit der Verwandlung fangen die Probleme an. Vielleicht sollte man – so utopisch oder wahlweise dumm sich das auch anhören mag – vielleicht sollte man auf die Verwandlung verzichten. Also nicht aus einer Idee einen Roman, aus dem Roman ein Drehbuch, aus dem Drehbuch einen Film, aus dem Film ein Videospiel machen, sondern einfach nur: einen Film machen. Keine Ideen, nur Handlungen. Der Computer, so geht die Leier, ist nur ein Werkzeug. Nur? Lässt sich mit einer Beisszange Cello spielen? In jede Maschine ist eine Weltsicht eingeschrieben. Ich frage mich, welches Gesicht die Kunst des Erzählens in digitalen Zeiten haben wird. Es ist so rührend zu sehen, wie man heute versucht, optische Fehler mit dem Computer zu simulieren. Filmeffekte, die wir liebgewonnen haben. Nostalgie.

Spielbergs Dummheit in „Saving Private Ryan“ gipfelt in einem Computereffekt, in dem Matt Damon als Ryan in das Gesicht des alten Mannes am Soldatenfriedhof gemorpht wird. Nicht nur, dass damit behauptet wird, Ryan erinnere sich an die ganze Geschichte, obwohl er nur die letzten zehn Minuten auftaucht, und die anderen keine Zeit haben, ihm ihre Geschichte zu erzählen – es ist vor allem ästhetisch falsch. Zeitliche Zusammenhänge entstehen im Schnitt. Zwischen zwei Bildern. Morphing dagegen heisst Verwandlung. „Der Spiegel“ führt über Politik ästhetischere Debatten als über Film. Vilsmeiers „Marlene” zu kritisieren, indem man behauptet, die Wahrheit hätte anders ausgesehen, ist einfach lächerlich. Ich bin der letzte, der Vilsmeier, den plumpen Handwerker, verteidigen möchte. Und „Marlene“ ist wirklich nicht der Rede wert – aber wenn man schon eine Kritik schreibt, sollte man den Film diskutieren und nicht „die Wahrheit“.

Die Filmkritik ist käuflich. Bei einer grossen Filmzeitschrift jedenfalls. Und zwar ganz wörtlich. Man regelt das über Anzeigenaufträge. Die Kritik ist ihnen zu hart? Wie wär’s, wenn wir den Film zum Ausgleich in der Online-Kritik lobend besprechen? Oder wir machen Pro und Kontra. Kontroverser Film, keine Frage. Das ist leider keine Erfindung.

Die Bereitschaft, mit einer Form zu kämpfen, verschwindet. Egal, ob es sich um die Form der eigenen Nase handelt oder um einen Film. Alles muss verschönert werden, noch bevor man verstanden hat, was die Form sagt. Wer kennt die Ewigkeit?

Das Starren in Kisten – Computer – scheint nur mich zu stören. Alle Welt ist begeistert. Aber auf den Fotos der Prospekte sind trotzdem nur die Kisten abgebildet. Die „User“ sind demütigend uncool. Mit gesenktem Blick sitzen sie auf hässlichen Stühlen, die Bandscheiben schmerzen, der Nacken ist verspannt und nur die Finger bewegen sich ein bisschen.

In Indien – das hat mich als Kind sehr fasziniert – gab es Menschen, deren Ehrgeiz es war, ihre Träume zu beherrschen, „klar“ zu träumen. Und es hat funktioniert. Eine Technik, die das Geschrei um die virtuelle Realität einfach lächerlich macht. Wir wissen eben nicht nur so viel mehr als früher, sondern vielleicht genauso viel weniger.

Jede Zeit denkt von sich in metallischer Härte. Naiv war früher. Aber wir täuschen uns natürlich und halten „American Beauty“ für eine „schwarze Satire“. Ich habe „Little Foxes“ gesehen (R: Wiliam Wyler, USA 1941), und dieser Film ist härter als alles, was ich kenne. Klassisches Hollywood! Studio-Kino! Aber tausendmal unabhängiger als „Independent“ heute. Und nebenbei ein ergreifender Film. Und das Schönste: Bette Davis spielt mit.

Die Welt sähe anders aus, wenn sie unsichtbar wäre – nur scheinbarer Unsinn. Das Selektionskriterium „filmisch“ hat die Welt verändert.

Dogma und die Sehnsucht nach Gesetz: Einer Sehnsucht, die ich durchschaue, kann ich nicht mit der gleichen Wahrhaftigkeit gehorchen, wie einem „Naturgesetz“, das erkannt und entdeckt, aber nie erfunden wird. Es mag manchen Dogma-Brüdern gelingen, diesen Glauben zu entwickeln, die grosse Masse wird nur die Schale sehen und ist zu clever, um mehr daraus zu machen.

Das Thema Simulation erscheint jetzt, nachdem es seinen Zenit überschritten hat, als modische Verästelung eines philosophischen Kurzschlusses und als besonders unfilmisch, weil es (ohne Not) die Grundfesten der Zuschauer-Film-Vereinbarung angreift. Filme wie „The Game“, „Truman Show“, „Pleasantville“, „Existenz“, „Matrix“ oder auch „Lola rennt“ lassen sich in ihrer „Question Reality“-Plattitüde auf ein Wort reduzieren: Mindfuck. Die doppelte Medialisierung des Erzählens ist nichts weiter als die effektgierige Vermehrung von Handlungssensationen auf Kosten ihrer emotionalen und intellektuellen Wirkung. Ein Erzähler, der sich nicht entscheiden kann, welchen Weg seine Geschichte nehmen soll und deshalb alle Varianten vorstellt, ist ein Feigling – und betrügt seine Zuhörer. Eine Geschichte zu erzählen heisst, auf einem Standpunkt zu beharren: So wahr mir Gott helfe, so war es.

Es kostet Kraft und Nerven und Glaubwürdigkeit, dieser Welt die Ungeheuerlichkeit eines Anfangs (Es war einmal) entgegenzuhalten. Der Beigeschmack des Angebers ist hierzulande nicht loszuwerden. „Erzähl keine Geschichten!“, sagt man in Bayern, wenn man meint: Halt den Mund. Letztlich hat das Kino auch mit der Entwicklung eines tiefsitzenden Unglaubens zu tun: Ich will mir nichts „erzählen“ lassen, es sei denn, ich erfahre es, sehe es selbst. Im Sinne dieses „anti-autoritären“ Misstrauens ist der nächste Schritt Cyberspace (mit dem Computerspiel als Steigbügelhalter) ganz selbstverständlich. Es wird uns damit gehen wie dem Fischer und seiner Frau. Am Ende stehen wir da und empfinden das Wieder-bei-uns (im körperlichen Jetzt) angekommen-sein als Verlust.

Die Verkürzung des Abstands zwischen „Underground“ und Hollywood – als ein System, das wie eine Feuerwalze visuelle Muster frisst – lässt das Ende des Geschichtenerzählens plausibel erscheinen. Das Gefühl für diese Grenze ist so stark, dass man es wieder bezweifeln muss.

Ich will in meinem Film alle Leidenschaften des Sehens in genau gearbeiteten Details einfliessen lassen, dabei aber die Einfachheit und Würde des Westerns behalten. Grosse, eherne Statik, wenig und nur bedeutungsvolle Nähe. Der Film, den ich meine, ist eine Montage existentieller Zustände, eine archaische Projektion meiner Ängste und Sehnsüchte. Gerade deshalb ist es wichtig, im Heute zu erzählen, unsere Farben, Formen, Wörter zu benützen. Letztlich erwartet man von der Vergangenheit (im Film) den lästigen Realismus der Rekonstruktion und der repräsentativen Auswahl, wobei diese Auswahl auch noch die klischeehaften Vorstellungen des kollektiven Bewusstseins berühren soll. Jede Abweichung erscheint verdächtig und bindet Aufmerksamkeit, die an anderer Stelle gebraucht wird.

Ich komme gerade aus den Bergen, und ihre Majestät hat mich tief erschreckt. Es ist nichts Süssliches an ihnen, nichts Heimeliges. Wa rum interessieren sich deutsche Filme nicht für die Landschaft? Warum quälen sich alle – die Liebhaber wie die Hasser – mit falscher Folklore, wenn unsere Hügel und Täler, Seen und Berge, ihr eigenes Recht, ihre eigene Wahrheit haben?

Der einzige Gegenstand, der sich zu betrachten lohnt, ist der Mensch. Jeder Film muss – auf seine Weise – die Frage stellen: Wie sollen wir leben? Was natürlich bedeutet, die Gegenwart zu untersuchen. Die schreckliche Unreife unserer Filmkultur hat mit ihrer Bewusstlosigkeit dem Leben gegenüber zu tun. Unseren Filmen ist jeder Sinn für Verantwortung abhanden gekommen. Und ein Film, der seiner Wirkung nicht vertraut, muss in die Debilität führen. Der Zweck eines Filmes ist es nicht zu unterhalten. Vielmehr geht es darum – und der Unterschied ist gravierend – etwas (mit)zuteilen: Ich sehe was, was Du nicht siehst. Und das kann man gut machen oder schlecht.

Christoph Hochhäusler

zurück