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Interview: Slavomir Idziak

Revolver: 
In ihren Bildern entsteht ein ganz eigener Kosmos. Gibt es einen Punkt in ihrem Leben, an dem Sie angefangen haben, ihre Empfindungen in Bilder zu übersetzen?

Slavomir Idziak: Es ist sehr schwierig, so einen Punkt zu finden oder zu definieren. Meine Entwicklung in dieser Hinsicht ist sehr komplex. Vieles, was mich beeinflusst und geprägt hat, kommt aus dem Umfeld meiner Familie. Meine Eltern waren Fotografen, meine Großeltern waren Fotografen. Die klassische Fotografie ist also die Wurzel, der Hintergrund meines Werdegangs. Ich habe dann natürlich auch sehr sorgfältig und ausführlich meine Ausbildung in Schwarzweiß gemacht, mein erster Film war ironischerweise in Farbe. Aber was wohl am schwersten wiegt, ist meine polnische Ausbildung zum Kameramann, die sich total von der im Westen unterscheidet. Die Beziehung zwischen Kameramann und Regisseur ist in Osteuropa traditionell etwas ganz Besonderes. Wenn ein Regisseur einen Film machen will, sucht er sich zuerst seinen Kameramann. Er interessiert sich nicht für die Ausstattung, den Schauplatz oder die Kostüme. Er sucht auch nicht nach Schauspielern. Sein erster Weg führt zum Kameramann. Der Kameramann schreibt mit dem Regisseur. Erst durch diese Zusammenarbeit entsteht das eigentliche Drehbuch. Der Schwerpunkt der Ausbildung im Osten, nicht nur in Polen, sondern auch in Russland, liegt im Zusammenspiel von Technik und Dramaturgie. Ganz anders als im Westen. Als ich zum ersten Mal hierher kam, wurde mir klar, wie groß der Unterschied wirklich ist. Im Westen wird der Kameramann zu einem Film „eingeladen“, wenn alles andere schon steht: Das Drehbuch ist fertig, der Filmarchitekt hat zusammen mit dem Regisseur schon die Drehorte ausgewählt. Jetzt erwarten sie nur noch, dass ich gutes Licht mache, mit ihnen vielleicht die eine oder andere Kameraposition diskutiere oder ihnen sage, wie ich die Szene auflöse. Das ist ein völlig anderer Ansatz als im Osten, wo die Regisseure erwarten, dass wir uns einbringen. Kieslowski zum Beispiel hat den Dekalog mit zehn unterschiedlichen Kameramännern gemacht. Er wollte von jedem seine eigene Sicht auf die Geschichte, in die Kameraarbeit selbst hat er sich dabei nicht eingemischt. Er hat die Geschichte erzählt, wir haben die Bilder gemacht. Beim Dekalog und den Drei Farben hatte Kieslowski ansonsten immer die gleichen Leute: Filmarchitekt, Kostümbildner, Musiker und so weiter, sie alle blieben gleich. Nur eine Position wurde neu besetzt, und das war die des Kameramannes. Und deswegen sind diese Filme in ihrem Stil, in ihrer Bildsprache und in ihrem Charakter einmalig geworden.

Gibt es einen historischen Grund, warum diese Gleichberechtigung zwischen Kameramann und Regisseur im Westen nicht existiert?

Am Anfang der Filmgeschichte stand ganz einfach der hinter der Kamera, der am besten kurbeln konnte – und damit war er ein guter Kameramann. Alles andere machte der Regisseur. Erst mit dem Tonfilm hat unsere Arbeit wirklich angefangen. Wir standen plötzlich wieder ganz am Anfang. Der Regisseur kümmerte sich nur noch um die Schauspieler und arbeitete an den Dialogen und der Kameramann stand zwischen allen Stühlen. Einerseits sollte er ständig neue Dinge erfinden und sich einsetzen, auf der anderen Seite blieb er im Hintergrund. Die künstlerischen Entscheidungen fällte alleine der Regisseur. Und so ist es bis heute.

Vertut der Westen mit dieser anachronistischen Haltung nicht eine große Chance?

Die Bildsprache hat sich in den letzten 20 Jahren nicht mehr entwickelt. Das ist kein Problem der Technik, sondern der Künstler. Wenn ich die europäischen Regisseure heute und vor zwanzig Jahren vergleiche, muss ich fest- stellen, dass so große visuelle Menschen wie Fellini, Antonioni, Bergmann, Truffaut und viele andere einfach nicht mehr da sind. Diese Regisseure hatten eine ausgeprägte, persönliche und außergewöhnliche Bildsprache. Wenn ich mich heute umsehe, gibt es fast nichts, was nur annähernd so reich an Ideen, so revolutionär und so wirklich frisch daherkommt wie die Filme dieser wirklich großen Künstler.

Haben Sie ein Vorbild, jemanden, der Ihre Arbeit entscheidend geprägt hat?

Ich habe kein Vorbild, niemanden der meine Arbeit wirklich beeinflusst. Ich hole mir die Inspiration ausschließlich aus der Literatur, beim Lesen. Ich gehe auch nicht ins Museum, um mich anregen zu lassen. Ich lese Bücher oder studiere das Drehbuch. Dann stelle ich mir vor, welche Bilder aus den gelesenen Worten entstehen könnten. Für mich ist die Literatur viel wichtiger als die Dinge, die ich nur betrachten kann. Aber das gilt eben nur für mich. Woher die Inspiration kommt, weiß doch kein Mensch. Manche hören Musik, andere liegen in der Badewanne, es gibt sogar welche, die gar nichts tun und geniale Ideen haben. Ich muss eben lesen, aber ich denke nicht darüber nach, wieso das so ist. Ich weiß nur, es ist so.

Wir fragen uns, ob heute noch jemand die Chance hat, etwas wirklich neues zu finden oder zu erfinden. Sind wir nicht an einem Punkt, wo alles schon dagewesen ist und wir nur noch wählen können?

Wir können immer etwas tun. Wir können wieder anfangen, Stummfilme zu drehen, uns wieder einem ganz bestimmten Purismus zuwenden. Die Einfachheit des Anfangs. Vergessen wir einfach, dass es den Barock gegeben hat, vergessen wir die Bilderlawinen, die über uns hinweggehen. Das können wir aber nur intellektuell bewältigen. Wir stecken in einer intellektuellen Krise. Es gibt Künstler, die durchaus in der Lage sind, diese Krise zu bewältigen, die versuchen, eine Bildsprache zu entwickeln und ein Publikum dafür zu finden. Aber sie können ihre Ideen nicht verkaufen. Das Kino ist heute nicht mehr in den Händen von Künstlern, es gehört den großen Verleihern. Eine unglaubliche Macht. Für einen unabhängigen Künstler, der neue Wege gehen will, ist es sehr schwer, sich in dieser Welt durchzusetzen.

Filmhochschulen könnten Freiräume zur Entfaltung sein, Labors, in denen man etwas riskieren kann. Kommt da nichts nach?

Die Studenten an den Filmhochschulen lernen doch vor allem, dass sie große Künstler sind. Aber in diesem Beruf ist es das Wichtigste, im Team zu arbeiten. Anstatt das Ego zu trainieren und die Abkapselung zu fördern, sollten die Filmhochschulen den Leuten beibringen, wie man zusammenarbeitet, wie man einen Weg zu den Menschen findet, mit denen man zusammenarbeiten will. Denn meistens ist es Egoismus, der eine künstlerische Idee oder einen ganzen Film kaputt macht.

Glauben sie wirklich, der Abschied vom Ego reicht, um zu einer neuen Bildsprache zu kommen?

Es ist sehr kompliziert mit einem Regisseur eine Bildsprache zu entwickeln. Diese Arbeit ist ein komplexer Vorgang, in dem wir zumeist auf Bilder aus unserem Unterbewusstsein zurückgreifen. Filme machen heißt, innere Bilder, für die Worte nicht ausreichen, nach außen zu tragen. Worte können zwar wunderschöne Dinge versprechen, aber auf der Leinwand ist davon oft nichts mehr zu sehen. Zwischen dem, was wir erzählen und dem, was wir dann letztendlich zu sehen bekommen, klafft meistens eine große Lücke. Diese Lücke müssen wir schließen. Es gibt keine einfachen Antworten. Es bleibt die große Herausforderung des Kinos, eine kreative Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Kameramann zu finden. Nur das Visuelle findet den Weg in unser Unterbewusstsein. Das wird oft unterschätzt. Es ist nicht nur die Geschichte, die uns bewegt, es sind die Bilder, die den Weg zu den verborgenen, tief versunkenen Gedanken und Ängsten finden.

Wir finden, dass „Die zwei Leben der Veronika“ in dieser Hinsicht ziemlich gelungen ist.

Ein wichtiger Film für mich. Es war wie ein Wunder: Alles, wirklich alles passte zusammen. Die Arbeit war in jeder Hinsicht unglaublich intensiv, das Schauspiel, die Musik, die Bildsprache. Und dann das Buch von Kieslowski: Sehr originell und seltsam. Gleichermaßen unwahrscheinlich und weit weg vom normalen Leben. Die Geschichte einer Frau, die stirbt und an einem anderen Ort auf der Welt identisch existiert, ist fast ein Märchen. Die größte Herausforderung war es, die Psychologie dieser Geschichte in Bilder zu übersetzen. Der Film war für uns alle unglaublich wichtig, eine Zäsur. Für Kieslowski, weil es sein erster Film im Ausland war. Für mich, weil ich nach langer Zeit nach Hause zurückkehrte und mit dem Know-how des Westens zu meinen polnischen Wurzeln finden konnte. Zu alledem noch Irène Jacob als Veronika – ich war wirklich zufrieden mit diesem Film. Auch das Publikum mochte den Film. Für mich ist es einer meiner wichtigsten Filme überhaupt, nicht nur was das Ergebnis betrifft. Es war eine phantastische Atmosphäre während der ganzen Zeit der Entstehung.

In ihren Arbeiten sind Ihre Wurzeln, ihr familiärer Hintergrund und Polen, sehr stark zu spüren. Trotzdem haben Sie sich irgendwann entschlossen, das System zu wechseln, Filme in Amerika und in Westeuropa zu drehen. Ist die Erklärung einfach Geld, oder war dieser Schritt für Sie eine notwendige Entwicklung?

Als Kameramann hat man nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, seine Entwicklung zu steuern. Meistens ist man von anderen abhängig. Man ist wie eine Hure: Man wartet einfach auf Angebote. Geld spielt eine große Rolle in unserem Geschäft. Nicht die Gage, die man bekommt, sondern die Millionen, die einem Film erst das richtige Potential geben. Das Geld amerikanischer Produktionen gibt einem viel mehr Zeit und die beste Technik, die es gibt. Aber der Preis dafür ist hoch. Sie kontrollieren dich, wo sie können und zensieren dich, wo sie wollen. Von dir selbst bleibt dabei nicht viel übrig. Am Set herrscht Krieg. Die Studiobosse, die Leute, die hinter dem ganzen Geld stehen, haben einfach Angst. Sie riskieren unglaublich viel Geld und deshalb kann man mit ihnen auch nicht darüber reden, einen Film besonders originell oder außergewöhnlich zu gestalten. Aber sie haben noch immer das große Geld und wenn man es bekommt, kann man Sachen machen, die in Europa unmöglich sind. Was bleibt, ist die Frage nach der Freiheit. Als Künstler, selbst als Hure, gibt es in dieser Hinsicht große Unterschiede. Es gibt eben Huren, die in der Kälte im Regen stehen und es gibt die anderen, die unter phantastischen Bedingungen in Luxusappartments die gleiche Arbeit auf ganz andere Weise erledigen. Wichtig ist, wie man seinen Job macht und welche Möglichkeiten man bekommt. Trotzdem: Wenn ich ein wirklich gutes polnisches oder osteuropäisches Projekt in die Finger bekäme, würde ich es auch für weniger Geld machen. Aber in den letzten 15 Jahren habe ich nichts angeboten bekommen, was mich auch nur annähernd so fasziniert hätte.

Wir finden, dass Ihnen mit „Gattaca“ auch im Westen ein sehr guter Film gelungen ist.

„Gattaca“ ist eine ganz andere Tradition, eine ganz andere Art zu arbeiten. Ich kam spät zu „Gattaca“. Viel zu spät. Das Buch kann man in Amerika sowieso nicht ändern. In dem Film stecken viele Ideen von mir, die auch umgesetzt wurden, aber trotzdem könnte er, ja müsste er eigentlich besser sein. Dennoch war die Arbeit mit Andrew Niccol sehr interessant. Er ist sehr begabt und sehr feinfühlig, ein großes Talent. „Gattaca“ war sein Regiedebüt und er war einfach nicht stark genug, sich ganz durchzusetzen. Ein Beispiel: Die Testaufnahmen für „Gattaca“ habe ich in gelb gemacht. Kurze Zeit später rief mich Danny de Vito an – der Produzent des Films – und sagte: Ich mag ihre Arbeit wirklich, aber dieses Gelb – das geht nicht. Während des Drehs haben sie sich dann wieder anders entschieden. Na ja, das sind genau die Probleme, mit denen man zu tun hat, wenn man in Amerika arbeitet. Das amerikanische Studiosystem ist dem Kommunismus sehr ähnlich. Keiner weiß, wer wirklich das Sagen hat. Man bekommt irgendwelche Befehle von oben, aber es gibt niemanden, mit dem man darüber streiten oder reden könnte. Es ist ein Gemisch aus Anweisungen und Intrigen, eingewoben in undurchsichtige Vorgänge.

Wie geht es Ihnen denn, wenn Sie einen fertigen Film, ihre eigene Arbeit im Kino sehen?

Emotional berührt mich das fast nie. Ich denke an andere Sachen. An die schlechte Kopie, die schlechte Farbbestimmung, den schlechten Ton oder das schlechte Kino. Ich vermeide es, meine Filme ein zweites Mal anzuschauen, wenn ich nicht muss. Meistens ist es eine große Enttäuschung. Unsere Filme erzählen unsere Träume, intime Momente, die in unserem Innersten verborgen liegen. Jeder Makel, jeder technische Fehler, der die Intensität des Filmes mindert, tut sehr weh. Deswegen ist es für mich als Kameramann so wichtig, meine Filme bald in digitalen Kinos zeigen zu können und sie in meinem eigenen digitalen „Kopierwerk“ zu kontrollieren. Von den heutigen Kopierwerken bekommt man oft nur eine Karikatur dessen, was man sich vorgestellt und mühsam erarbeitet hat. Die Vorstellung ist einfach verlockend, dass ein Film die gleichen Farben, die gleichen Kontraste hat, egal, ob er in Berlin, Paris oder in einem Kaff in Polen läuft. Leider sind wir im Augenblick technisch noch weit von dem Punkt entfernt, an dem unsere Arbeit im Kino nicht mehr zerstört werden kann.

Das klingt nicht gerade euphorisch. Gibt es denn beim Betrachten Ihrer Filme nicht auch etwas, das sie berührt, woran Sie sich gern erinnern?

Film ist natürlich mein Leben. Beides ist für mich untrennbar verbunden. So schaue ich mir auch meine Filme an. Ich sehe nicht nur die Geschichte auf der Leinwand, sondern was dahinter steckt, die Arbeit an dem Projekt und mein Privatleben in dieser Zeit. „Gattaca“ ist deswegen besonders interessant. Uma Thurman und Ethan Hawke haben sich bei den Dreharbeiten zum ersten Mal gesehen und sich verliebt. Der Film war der Beginn einer wirklichen Liebe, einer realen Beziehung. Ich sehe mir „Gattaca“ aus diesem Blickwinkel an und freue mich über den Moment, an dem sich die beiden zum ersten Mal gesehen haben.

Sie erzählen von den Stars, den Schauspielern und Regisseuren, aber nur wenig von sich. Man hat den Eindruck, dass Sie sich in der Arbeit aufreiben, um dann durch die Hintertür zu verschwinden.

Als Kameramann steht man im Hintergrund. Man ist ein Künstler der zweiten Reihe. Das liegt wie immer am großen Ego-Problem der Regisseure. Beim Drehen sagen sie: Wir, wir, wir. Aber sobald abgedreht ist, wird daraus: Ich, ich, ich. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Das ist das System, in dem wir arbeiten. In dem Moment, in dem ich mich entschieden hatte, Kameramann zu werden, war mir klar, dass ich jemand sein werde, der anderen Menschen dient, ihre Träume zu verwirklichen. Und darüber bin ich wirklich glücklich.

Mit Slawomir Idziak sprachen Sebastian Steinbichler und Florian Vogel in London am 13.02.2000

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