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Wilde Erdbeeren: Dominik Graf

Magische Momente, Fundstücke, schöne Kleinigkeiten. Dinge, die den Film zu dem machen, was er ist, zu einem der wundervollsten Medien überhaupt.

Ein Mädchen sitzt an einem Herbstabend in Paris in einem Café und wartet auf ihren Freund. Der stellt sich ein paar Häuser weiter gerade bei einem reichen Bankier vor, auf eine Zeitungsannonce hin. Für eine Stelle als Privatsekretär. Es ist jetzt schon dunkel. Sie kann sich nichts zu trinken bestellen, denn er hat das ganze Geld bei sich. Und er hat ihr nichts da gelassen, obwohl sie ihn darum gebeten hatte. Mit dem Geld ist es bei den beiden an diesem Tag ohnehin so eine Sache: Gestern abend hat ihr Freund wieder einen Boxkampf verloren. Es war seine letzte Niederlage, er wird nicht mehr in den Ring steigen. Niemand will ihn mehr dort sehen. Er hat keine Zukunft. Also haben die beiden heute alles verkauft, was sie nicht unbedingt benötigen. Unter anderem ihre Wintermäntel. Und nun sitzt sie in einem hellen, zu dünnen Regenmantel in dem Café und wartet. Ihr Gesicht ist weiß, es wirkt ab und zu wie überbelichtet fotografiert, und manchmal wirkt es fast ein wenig leer. Umrahmt von lockigem, dunklem Haar. Am Morgen des Tages haben wir sie noch im Bett liegen sehen. Es war schon fast Mittag. In einem weißen Bett, in der kleinen Pension, in der die beiden seit Wochen wohnten, und aus der sie sich später mit seinem einzigen Koffer und mit ihrer einzigen Tasche heimlich weggeschlichen haben, um die Rechnung nicht bezahlen zu müssen. Jedenfalls lag sie da morgens im Bett auf dem Bauch, und man sah einen Bikinistreifen auf ihrem Rücken, übriggeblieben vom letzten Sommer. War seine Liebe zu ihr im letzten Sommer noch intakt?

Wie auch immer – nun wartet sie auf ihn. Ihr Gesicht drückt Zuversicht aus. Er wird gleich kommen. Heute morgen war er etwas roh, nachdem er hart den Vorhang aufgeschoben und sie geweckt hat. Er hat ihr Halsband abgerissen. Auch das wollte er versetzen. Abends, im Café, bevor er zu seinem Vorstellungsgespräch ging, gab er ihr die Kette jedoch zurück und sagte, beim Juwelier habe er es nicht über sich gebracht, sie zu verkaufen. Sie freute sich und küsste ihn und sagte: “Ich wusste es, du kannst es nicht verkaufen. Ich kenne dich…” Aber er hat gelogen. Der Juwelier hat die Kette nämlich nicht angenommen, das haben wir gesehen. Wollte ihr Freund sie nicht verletzen? Ihr nicht sagen, dass der Juwelier die Kette ihrer verstorbenen Mutter für wertlos befunden hat? Dann war das jedenfalls seine letzte freundliche Geste für sie.

Autos fahren vorbei. Sie sieht nicht hin, sie blickt auf den Gehsteig. In einem großen, dunklen Taxi sitzt ihr Freund. Gemeinsam mit dem verbrecherischen alten Bankrotteur, dem berüchtigten Bankier, dessen Privatsekretär er nun ist. “Sind sie frei? Können sie Frankreich sofort verlassen? Heute abend?”, hat der ihn gefragt. Der junge Mann hat ohne zu zögern bejaht. “Haben sie eine Familie? Eine Frau? Eine Geliebte?” Der junge Mann hat sofort verneint. “Ich hole nur noch meinen Koffer. Ich bin sofort wieder da.” Und er ist zurück ins Café gegangen. Im Rücken seiner Geliebten hat er schnell den Koffer hinter der Theke hervorgeholt und hat sich verdrückt. Mit ihrem schönen, weißen Gesicht hat sie währenddessen hoffnungsvoll weiter in die Richtung geschaut, aus der sie ihn zurückerwartete.

Und jetzt fährt er im Auto an ihr vorbei: Da sitzt sie. Das Café inzwischen halb leer. Zwischen den wenigen Menschen sitzt sie, weiter wartend. In ihrem hellen, zu dünnen Mantel. Ein letzter Blick: Sie wird noch lange warten an diesem Herbstabend. Denn sie denkt ja, sie kennt ihn, und er wird sicher zurück kommen. Dann, später, wird sie vielleicht irgendwann fürchten, es sei ihm etwas passiert. Wird sie vielleicht die Polizei benachrichtigen? Die Krankenhäuser abklappern? In den Leichenhallen der Riesenstadt Paris in den nächsten Tagen Tote sehen? Froh sein, dass er nicht darunter ist. Aber bald auch nicht mehr ganz so froh sein, dass sie so gar nichts mehr von ihm findet, kein Überbleibsel, keine Nachricht. Und dann wird sie irgendwann plötzlich wissen, dass er sie an diesem Abend verlassen hat. Und sie wird weinen, wenn sie an ihre Hoffnungen denkt, die sie in jenem Moment noch hatte, in diesem Café. Sie dachte, sie kennt ihn. Sie kannte ihn nicht. Wo wird sie heute übernachten? Wie geht es weiter in ihrem Leben? Der nächste Mann wird es wohl schwer haben, zu ihrem Herzen vorzudringen. Denn es wird sicherlich vor Enttäuschung verschlossen sein. “This is the way we make the broken hearts” (Ry Cooder). Jetzt, in diesem Moment, steht ihr Herz noch offen für den Geliebten. Sie sieht so schutzlos aus, als die Geschichte sie verlässt – als die Kamera grußlos mit einem Blick aus einem dunklen Taxi an ihr vorüberfährt…

Es ist das Ende der Exposition. Nun kann der Film erst richtig beginnen. Er stammt von Jean-Pierre Melville. “L’Aîné des ferchaux” (“Die Millionen eines Gehetzten”, F/I 1962), nach einem Roman von Simenon. Immer ist mir dieses Mädchen im Gedächtnis geblieben. Wie eine rührende Szene, die man im Leben als unbeteiligter Zeuge miterlebt hat. Sie ist eine Nebenfigur des Films. Dass sie tragisch sein könnte, sagt schon die erste Kamerabewegung, die sie einfängt: am Abend zuvor beim Boxkampf, während der Anfangstitel. Die Kämpfer wärmen sich noch auf, da fährt die Kamera von Belmondo, ihrem Freund, aus dem Ring auf sie zu, die nervös in der hintersten Reihe der Zuschauer sitzt. Als habe ihr Freund ihr keinen Platz direkt am Ring gegeben, wo die Frauen der Boxer sonst sitzen, so als schäme er sich für sie. Die Hände in den Taschen des Mantels sitzt sie genauso da wie später im Café. Und weil so viele Zuschauer um sie herum sitzen, und weil Melville mit der Kamera nicht näher an sie heran fahren wollte, macht er sie für uns kenntlich, indem er sie in ein helleres Licht setzt als ihre Umgebung. Dieser kleine Spot auf ihrem gespannten, mitfühlenden Gesicht, auf ihrem hellen Mantel lässt sie fast wie eine Erscheinung aussehen. Als sei sie schon nicht mehr wirklich da…

Die Schauspielerin, Malvina Silberberg, ist unbekannt geblieben. Sie ist verschwunden, wie ihre Figur aus diesem Film verschwindet. Ihre Episode, von Melville mit grosser, unnachahmlicher Lakonie erzählt, erinnert mich immer daran, was Film zu erzählen vermag. Melville war ein einzigartiger B-Movie-Regisseur. Ein absoluter Meister des Thriller-Genres. Nach außen hin sind seine Filme schweigsame Maskenspiele. Sie vertrauen nicht dem üblichen Getobe und den bekannten Grimassen der Schauspieler, die ihren Rollen Identität und Emotion verleihen wollen. In Melvilles Filmen verbinden sich viel mehr die unterirdischen Flüsse in den Charakteren und in den Biographien seiner Figuren zu einem überzeugend naturgetreuen Abbild der Menschen und ihres Lebens.

Dominik Graf

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