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Interview: Angela Schanelec

Revolver: Wie würdest Du Deine Weise beschreiben, Leben im Film darzustellen?

Schanelec: Das hat mit der Dramaturgie zu tun. Die klassische Dramaturgie hat mit dem Leben überhaupt nichts zu tun: Dass die Erzählweise nicht von den Personen aus zu sehen ist, sondern von den Zuschauern. Oder davon, wie man glaubt, den Zuschauer zu bewegen. Mich interessiert es eher, wie sich die Personen bewegen, wie Dinge aufeinander folgen, wie unerwartet auch und wie wenig absehbar und wie sich Geschichten wenden. Das ist ja so unabsehbar im Leben, und ich finde es schön, wenn es im Film auch so ist. Das ist das eine. Das andere ist, dass es im Leben immer Ausbrüche gibt, Gefühlsausbrüche, dass Personen eskalieren. Die finde ich im Leben nur sehr nichtssagend und in Filmen oft sehr uninteressant.

Die Lebendigkeit transportiert sich in Deinen Filmen zu einem großen Teil auch über den O-Ton. Dadurch dass die Bilder so reduziert sind, hört man genauer hin. Welche gestalterische Rolle spielt der O-Ton in Deinen Filmen?

Ich denke, dass man im Film Ton und Bild trennen kann. Damit meine ich nicht, dass man ein Bild macht und danach den Ton dazu, sondern dass auch das Ohr bereit ist, unabhängig aufzunehmen. Man muss die Information von Auge und Ohr nicht doppeln. Manche Sachen passieren im Off, so dass man sie nur hört. Das kommt dann zu dem Bild dazu. Es ist schon so inszeniert, dass viel im Off zu hören ist. Das Bild ist so kadriert, dass das Off immer wahrnehmbar ist, dadurch dass ich immer versuche, ganz bewusst zu machen, dass wir nur einen Ausschnitt sehen. Das Entscheidende ist, dass es nur ein Ausschnitt ist. Es gibt die Ränder und das Außen. Und oft passiert das Eigentliche dort, um es bewusster zu machen. Das hat aber nichts mit dem O-Ton zu tun. Ich kann mir gar nicht vorstellen, anders als mit O-Ton zu arbeiten.

Bei der Hochzeitsszene in „Mein langsames Leben“ hast Du nicht mit Playback gearbeitet, sondern die Band hat wirklich live gespielt. Warum arbeitest Du auch mit der Musik wie mit dem O-Ton?

Das kann ich mir einfach nicht anders vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen zu erzählen, dass eine Band spielt, und in Wirklichkeit spielt sie gar nicht. Der Ton ist ein ganz realer Bestandteil von dem, was in dem Moment passiert wenn man dreht. Der klingt mit Playback einfach anders. Das ist das eine. Das andere ist, dass es auch für all die Leute, die beteiligt sind, die Darsteller oder Statisten, die tanzen, etwas anderes ist, den Ton so zu hören, wie er wäre, wenn eine Hochzeit stattfinden würde. Und auch für mich, um in dem Augenblick zu wissen, dass das die Wahrheit ist, was da passiert.

Du hast vorhin gesagt, dass Lebendigkeit mit Unvorhersehbarkeit zu tun hat. Wenn Du den Ton so aufnimmst, wie er sich in dem Moment der Aufnahme bietet, wird das Unvorhersehbare miteingeschlossen.

Das ist richtig. Man kann es noch deutlicher beschreiben an Szenen, die auf der Straße spielen. Alle meine Filme spielen in der Stadt, und diese Stadt drückt sich auch dadurch aus, dass sie laut ist, und sie ist immer laut. Auf dem Land oder in der Kleinstadt ist der Ton ein völlig anderer. Wenn ich bei einer Szene in der Friedrichstraße nicht den O-Ton hätte, dann könnte man natürlich Straßengeräusche dazumischen, aber es gibt Geräusche, auf die kommt man nicht. Oder man kann sie nicht so dazumischen, wie sie in Wirklichkeit passieren. Das merke ich gerade bei lauten Szenen immer wieder. Es gibt die Huper eines Autos oder entfernt eine Feuerwehr. Natürlich kann man alles nachmachen, aber es hat eine andere Wirklichkeit, wenn man es in dem Moment macht. Auch für Schauspieler ist es was völlig anderes. Zum Beispiel die Szene zwischen dem jungen Mädchen, die Fotografin werden will und den Mann in der Friedrichstraße anspricht. Für die Situation fand ich es richtig, dass die beiden keine Ruhe haben, sondern zwischen vielen anderen Leuten sind. Zwangsläufig sind sie inmitten von Straßenlärm und anderen Geräuschen. Es ist einfacher für die Schauspieler, wenn die Situation auch in der Realität besteht. Diese Realität bleibt spürbar als außerhalb des Bildes. Ich bin auch überhaupt nicht der Meinung, dass wenn man einen Zug hört auch einen Zug sehen muss. Es reicht, wenn man ihn hört. Das ist das was ich vorhin meinte.

Mit den Rändern?

Ja, dass das Ohr viel genauer wahrnimmt als das Auge und dass man das Ohr in Anspruch nehmen kann. Es ist schön, wenn das Ohr Dinge wahrnimmt, die das Auge nicht sieht.

Die Musik, die Du für Deine Filme auswählst, ist immer Musik, die die Figuren in dem Moment hören.

Die Musiken kommen ausschließlich aus der Situation. Es gab immer wieder Momente, in denen ich Lust hatte, die Figuren dabei zu sehen, wie sie Musik hören und was die Musik mit ihnen macht. Eine Filmmusik zu benutzen, ist natürlich was anderes. Eine Filmmusik macht ja nichts mit den Figuren, sondern mit dem Zuschauer. Obwohl ich weiß, dass es sehr gute Filmmusiken gibt, habe ich bei meinen Sachen das Gefühl, die Szenen ohne Musik sind stärker nur mit dem O-Ton. Musik gibt es wirklich nur dann, wenn die Person Musik hört und sich in einer Situation befindet, in der Musik gespielt wird. Wenn ich schreibe, habe ich nach einer bestimmten Zeit immer wieder Lust, Musik zu hören. Und dann schreibe ich über Personen, die Musik hören, anstatt am Schneidetisch Musik drunterzulegen. Wenn ich mit Filmmusik arbeiten würde, dann müsste es anders sein, als es normalerweise gemacht wird, wo der Musiker beim Schnitt dazukommt. Es müsste eine Zusammenarbeit von Anfang an sein. Man müsste von Anfang an über die Musik nachdenken. Sie darf kein Hilfsmittel sein, um ein Gefühl zu befördern.

In beiden Filmen gibt es die Konfrontation einer jungen Frau mit dem Leben in Form von Schwangerschaft und Tod. Bei „Plätze in Städten“ durch den Unfall in der Familie der Freundin und beim „Langsamen Leben“ mit dem Tod des Vaters. Standen diese beiden Pole von Anfang an fest?

Nein, die wirklichen Inhalte sind immer die gleichen. Nicht nur bei mir, sondern in der Geschichte von Film, Literatur und Kunst. Es gibt bestimmte Inhalte, die immer wiederholt werden. Dazu gehören Geburt und Tod. Jeder ist gezwungen, ein Verhältnis dazu zu haben, und sei es, es nicht oder noch nicht wahrhaben zu wollen. Die Hauptfiguren in „Mein langsames Leben“ sind zwischen 30 und 40. Das ist die entscheidende Zeit, in der die Eltern sterben und in der man Kinder bekommt. Es ist also das naheliegendste, dass es auftaucht. Interessant ist nur, wie es auftaucht. Nur deswegen kann man es immer wiederholen, weil es nie an Gültigkeit verliert. Nur deswegen überlegt man überhaupt, wie man es zeigen kann. Wie taucht Tod auf, wie nimmt man Tod wahr?

Der Tod im Langsamen Leben taucht unsichtbar auf. Der sterbende Vater ist nicht zu sehen, die Kamera bleibt außerhalb des Zimmers und der Sterbende liegt hinter einer Glasscheibe.

Ich denke man kann jemand nicht fotografieren, wenn man erzählen will, dass er todkrank ist. Das geht einfach nicht, das ist eine Lüge.

Warum?

Der Darsteller wird nicht sterben, jedenfalls nicht morgen. Oder vielleicht, aber er kann es nicht spielen. Das ist total abgenutzt. In jeder Krankenhausserie siehst Du Leute, die sterben. Das ist so geschmacklos, das verachte ich zutiefst. Das ist eine einzige Spekulation mit den Gründen, warum jemand den Fernseher anmacht. Wenn ich erzählen will im Film, dass jemand stirbt, weiß jeder, dass es ein Film ist und keine Realität. Ich war in einem Sterbeheim. Du kannst so jemand nicht bitten, für einen Drehtag zu kommen und dann richtest Du auch noch die Kamera auf ihn. Wenn man die Person zeigt, erzählt man nichts mehr. Bei den entscheidenden Dingen geht es nicht darum, dass es der Schauspieler empfindet. Es geht nicht darum, dass man Valerie sieht, wie sie ihren Vater sterben sieht. Es geht darum, dass der Zuschauer es empfindet. Was die Schauspieler empfinden, ist völlig gleichgültig. Es geht nicht darum, dass ein alter Mann toll spielt, dass er sterben wird. Man muss erreichen, dass der Zuschauer damit konfrontiert wird.

Wie gehst Du mit Körperlichkeiten im Film um? Man sieht kaum Berührungen. In „Plätze in Städten“ sind die Figuren auch noch in dicke Winterjacken eingepackt. Auch die Schwangerschaft erschien mir wie die unbefleckte Empfängnis. Nichts hat Körperlichkeit oder Intimität zwischen den Menschen auch nur angedeutet.

Ich denke, es ist unheimlich schwierig, dass Menschen sich berühren in Filmen. Es ist nur völlig selbstverständlich geworden. Godard zum Beispiel hat gesagt, einen Kuss zu fotografieren ist unmöglich. Film ist Film und nicht Realität. Und nur weil sich die Menschen ständig berühren und küssen und zusammen schlafen, heißt das noch lange nicht, dass man es im Film zeigen muss. Auch wenn man von zwei Menschen erzählt, die vielleicht anfangen, sich zu lieben. Bestimmte Sachen muss man auslassen, um sie der Vorstellung des Zuschauers zu überlassen.

Kam daher die Entscheidung, im Winter zu drehen?

Ich habe im Winter gedreht, weil ich frierende Menschen interessanter finde, als schwitzende. Gegenüber Kälte muss man sich anders verhalten. Ich gucke lieber hin, wenn sich jemand schützen muss, und auch ich kann die Schauspieler dadurch besser schützen. Sie geben nicht so viel preis. Ich versuche, ihnen ihr Geheimnis zu lassen. Da hilft manchmal auch ein dicker Mantel. Die Personen in „Mein langsames Leben“ schützen sich anders. Sie sind in einem Alter, in dem sie gelernt haben, sich anders zu schützen, als durch dicke Mäntel.

Wählst Du deshalb auch oft Kameraeinstellungen, in denen Du die Personen oder eine Person nicht preis gibst, indem Du sie zum Beispiel von hinten filmst, wie am Anfang von „Plätze in Städten“?

Oft finde ich einen Nacken und einen Pferdeschwanz viel schöner und viel richtiger in dem Moment, als ein Gesicht. Ich glaube, man hört dann auch anders hin, weil man hinhören muss, wenn man die Gesichter derer nicht sieht, die sprechen oder nur sehr eingeschränkt. Es löst sich mehr voneinander, man nimmt separierter und damit auch klarer wahr.

Das Gespräch führte Antonia Ganz am 8.März 2001 in Berlin.

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