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Peter Lilienthal: Warum Europa?

Ich wollte Euch mal ein Bild von erstaunlichen Widersprüchen entwickeln. Also, ich war vor zwei Jahren für drei Monate in Los Angeles. Wir hatten an der Europäischen Filmakademie eine völlig verrückte Idee. Und zwar sollten uns die Hollywood-Autoren sagen, wofür sie Europa brauchen – ich spreche jetzt von Filmautoren, teilweise auch von Autoren, die auch Regisseure sind – ob sie sich dafür überhaupt interessieren. Da stellte sich folgendes heraus: Erstens, dass sie das tun; und zweitens, dass sie extrem vereinsamt sind. Jeder wohnt in irgendeinem Bungalow in den Hügeln. Es gibt kein Café, wo sie sich treffen. Los Angeles: Die kräftigsten Firmen, die Hauptstadt der Kinowelt – lauter Einsame. Struktur gibt es da gar nicht. Das heisst, jeder Autor hat seinen Anwalt, seinen Manager, seinen Agenten, und natürlich taucht er ab und zu bei den Majors auf. Da sitzt er einem Typ gegenüber, der eigentlich noch nicht mal Autovertreter sein kann, der nichts versteht von irgendwas, und der noch weniger liest als unsere Redakteure beim ZDF oder in der ARD. Der verlässt sich auf eine Reihe wirtschaftlicher Entscheidungen. Ich habe mit den Leuten wirklich gesprochen und habe etwas von ihrer Seele gehört. Es war so kümmerlich. Sie waren die ärmsten Menschen, die mir begegnet sind, in den letzten zwanzig Jahren, die ärmsten. Sie bekamen im Durchschnitt für ein Drehbuch zwischen einer halben und einer Million Dollar und wussten nicht, was sie damit machen sollten. Dann sassen sie – das ist jetzt wirklich kein Stereotyp – einsam an ihrem Swimmingpool. Drogen, Drogen, von morgens bis abends, Kokain, weiss der Teufel was. Ein Ausdruck von Traurigkeit, wie ich ihn gar nicht schildern kann. Wenn sie unser Gespräch hier hören würden, die würden alle verliebt sein in uns, dass wir so schöne, liebe Gedanken haben.

Im Gegensatz dazu, das Café in Paris, wo sich ganze Schulen entwickelt haben. Wo die Kritiker der Nouvelle Vague zusammenkamen. Aber im Gegensatz zu uns waren sie nicht Filmemacher untereinander. Es waren Philosophen, Architekten, Wissenschaftler, die heute nach wie vor tragend sind für ein ungewöhnliches französisches Kino, das selbst im mittleren Bereich der Unterhaltungsfilme, die wir hier gar nicht sehen, ganz erstaunlich ist. Wir haben hier wenig von Kultur gesprochen. Die Deutschen sprechen sehr schnell von Strukturen, von denen man sich dann erhofft, dass sie diese gesellschaftlichen Zusammenhänge schaffen. Aber was uns Europäer interessiert, und was nicht zu ersetzen ist durch Strukturen, ist das Café. Ihr kennt alle die Cafés in Paris. Man kommt zusammen, hat ein kleines Gespräch mit einem Buchautor, der sagt: „Ach, du hast das und das im Kopf. Naja, gut, wir könnten mal zu dem gehen, der sitzt in einem anderen Café.“ So kommt etwas unangestrengt zusammen.

Wir hatten lange keine Hauptstadt. München war so ein bisschen provinziell, mir sehr sympathisch. Berlin – manchmal mehr so eine Insel, bisschen trostlos. Von Düsseldorf brauchen wir nicht zu sprechen. Hamburg war schön. Aber alle waren getrennt. Ich habe mir zum Beispiel mal vorgeworfen, dass ich manchmal zwei Jahre den Uwe (Brandner) nicht angesprochen oder angerufen habe, und so ging’s mir mit vielen. Wenn wir diese Cafés gehabt hätten, dann wäre ich immer irgendwo aufgetaucht. Aber in den deutschen Kneipen oder in der Diskothek, wo soll man da über das sprechen, was uns berührt? Die Liebe, ein gutes Buch, und so weiter?

Mein erster Satz in einer Filmakademie ist immer: „Wir werden über alles sprechen, nur nicht über Film.“ Da können sie sich auf den Kopf stellen. Das ist mein Grundsatz. Wir werden über Religion sprechen, über Literatur, was weiss ich, nur nicht über Film.

Ich komme noch mal zurück zu den Widersprüchen: Die Einsamkeit der Autoren in Los Angeles. Die kommen mit niemandem zusammen und machen starke Filme. Auf der anderen Seite: Schulen wie die der Neorealisten in Italien, und, wie erwähnt, die der französischen Filmemacher. Da gab es vor allen Dingen etwas, dass ich familiären Zusammenhang nennen will. Wir hier aber sind Fremde unter Fremden, mehr als je zuvor. Wir waren es immer. Wer liebt in Deutschland denn die Buchautoren? Von den Regisseuren will ich gar nicht sprechen. – So schnell wie möglich nach Italien … – Grass? Böll? Wann wurde der denn geliebt? Wann liebte man unsere Dichter? Ich hab ein vollbesetztes Stadion in Chile gesehen. Siebzigtausend, die den Geburtstag von Neruda feierten. Im Schloss von Santiago gab es Gedichte von Neruda. Wo sind unsere Gedichte hier? Das sind unsere Werte. Erst dann können wir von Filmkultur sprechen, wenn wir diese Kultur erkannt haben.

Wie ist das zu schaffen? Das hat mich interessiert. Nach elf Jahren in der Akademie der Künste (Berlin) bin ich – sehr spektakulär, was nicht meinem Charakter entspricht – weggelaufen. Die wollten wieder die Restauration. Neue Akademie am Brandenburger Tor. Ausstellen, vorstellen, prominent sein und so weiter. Ich hab gesagt, wir treten ein in das Zeitalter der Nomaden. Wir brauchen kein neues Haus. Wir brauchen Zelte, Wohnwagen, und an dieser Stelle vor dem Brandenburger Tor ist mir lieber ein neues Las Vegas, ein Kinderspielplatz, oder sonst irgendwas, aber keine neue Akademie. Sie haben eine Dreihundertjahrfeier gemacht. Ich muss das nur schnell sagen, weil es alles mit Kultur zu tun hat, mit der Kultur des Dialogs. Ich habe ihnen gesagt: „Da mache ich nicht mit. Ich würde gerne eine Retrospektive von all denen machen, die nicht aufgenommen wurden in der Akademie. Der Rest, das waren Arschkriecher der Monarchen“ und so weiter. Die Nachkriegsgeneration hat das nicht begriffen. Die sitzen da wieder am Brandenburger Tor, am Ort des Verbrechens und feiern Dreihundertjahrfeier mit irgendwelchen Gipsbüsten.

Ich habe das unterwandert mit fünf Jahren Sommerakademie, wo ich Gott und die Welt eingeladen habe. Wir haben dort interdisziplinäre Gespräche geführt, also zum Beispiel mit einem chinesischen Physiker, der über Kochkunst gesprochen hat, oder einem deutschen Astronauten, der über die Farbe Schwarz gesprochen hat. Der Astronaut, ein Mensch von einem anderen Stern. Ich habe das auch erlebt. Der hatte eine Vibration, die sich mitteilte, das war phantastisch. Ein reiner Techniker übrigens von der TU. Er hat uns erzählt, dass er durch diese Erfahrung zum Dichter wurde. Er hat Gedichte geschrieben, wie viele, die diese Erfahrung gemacht haben, im All. Es war dieses Durcheinander von Leuten und die Proklamation von mir, dass jeder, der sich einschreibt, nichts machen muss. Wir haben die Ineffizienz kultiviert. Er soll sich auf den Boden legen und nicht so viel plappern, schon gar nicht über Kunst. Entspannen – das war das Thema.

Ich finde es so phantastisch, dass wir hier zusammen kommen. Es lohnt sich, von Strukturen zu sprechen, aber das wirkliche Defizit besteht in etwas anderem. Nämlich im Nichtanerkennen des Ausschweifens, sozusagen. Wer sind unsere Verbündeten? Das sind nicht die Leute vom Fernsehen, das sind nicht die Bürokraten von den Förderungen, das sind nicht die Bürokraten von der Europäischen Kommission, und erst recht nicht die Fonds, die sich jetzt bilden. Es ist leider auch nicht der Pöbel, der sich etabliert hat, der diese Fernsehprogramme anschaut.

In einem Buch, das jetzt der Verlag der Autoren herausgebracht hat, gibt es eine phantastische Anekdote von einem Serienautor, einem Herrn Reitinger. Der erzählt folgendes: Was kann man dem Publikum am späten Nachmittag in der Vorabendserie zumuten? Und da sagt er: „Naja, wenn die anfangen zu essen, dann kann man ihnen bestimmte Flüssigkeiten nicht mehr zumuten und auch gewisse Pornosachen nicht. Aber das tu ich ja bestimmt nicht. Nur, wenn das Essen zu Ende ist und die anfangen zu knabbern, dann muss man aufpassen. Dann gibt es nämlich den sogenannten Negerknick.“ Ich dachte, was ist denn das? „Negerknick ist, wenn in einer Serie eine dunkelhäutige Person auftaucht, dann schalten“, aufgepasst, „25 Prozent aller Zuschauer um. Aber“, und das sagt ein Serienautor, nicht ich, „wenn diese dunkelhäutige Person einen Hund dabei hat, dann bleiben sie.“ Das ist keine Ironie. Das ist die Aufgabe, die man ihm erteilt.

Ich habe mit einem Mann von Kinowelt gesprochen, und da war nur eins bemerkenswert, dass er immer wieder sagte: „Ja, ja ich habe eigentlich wenig Zeit zu lesen, aber es gibt natürlich Sachen, die mir gefallen. Aber es sind die Aktionäre, die ab jetzt entscheiden. Wenn mir was gefällt, dann gebe ich das dem Herrn Soundso, das ist mein Vorgesetzter. Der wird dann entscheiden, ob er es überhaupt den Aktionären vorstellt, und dann werden wir vielleicht ein Geschäft machen.“ Fast dasselbe Argument bekommt man von den älteren Dramaturgen im WDR. Die sagen: „Es hat eigentlich gar keinen Zweck, dass ich diesen Stoff annehme, weil mein Vorgesetzter den bestimmt nicht mag.“ Mit anderen Worten, das subalterne Gefüge hat sich noch mal vergrössert. Es ist so gigantisch, dass jeder so unsicher geworden ist und nichts mehr riskiert, das ist klar. Wozu auch?

Lektoren und Dramaturgen gab es ja nie im Fernsehen. Das ist eine Legende. Das waren Leute, die aus der Soziologie kamen und freundschaftlich mit uns verkehrten, die auch eine gewisse Leidenschaft für die Sache hatten, aber sie konnten es von ihrer Position aus nicht wahrnehmen, denn sie waren Halbproduzenten und Halbdramaturgen. Die sogenannten Auftragsproduzenten – das hat Kluge uns beigebracht – waren in Wirklichkeit gar keine Produzenten, sondern Agenten. Die hatten auch gar kein Interesse an dem Produkt. Sie bekamen das Geld vom Fernsehen und steckten sich die sogenannten HU (Handlungsunkosten) ein und das Übriggebliebene, was man so irgendwie vernuscheln kann. Diese Leute waren hybrid. Sie waren weder das eine noch das andere. Mit dieser Meute hatten wir zu tun und es wirkt sich bis heute auf alles aus – auf die Moral vor allem, die geschändete, die gibt es nicht mehr. Es ist das, was vorher angesprochen wurde. Die Katastrophe im Fernsehen, wo man anschaltet und denkt, was ist da los, sind die alle verblödet, haben die gar keine Sehnsucht mehr?

Aus einem Gespräch mit Uwe Brandner, Peter Lilienthal, Werner Penzel, Josef Rödel, Christian Wagner. Thema: Produktionsstrukturen in Deutschland. Revolver: Jens Börner, Benjamin Heisenberg, Christoph Hochhäusler, Sebastian Kutzli, Hans Steinbichler. München, 05.10.2000. Bearbeitung: Benjamin Heisenberg, Sebastian Kutzli.

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