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Cristina Nord: Der Tiger im Baum

Im April vergangenen Jahres widmete das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel im schweizerischen Nyon eines seiner Ateliers einem Filmemacher, dessen Arbeit mir sehr am Herzen liegt. Es handelt sich um Apichatpong Weerasethakul, einen 1970 geborenen Thailänder, der nicht nur fürs Kino, sondern auch als Videokünstler arbeitet, sich also im Grenzbereich von Kunst und Kino bewegt. Im Vorjahr, im Frühling 2004, lief sein Film „Tropical Malady“ im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes; es gelang mir damals, einen Interviewtermin mit dem Regisseur zu bekommen, und seither suchte ich nach einer Gelegenheit, diese Begegnung und meine Faszination für Weerasethakuls Filme in einem Zeitungstext wiederzugeben. Weil der Abdruck eines solchen Textes ohne Anlass in einer Tageszeitung unüblich ist, kamen mir die Visions du Réel gerade recht: Indem ich auf die Schweizer Werkschau verwies, konnte ich das Porträt Weerasethakuls in der Zeitung platzieren. Einige Monate später fand ein kleiner deutscher Verleih den Mut, „Tropical Malady“ in die Kinos zu bringen. Eine glückliche Geschichte mithin, an deren Rand sich jedoch eine nicht ganz so glückliche Petitesse zutrug. Was nämlich nicht gelang, war, mit einer Ankündigung auf der Seite eins auf das Porträt im Feuilleton hinzuweisen. „Warum nicht?“ wollte ich vom zuständigen Redakteur wissen. „Den kennt doch keine Sau“, antwortete er. Wäre es um Steven Spielberg oder um Peter Jackson gegangen, ein Hinweis auf Seite eins hätte kein Problem dargestellt. Bei einem unbekannten Regisseur ist das anders: Der wird im Kulturteil einer Zeitung vielleicht eben noch geduldet, nicht aber auf der ersten Seite. Da macht die „taz“ keine Ausnahme.

Ich erzähle diese kleine Anekdote, um zu veranschaulichen, dass Filmkritik umso weniger Freunde hat, je weiter sie vom Pfad des Blockbuster-Kinos abweicht. Das hat zu tun mit etwas, was man recht allgemein Strukturwandel der Öffentlichkeit nennen kann – konkreter bedeutet es zum Beispiel, dass sich die Feuilletons heute mehr als vor 20 Jahren an Ereignissen und Events ausrichten, an dem, was ohnehin durch grossflächige Marketingmassnahmen präsent ist. „Star Wars“, „Der Untergang“ und „München“ bündeln die Aufmerksamkeit, und wenn in diesen Wochen „Das Leben der Anderen“ landauf, landab als erste valide filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Staatssicherheit gefeiert wird, erinnert sich schon niemand mehr, dass es vor zwei Jahren einen ausgezeichnete Essayfilm zum selben Thema gab: „Aus Liebe zum Volk“ von Eyal Sivan und Audrey Maurion. Gegen das grosse Erzählkino mit den Stars und den schmachtenden Blicken kommt ein Essayfilm nicht an, so klug er auch sein mag.

Zu dieser Kurzatmigkeit kommt ein Verschulden der Kritiker, haben doch viele von ihnen gar keine Lust, sich auf unerschlossenes, unwegsames Terrain zu begeben. Als etwa Vincent Gallos Roadmovie „The Brown Bunny“ 2003 in der Zweistundenfassung im Wettbewerb von Cannes lief, waren die Reaktionen der Kritiker schon während der Pressevorführung vernichtend, und als Romuald Karmakar im Folgejahr sein Kammerspiel „Die Nacht singt ihre Lieder“ im Wettbewerb der Berlinale vorstellte, ereilte ihn dasselbe Schicksal: Unflätige, empörte, tuschelnde, johlende, buhende Filmjournalisten wollten partout nicht bis zum Abspann warten, um ihr Unverständnis zu äussern. Es ist derselbe Reflex, den Roland Barthes vor knapp 50 Jahren in seiner Notiz „Stumme und blinde Kritik“ beschrieb: „In Wahrheit ist jeder Vorbehalt gegenüber der Bildung Ausdruck einer terroristischen Position. Den Beruf eines Kritikers ausüben und verkünden, dass man nichts vom Existentialismus oder Marxismus verstehe (denn durch eine ausdrückliche Feststellung sind es insbesondere diese beiden Philosophien, von denen man sagt, dass man sie nicht begreife), heisst seine eigene Blindheit oder seine eigene Stummheit als universale Regel der Wahrnehmung aufstellen, heisst den Marxismus und den Existentialismus aus der Welt verbannen: ‚Ich verstehe es nicht, also seid ihr dumm.’“ Ersetzen Sie Existentialismus durch nicht-narrative Filmlogik, Marxismus durch theaternahe „mise en scene“, und Sie können Barthes’ Text als Analyse gegenwärtiger Borniertheiten begreifen.

Es ist dies eine seltsame Tendenz, und sie erstaunt mich umso mehr, als das Kino für mich ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Ins Kino zu gehen und Unvertrautes zu sehen, gehört für mich untrennbar zusammen. Auf der Leinwand vergrössert sich die Welt, vervielfältigen sich die Genüsse und Erkenntnismöglichkeiten. Mag die Verwandtschaft von Kino und Reisen ein wenig überstrapaziert sein, mag man sich, sobald man sie anführt, in den zu grossen Fussspuren Serge Daneys bewegen, wirksam und aufschlussreich ist diese Analogie dennoch, insofern beides, das Kino wie die Reise, Unvorhergesehenes mit sich bringt, insofern beides überfordert, die Sinne anregt und anstrengt, vielleicht überanstrengt, aber zugleich Neugier entfacht, das Denken und die Wahrnehmung herausfordert. Ich habe so vieles im Kino zu sehen und zu verstehen gelernt, Dinge, die ich um keinen Preis missen möchte, weil sie zu meiner „éducation sentimentale“ wie zur Schulung meiner Wahrnehmung beitrugen: wie der Schimmel in Georges Franjus „Le sang des bêtes“ in die Knie geht, nachdem der Schlachter ihm die Kugel verpasst hat; wie in Jean Rouchs „Les maîtres fous“ die westafrikanischen Wanderarbeiter sich versammeln, um in der Trance, im religiösen Ritual mit den Erfahrungen von Kolonisierung und Modernisierung umzugehen; wie in Chantal Akermans „De l’autre côté“ die mexikanischen Flüchtlinge als weisse Schemen über die Grenze in die USA ziehen; wie die Bäuerinnen in Lav Diaz‘ „Evolution of a Filipino Family“ die Büffel in endlosen Plansequenzen durch das Bild treiben; wie Volker Spengler in der Rolle der transsexuellen Elvira in Rainer Werner Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ durch ein kaltes Frankfurt irrt; wie der Tiger in Apichatpong Weerasethakuls „Tropical Malady“ von der Leinwand hinunterblickt; wie … Die Liste könnte ewig so weiter gehen. Und statt sich all diesem Reichtum anheimzugeben, wollen alle immer nur „Star Wars“?

In den USA, klagt die Kritikerin und Kuratorin B. Ruby Rich, reicht dies so weit, dass ausländische Filme ein trauriges Schattendasein fristen. Die grosse Mehrheit der US-Amerikaner guckt sie nicht. Den Grund dafür sieht Rich weniger in der Faulheit, Untertitel und Bild gleichzeitig zu verfolgen, sondern in einer verhängnisvollen Einsprachigkeit: „Monolingualism posits a monocultural world, one where ‚our‘ values are not merely dominant but genuinely shared and undisputed. A childlike image of the world, it is an image of the self unwounded by the other, a self uninformed by the other, oblivious to its status, inured to its needs, cozy in a cocoon of what once upon a time was called ethnocentrism and now, borrowing a term from queer studies in order to change it, might be known instead as imperial normativity.” Wer seine Weltanschaung nie mit etwas konfrontiert, was ausserhalb davon liegt, kapselt sich ein; wer seine Wahrnehmung nie mit der Wahrnehmung eines Gegenübers abgleicht, regrediert. Was bleibt, ist das narzisstische Vergnügen, sich nichts Neuem auszusetzen.

Der in Chicago lebende Kritiker Jonathan Rosenbaum beschreibt in seiner Streitschrift „Movie Wars. How Hollywood and the Media Limit What Movies We Can See“ die Kehrseite zu dem von Rich konstatierten Mangel: den Überfluss an Filmen, die trotz ihrer Mässigkeit ein grosses Echo in der Presse finden. Filmkritik und Filmmarketing, so Rosenbaum, seien im Begriff, ineinander überzugehen. Wo Drehberichte und Porträts von Regisseuren oder Stars die Filmberichterstattung beherrschen, rückt das kritische Urteil in den Hintergrund, und zugleich verhält sich der Marketingetat einer Filmproduktion proportional zur Aufmerksamkeit, die ihr gezollt wird. Wenn es an der Tagesordnung ist, Filmjournalisten auf Kosten der Produktionsfirmen an Drehorte oder zum Interviewtermin reisen zu lassen, gehört die Unabhängigkeit des Kritikers der Vergangenheit an. Rosenbaum notiert: „This isn‘t to say that critics aren‘t free to express their dislike for certain expensive studio productions; what they aren‘t free to do, in most cases, is to ignore these releases entirely or focus too much of their attention on films whose advertising budgets automatically make them marginal in relation to the mainstream media.“ Schwer hat es, wer vor diesem Hintergrund seine filmästhetischen und filmgeschichtlichen Vorlieben pflegen möchte. Die Nonchalance, über einen schlechten Neustart hinwegzugehen, muss man sich genauso wie den Einsatz für Experimentelles, Sperriges leisten können – Schmuggler muss man werden.

Ganz so weit ist es hier noch nicht. Richs These etwa lässt sich allein schon deshalb nicht umstandslos auf die Situation hier übertragen, weil wir an US-amerikanische Filme gewöhnt sind und dadurch eine Fremderfahrung als Alltagserfahrung geniessen. Unsere Kinoerfahrung ist mithin immer schon zweisprachig. Es geht mir auch nicht darum, das europäische Kino gegen die Hegemonie Hollywoods stark zu machen – das hat das europäische Kino umso weniger verdient, je tiefer es im Arthouse-Einerlei versinkt. Es ist auch nicht so, dass man in den hiesigen Zeitungen keine Rezensionen zu „Tropical Malady“ lesen könnte, sobald der Film ins Kino kommt. Das Problem ist eher, dass es viele Filme wie „Tropical Malady“ gibt, die nie ins Kino kommen, und dass der Raum zur filmkritischen Reflexion jenseits der Neustarts knapp bemessen ist. Da Neustarts meist das Erzählkino privilegieren und damit eine Filmkritik hervorbringen, die sich dem Psychologisieren und dem Nacherzählen verschreibt, entsteht die Monokultur, die mich betrübt. Durch den Hang zum Event im Medienund Kulturbetrieb wird diese Entwicklung hin zur Einförmigkeit vorangetrieben.

Dagegen, denke ich, sollte eine Filmkritik, die auf sich hält, sich wehren. Ohne heroischen Avantgardegestus, ohne Besserwisserei und Sektiererei, dafür mit Beharrlichkeit und vor allem mit Leidenschaft, Neugier und Offenheit. Umso erfreulicher, dass die Filmkritik in Gestalt der DVD-Kritik eine kleine Schwester bekommen hat. Wenn diese den Reichtum von Filmgeschichte und -gegenwart wachhält, spürt hoffentlich auch jene den Drang, mehr wagen und wissen zu wollen.

Roland Barthes: „Stumme und blinde Kritik“, in: R. B.: Mythen des Alltags, Frankfurt/ Main, edition suhrkamp, 2003, S. 33–35.

B. Ruby Rich: „To Read or not to Read: Subtitles, Trailers, and Monolingualism”, in Atom Egoyan, Ian Balfour (ed.): „Subtitles. On the Foreignness of Film“, Massachusetts Institute of Technology Press, Cambridge, London, 2004, S. 153–169.

Jonathan Rosenbaum: „Movie Wars. How Hollywood and the Media Limit What Movies We Can See“, A Cappella Books, Chicago, 2000.

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