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Rüdiger Suchsland: Kann ein Seismograph utopisch sein?

Gedanken zur Arbeit

Kann ein Seismograph utopisch sein? Und darf er das? Ein Kritiker, scheint mir, ist jedenfalls ein Seismograph. Wer viel im Kino ist, ist auch empfänglicher für die feinen Reize und insofern ein besserer Seismograph als jemand, der nur zweimal im Jahr ins Kino geht. Das ist es vielleicht schon, was den Kritiker vom Rest unterscheidet und was überhaupt diese Anmaßung erlaubt, über Filme zu schreiben und zu urteilen.

Was ist Aufgabe der Filmkritik? Wir beschreiben aktuelle Arbeiten, verorten sie im historischen Kontext, schaffen stilistische und intellektuelle Verbindungen. Und wir urteilen. Wir sagen, ob dieses Werk gute oder weniger gute Kunst ist oder schlechte oder gar keine. Wir sagen, ob es ansonsten etwas taugt, und wenn ja, was. Und wir sagen – jedenfalls implizit – damit immer auch, was überhaupt Kunst ist, wo sie beginnt, wo sie aufhört.

Der Rückzug aus dem Urteil ist die größte Gefahr für die Kritik und für die Kunst selber. Auch wenn Enno Patalas mal geschrieben hat: „Urteilen kann jeder.“ Heute ist es eher das Problem, dass es offenbar keiner mehr kann und kaum einer wagt.

Kritik bleibt unser Kerngeschäft. Neugier, verbunden mit urbaner Ungläubigkeit, die sich nichts vormachen lässt. Man darf Vorlieben haben, Freunde haben – anders ginge es gar nicht. Aber es gibt zu viele, auch renommierte, Kollegen, die – gerade leider im Umgang mit deutschen Filmen – zu nachsichtig sind. Die falsche Gnade walten lassen. Das nutzt noch nicht mal den Filmen.

Klarheit, manchmal Härte, manchmal ungerechtes Hinsehen gehören dazu. Es geht nicht immer um Wahrheit. Es geht manchmal auch um Bewegung. Darum, anderes sichtbar zu machen, sich und dem Film (dem einzelnen, dem Kino insgesamt) Raum zu verschaffen.

Es ist anstrengend, wie wenig offen manche Kollegen sind. Ein ganz merkwürdiges Phänomen: Wie sich bei Festivals oder nach Pressevorführungen schnell eine Richtung herausschält, ein Film auf einen Punkt gebracht wird, wie sich dann gleich ein paar Formeln ausprägen, was mir eigentlich immer ein bisschen zu schnell geht. Und ca. 80 % der Kollegen schreiben dann auch genau das.

Die Arbeit eines Filmkritikers ist zuerst einmal die, ins Kino zu gehen. Dann vor allem die am Schreibtisch; man sitzt und schreibt Texte. In den meisten Fällen bekommt man auch Geld dafür. Es gibt natürlich auch Fälle, in denen man etwas schreibt, weil man einfach was für den Film tun will oder für denjenigen, dem man den Text dann überlässt – und dafür kein Geld bekommt. Aber im Prinzip muss ich auch genug dafür bekommen, um davon leben zu können. Insofern ist es tatsächlich so, dass ich erst einmal für den schreibe, der mir den Text abkauft, also für den Redakteur, den Verlag, das Organ, für das ich schreibe. Das heißt, ich muss einen Text bieten, der zuerst dem entspricht, was vom Redakteur gewollt wird, der Zeitung, wie sie sein möchte, sich selber sieht, das eigene Publikum. In diesen Rahmen muss ich passen.

Filmkritik ist ein persönlicher Prozess, in dem man zunächst mit seinen eigenen Blockaden zu kämpfen hat – was ja einerseits eine Selbstverständlichkeit ist, die für jedes Schreiben gilt (daher keinesfalls abzutun, aber doch nicht speziell charakteristisch für Filmkritik), andererseits genau auf das Zentrum des Problems verweist: die Nichtexistenz einer Filmkultur im Sinne eines Diskurses über Film, eines Austauschs, der das Persönliche abwerfen und überschreiten, aufheben kann. Stattdessen Befindlichkeitsjournalismus, der nicht schlecht ist, aber doch bescheiden im Anspruch, weil hypersubjektiv. Oder der schnöde Alltag, der über die Bewertung, die Be- und Aburteilung nicht hinausgeht. Schon aus Platzgründen, und weil „unsere Leser das nicht verstehen“ (meine Erfahrung jedenfalls). Vielleicht kommt ein Freispruch raus, aber selbst vor Gericht könnte man in die Berufung gehen, der Filmkritik aber fehlt selbst das, die Kritik der Kritik. Vier Wochen nach Filmstart zum Beispiel.

Es fehlt der Filmkritik eine Vorstellung von sich selber. Weil sie die nicht hat, ist sie immer nahe dran an Würdelosigkeit. Es gibt nichts Schlimmeres als Kritiker, die sich von Interviewpartnern Autogramme abholen. Aber man sieht das auch an der Unsitte des Gegenlesens von Interviews – in Frankreich eine Unmöglichkeit –, in der Macht von Agenten und Presseagenturen. An der Macht, die Kritiker den Produzenten und Verleihern einräumen – ohne Not. Ein US-Blockbuster hat, wie schlecht er auch sein mag, in Deutschland keine Chance, nicht besprochen zu werden.

Das charakteristisch Deutsche ist also die Abwesenheit solcher Filmkultur. Auch des Interesses der Filmemacher/Darsteller/Produzenten, die Gewissheit, in uns Verbündete und nicht Feinde zu haben.

Die EINE Veränderung, die ich mir für die Lage der Filmkritik wünschte, ist damit benannt: Selbst-Bewusstsein, eine Vorstellung von sich selber, eine Haltung und ein selbstreflexiver Diskurs, in dem sie sich bilden könnte. Abschied vom Alltag.

Hinzu kommen viele Wünsche: mehr Freiheit, mehr Geld, bessere Redakteure, was alles die Texte und damit die Filmkritik besser machen würde. Aber wäre mehr Aufmerksamkeit und Neugier und Interesse da, damit auch mehr Selbstdisziplin bei mir und anderen, also mehr Filmkultur insgesamt, wäre es mit dem Rest wohl auch getan.

Was mich wirklich stört: Die Selbstgleichschaltung von Filmkritik. Die Scheu vor Streit. Die Gefälligkeit vor der Macht. Und vor dem juste milieu, vor dem, worauf sich die Gesellschaft – aber wer? warum? – einmal verständigt hat. Jüngstes Beispiel: DAS LEBEN DER ANDEREN. Ein Film, der nicht die Kritik bekommt, die er sich verdient hat.

Lobeshymnen und falsche Gnade sind kein Menschenrecht. Wir alle lieben Filme. Dass wir darüber schreiben, ist kein Gegenargument. Wir wollen also Filme sehen, gute und weniger gute, gern auch darüber reden, schreiben und den Diskurs mit den Filmemachern suchen. Filmemacher und Filmkritiker eint schließlich diese Liebe zum Kino. Am Einspielergebnis aber sind die Kritiker nicht beteiligt. Sie sollen sich um die Filmkunst sorgen, nicht um die Geldbörsen der Produzenten. Filmkritiker gehören auch nicht zur „Branche“. Wir sind keine Handlanger für den Erfolg an der Kinokasse. Es gibt gute Filme, die nie, schlechte Filme, die leicht die Feuilletonaufmerksamkeit erreichen und/oder Kasse machen. Das darf den Kritiker nicht kümmern.

Kritik heißt Unterscheidungsvermögen. Und Neugier. Bereitschaft zur Analyse und zum Streit. Die erste Tugend aber bleibt das Hingucken. Geschmack ist interessant, wichtig und manchmal das Wesentliche. Gute Kritiker sind Seismographen, die sich eine Vorstellung davon bewahrt haben, was sein soll, was sein könnte und nicht ist. Die unbequeme Botschaft guter Texte ist vielleicht, dass man über das Gelesene auch noch reflektieren muss und dass sie eben nicht nur Urteile formulieren.

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