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Interview: Clemens Klopfenstein

Revolver: Wie bist du zum Film gekommen?

Klopfenstein: Nach der Schule konnte ich in Ostermundigen bei Schwarz Film im Labor arbeiten. Ich dachte, man kommt via Labor zum Film, was natürlich ein Blödsinn ist. Ich musste den lieben langen Tag immer nur Zugfilm kontrollieren, habe aber immerhin die wichtigen Kameraleute, wenn sie ihr Material brachten, gesehen, nur gesehen. Das war noch das ganz klassische Kino.

Zur gleichen Zeit haben wir unsere experimentellen 8mm-Filme à l’americaine gemacht und auf den ersten und zweiten Solothurner Filmtagen ziemlichen Erfolg gehabt. Papas Kino war tot und so weiter. Nach der Filmschule kam mein Spielfilm: „Die Fabrikanten“. Ein ziemlicher Misserfolg. Darin ging es um die Uhrenindustriekrise in der Schweiz. Das waren fast alles kleine Familienfirmen, 700 in Bern. 600 davon sind eingegangen, innerhalb von drei, vier Jahren. Einer, der eigentlich nur kontrollieren sollte, hat das Potential gesehen, anonym die Aktien aufgekauft – die waren billig zu haben – und nannte den Zusammenschluss Swatch. Der größte Industriekonzern der Schweiz.

Ich muss erzählen, dass mein Vater Advokat war. Seine Freunde, kleine Fabrikanten, versuchten in der Krise mit allen Mitteln zu Geld zu kommen. Schmuggel in den Libanon, alles mögliche, es gab Tote, und das hat mich natürlich sehr interessiert. Nachts ließ mein Vater seine Akten zu Hause auf dem Pult liegen; kaum war er im Bett, habe ich das alles gelesen. Auf der Filmschule dachte ich, das wäre ein Thema: Uhrenschmuggler, die sich gegenseitig aus Nachtzügen werfen, ein Riesending. Präparierte Autos mit Geheimverstecken.

Du hast auch einen Krimi geschrieben, der verboten wurde: „Die Migros-Erpressung“.

Mein Lehrer an der Filmschule, der große Kurt Früh, hat mir und Markus Nester gesagt: Ihr seid die Krimileute. Er wollte uns sogar produzieren. Dann haben wir lange, sehr lange an einem Film herumgeschrieben, für den wir die Gelder nie fanden. Und ich kam dann zum Glück aus dieser ersten Filmphase raus, indem ich das eidgenössische Stipendium für Malerei gewann. In Rom. Das hat mich gerettet, denn „Die Fabrikanten“ war ein Wahnsinnsflop. Ich war froh das Land zu verlassen, ich wollte nie mehr mit Film zu tun haben, wollte wieder malen und vielleicht später unterrichten.

In Rom habe ich dann ein fiktives Tagebuch begonnen, ein freches. Dem Markus habe ich es gezeigt, und er hat gesagt: Oho! So wurde es ein doppeltes Tagebuch: Darin komme ich ohne Geld in die Schweiz zurück und lebe bei ihm. Er ist ein braver Bürger, was er auch zugibt. Und wir zwei prallen aufeinander. Ich bin kursiv gedruckt und er ist gerade. Und dann kommt die Geschichte, wie man die Migros erpressen könnte. Eine Supermarktkette, aus ganz linken Motiven gegründet und mittlerweile ziemlich rechts. Wir haben beschrieben, wie man Milch vergiften kann. Aber das Problem bei jeder Erpressung ist ja die Geldübergabe. Erpressen kannst du immer. Man muss nur wissen, wie wenige Polizisten nachts im Einsatz sind; wenn man zeitgleich mehrere Geldübergaben stattfinden lässt und sich mit einem Teil des Geldes begnügt, dann lassen sich die Ordnungskräfte verteilen und ablenken. Man kann diese Anweisungen heute noch gebrauchen, weswegen das Buch dann auch aus dem Verkehr gezogen wurde. Denn das Buch geht gut aus: Verbrechen lohnt sich. Die Migros wurde daraufhin vier Mal auf diese Art erpresst. Ich nehme an, dass einige Leute, die mein Buch gelesen haben, inzwischen im Gefängnis sitzen.

„Die Migros-Erpressung“ ist auch sehr privat, sehr ehrlich. Schweizer Lehrjahre des Gefühls – „L’education criminelle“. Man fragt sich, wie ist er aus dieser Depression wieder raus gekommen?

Mein großes Glück war das Stipendium in Rom. Weil ich Ruinen zeichnete, sagten die, der muss nach Rom. Ich wollte Rom aufsaugen, aber das war tagsüber gar nicht richtig möglich. Man war damals sehr froh, wenn man nicht überfahren wurde. Deshalb bin ich des Nachts alleine durch die Stadt gewandert, habe gezeichnet und Fotos gemacht. Und dann kam Kodak mit einem neuen Material raus. Da bin ich zu Schwarz Film, die Techniker, die ich dort kannte, interessierte das auch, denn ich wollte nicht nur 400 ASA, ich wollte mehr. Zum Schluss haben wir es bis zu 3200 ASA hoch gekocht. Das konnte man nicht tagsüber machen, das war zu teuer. Aber man sagte mir, komm um fünf am Abend, bleib die ganze Nacht und koch das Zeug. Um sechs Uhr morgens kam manchmal nur Schwarz raus, aber manchmal war etwas drauf, und ich torkelte ins Freie, ins Sonnenlicht und war sehr glücklich.

Das wurde dann die „Geschichte der Nacht“.

Ich zeigte die Nachttests in Solothurn in einem Kurzfilmprogramm, und eine Redakteurin des kleinen Fernsehspiels hat mich sofort nach Mainz eingeladen. Dann konnten wir ein Jahr lang rumreisen.

Der Hugo Sigrist hat den Ton gemacht mit der ersten Mini-Nagra. Ich nahm eine Bolex H 16, die keinen Reflex hat, so dass wirklich alles vorhandene Licht auf den Film kommt. Die machte so einen Lärm in der Nacht, dass ich immer einen Kilometer weit weg sein musste. Wir haben gesagt: „Um fünf wieder beim Hotel.“ Er hat seine Töne gemacht und ich meine Bilder. Weil es noch nie jemand gemacht hatte, ohne Kunstlicht in der Nacht drehen, war das dann so ein Erfolg in Berlin. Das klassische Drehen, was mich der Kurt Früh gelehrt hatte, das musste ich eigentlich erst wieder vergessen, um zum Film zu kommen. Meine Freunde, die wirklich zum Film wollten, sind mit 35mm, Blimp und Schienen Bankrott gegangen. Die „klassische“ Kapitalvernichtung.

Aber die rentable Herstellung kleiner Filme kann der subventionierten Branche nichts nützen.

Was heißt das: nichts nützen? Ja gut, als „Das Schweigen der Männer“ den ersten Filmpreis bekam, war das ein Skandal, es wurde gebuht. Dass wir mit High-8 gedreht haben, mussten wir verschweigen. Aber alle wussten es natürlich. Dabei hat das High-8 dieses wunderbar Pastellartige, so flach. Wie Kreidezeichnungen. Erst als wir bei „Werangstwolf“ High-8- und Digi-Cam-Material mischen mussten, sind mir die Qualitäten des High-8 aufgefallen. Ich liebe auch das amerikanische Technicolor – ich weiß nicht, ob es an dem Printverfahren liegt –, wegen dieser malerischen Unschärfe der Kanten. Ich habe es nicht so gerne, wenn man die Requisitennummern hinter den Schränken zu sehen glaubt. Sophie Scholl könnte ich nie anschauen. Die bewegte Kamera mache ich ja, damit das Bild nicht zu ästhetisch wird. Mein Vorbild dabei ist de Kooning, der so malt, wie ich schwenke. Beim „Schweigen der Männer“ habe ich manchmal gar nicht durch den Sucher geschaut, sondern die Kamera einfach so hingehalten. Auf der Filmschule wurde mir noch eingeimpft: Wenn ein Schwenk mal von A nach B geht, darf er nie mehr zurück von B nach A, weil man ja weiß, was dort ist. Ich mache das extra, denn manchmal ist ja auch jemand anders da, kann ja mal sein.

Man kann kaum glauben, dass „Eine nachtlang Feuerland“ eine Auftragsproduktion war.

Als ich für Christian Schocher bei „Reisender Krieger“ die Kamera machte, rief mich wirklich verzweifelt ein Redakteur vom Schweizer Fernsehen an und sagte, er müsse jetzt irgendwie diesen 25Jahre-Schweizer-Fernsehen Jubiläumsfilm machen. Es hatte eine Ausschreibung bei Dichtern und Literaten gegeben für ein Drehbuch. Und die Jury hatte sich entschieden für einen achtzigseitigen inneren Monolog eines Mannes, der in der Kneipe sitzt und Schnaps trinkt. Ich war der siebte oder achte Regisseur, der gefragt wurde. Keiner wollte es machen. Ich habe natürlich sofort zugesagt, auch wenn das Buch blöd war. Wenn das Fernsehen schon mal zu mir kommt. Von der Vorlage, dem inneren Monolog, sind zehn, vielleicht fünfzehn Sekunden im Film drin, wenn er sich einen Kräuterschnaps bestellt, stumm. Das ist alles. Erst waren sie sauer beim Sender, aber später wollten sie das Geld vom Ophüls-Preis. Sie bekamen nur die Bronzestatue, und die wurde ihnen dann gestohlen. Nicht von mir.

Dein Co-Regisseur war Remo Legnazzi.

Da ich in Bern nicht zu Hause war, und Remo ein Berner ist und die Szene kennt, hab ich ihn gefragt, ob er mitmachen wolle. Remo und ich waren zusammen gestartet, er war in München an der Filmhochschule und ich in Zürich. Beide im ersten Jahrgang. Das war dann bei zwei Filmen eine sehr schöne Zusammenarbeit in Co-Regie. Er hat sich jetzt ein bisschen zurückgezogen, ist sehr viel in Brasilien, und wie es so geht, – er in Brasilien, ich in Italien – da habe ich die nächsten ohne ihn gemacht. Aber er war immer im richtigen Moment in der Schweiz und hat gesagt: Ach komm, ich schneide für dich. Und zusammen macht es auch Spaß.

Ist Max Rüdlinger tatsächlich Radiosprecher gewesen, als „Eine nachtlang Feuerland“ gedreht wurde?

Er war’s. Wir sind ja nur ins Radiogebäude reingekommen, weil er den Schlüssel hatte. Da war nachts nur ein Techniker da, und der wusste gar nicht, was da losging. Ich habe dem immer nur gesagt, keine Angst, keine Angst. Aber wie die Christine gegen die Scheibe polterte, da war der Mann schon erschrocken.

Max ist in dem Film ein alter 68er, etwas verhärmt, fest angestellt beim Staatsradio. Er hat eine Frau, die im Frauenbefreiungsbund ist. Und gleichzeitig tobt eine neue Jugendbewegung. Er hängt an diesem Winterabend in den Bars rum und lernt die Christine Lauterburg kennen, die ihm Kraft gibt wieder vorwärts zu denken.

Die Christine Lauterburg war beim Casting zufällig in einer dieser Kneipen gewesen. Eigentlich hatten wir andere Schauspielerinnen vorgesehen und haben auch schön eine ganze Materialrolle Casting gemacht. Aber dann kam der Hugo Sigrist, der Tonmann, mit „seiner Filmfrau“ daher. Ich habe nur drei Sekunden die Kamera auf die gehalten – aber diese drei Sekunden. Die war’s. Und Hugo Sigrist wurde sehr sauer, weil wir ihm die Entdeckung weggeschnappt haben. Er hat seinen Film mit Max und Christine dann später gemacht, in Umbrien. Den habe ich dann produziert und Kamera gemacht, da haben wir uns wieder bestens verstanden. Der Film heißt „Giro“ und ist sehr schön geworden.

In „Eine nachtlang Feuerland“ ziehen Max und Christine lustig durch die verschneite Gegend und verfassen gemeinsam ein Kommuniqué, das er am nächsten Morgen als Radiosprecher verlesen soll.

Lustig, dass darin das Schmelzen der Gletscher gefordert wird, was jetzt wahr wird, ganz ohne die Berner Jugendbewegung. Aber natürlich hat er nicht die Kraft, das zu verlesen. Sie ist wütend, rennt weg, und er nimmt den Wagen seiner Frau und fährt wie ein Wilder durch die Stadt und am Bundesplatz, wo der Film angefangen hat, mit dem Neujahrsempfang der Diplomaten, knallt er den Wagen in einen Verkehrspfeiler und schiebt den Pfeiler vor sich hin und her. Dieser Pfeiler steht heute immer noch dort.

Max hätte damals gerade Beamter werden können. Remo und mir ist die Kinnlade heruntergefallen, als Max das ablehnte. Ein bisschen vorlesen alle zwei Stunden, dazwischen in die Kneipe gehen, etwas Besseres konnten wir uns nicht vorstellen. Er dachte, glaube ich, dass er mit uns wirklich zum Film kommt. Aber wir können nur alle zwei, drei Jahre einen Film machen, oder?

Kürzlich hätte er in einer Soap-Opera ein Jahr lang den alten Griesgram spielen sollen, aber da man ihn zum Casting lud, obwohl man doch wissen musste, dass er das kann, hat er sich genau so ekelhaft angestellt, wie er in der Serie hätte sein müssen, und wurde entcastet.

Max Rüdlinger hat ja das seltene Talent, schlechte Laune in Sprache zu verwandeln, dabei findet er die wunderbarsten Formulierungen. Er kann schlecht gelaunt euphorisch oder auch euphorisch schlecht gelaunt sein.

Ja, das stimmt. Es gibt Fotos, auf denen er, noch jung, auf Straßenlaternen hochklettert und Jandltexte schreit. Er war damals schon sehr bekannt.

In „Der Ruf der Sibylla“ sind Max Rüdlinger und Christine Lauterburg ein Liebespaar, das im Streit die Zauberkraft bunter Schnäpse schätzen lernt. Der Mann wünscht sich das Verstummen der Frau. Die hat weitaus spektakulärere Wünsche. Wann kam dir diese märchenhafte Idee?

Wahrscheinlich beim Schnapstrinken. In Bern war eine große Depression, die Jugendbewegung war zusammengeschlagen worden, viele haben sich umgebracht. Und es hieß doch mal: „Die Phantasie an die Macht“. Bei „Giro“ von Hugo Sigrist musste ich eine Großaufnahme eines Glases auf einer Theke machen. Das hat mir so gefallen. So eine alte glänzende Stahltheke in Italien, es war wie Malerei. Ich wollte einen Film machen, wo mehr von diesen Großaufnahmen vorkamen.

Die Geschichte habe ich mit Serena Kiefer, meiner Frau, entwickelt. Nachher habe ich erst mitgekriegt, dass der Mann mit seinen magischen Schnäpsen nur bremsen kann, aber die Frau kann verwandeln. Schwarze Magie und weiße Magie. Er sitzt am Steuer des Wagens, und sie säuft und – paff! – es wird Nacht. Uns diese einfachen filmischen Tricks einfallen zu lassen, hat uns sehr, sehr amüsiert.

Der Dreh ging auch schön lange. Die Wechsel zwischen Sommer und Winter haben wir wirklich im Sommer und im Winter gedreht, haben viel Schaf gegessen, und spezielle Linsen, die es dort oben in den Sibyllinischen Bergen gibt. Und Max und Christine haben sich dann tatsächlich verliebt und sogar geheiratet. Aber irgendwann hat dann Max ein Jahr lang nichts anderes gemacht als Schopenhauer zu lesen. Er hat das ganze Werk von Schopenhauer gelesen. Damals saß ich gerade am Schnitt von „Macao“. In diesem Film stürzt er mit dem Flugzeug im Jenseits ab, und sie jodelt in der Schweiz, und beide finden sich wieder über das Jodeln. Und als „Macao“ herauskam in Locarno, kam die Katastrophe. Der große Film über die ewige Liebe war angekündigt, da trennen sich die beiden auf der Piazza, mit Tränen und Schreien. Die Presse hat sich darauf gestürzt, ein Riesenhit, aber ich als Regisseur sah natürlich total doof aus. Das widerlegte ja meine Theorie, dass Liebe ewig ist.

Aber auch in „Macao“ übersteht die Liebe ja nur den Tod, nicht den Alltag. Es ist schon erstaunlich, wie sehr deine Filme ins Leben der Darsteller eingegriffen haben. Vielleicht weil du sie soviel von sich selbst mitbringen lässt. Wie kam Polo Hofer dazu?

Bei „Füürland II“ drehten wir mit Christine ein Rockkonzert mit Jodeln im Bundeshaus. Ich filmte ein wenig ins Publikum für Zwischenschnitte und machte dabei eine Nahaufnahme von Polo Hofer, den ich damals noch gar nicht kannte. Da schlug Remo vor, das Mädchen, das im Film mit Max herumzieht, könnte doch Polo-Hofer-Fan sein. So folgten wir Polo und drehten während seines Konzertes. Und am Schluss holt sich Max Rat bei Polo, dem offiziellen Frauenheld. Das war der Beginn einer langen Männerfreundschaft.

Junge Filmemacher in Deutschland schreiben ein Drehbuch und besetzen dann die Rollen nach Ähnlichkeit des Typs. Wie sehr muss man – als Regisseur – die Abhängigkeit von den Schauspielern vor sich selber verheimlichen?

Wenn ich Texte schreibe, kann ich die auch gleich wegschmeißen, das machen Max und Polo mir nie. In Kairo wollte ich, dass sie über die Pyramiden was sagen, nicht nur über Wurstsalat. Die Pyramiden als Kapitalverdichtung, Kapitalvernichtung, das hat die beiden überhaupt nicht interessiert. Ich lese gern die Wirtschaftsseiten. Ich finde das spannend.

Aber Max hat mir schon am Telefon gesagt, dass die Gage vom letzten Film aufgebraucht ist, deshalb kommt er bestimmt bald vorbei. Das heißt, dass ich mir bald überlegen muss, was Neues zu machen – mit ihm. Wir sind so zusammengewachsen, unsere Väter waren übrigens im gleichen Radfahrerdetachement der Schweizer Armee. Aber, obwohl wir uns ja alle gut kennen, muss man dennoch viel loben. Um zu erklären, warum eine Szene wiederholt werden soll, kann ich aber immer sagen: Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, weil ich ja selber die Kamera mache. Wackler gibt es da genug, die muss ich nicht erfinden.

Aus zwei guten Gründen drehe ich in Umbrien oder Ägypten: Da kommt die Redaktion nicht hin, das ist zu teuer, also können sie auch nicht reinreden. Aber vor allem können mir die Schauspieler da nicht weglaufen, denn ich habe die Flugtickets. In Assuan musste Max nach einem Riesenkrach, bleiben, bis er sich beruhigt hatte.

Ganz wichtig ist auch, dass das Team und die Schauspieler alle in einem einzigen Wagen Platz haben. Wenn sich der Wagen verfährt, sind alle am falschen Ort – alle, so dass man trotzdem vielleicht drehen kann. Sobald man zwei Wagen hat, geht’s schon schief.

Die Filme entstehen im Familienbetrieb?

Ja, ja. Serena macht immer Assistenz, Ausstattung, Requisite, Maske, Catering, Aufnahmeleitung. Sie hat lange Zeit als Textil Designerin für eine Firma gearbeitet, die plötzlich Bankrott ging. Es war sehr angenehm gewesen, dass sie nur vier Mal im Jahr mit den Entwürfen nach Stuttgart musste. Sie konnte bei den Filmen immer gut dabei sein. Aber weil sie sich nun etwas Neues suchen wollte, konnte sie nicht mehr mitmachen. Und ohne sie hatte ich keine Lust mehr. Da haben wir eine Familiensitzung gemacht mit den Kindern und herausgefunden, dass letztlich nur die Filme die Kohle bringen können. Dann haben wir gesagt, ok, wir ziehen das zusammen durch.

Serena sitzt hinten, ich sitze vorne mit der Kamera auf einer Kiste, zwischen Steuerrad und Polos Knie. Die beiden Techniker sieht man nicht. Der Ton geht von den Funkmikrophonen an den Sonnenblenden zu den Technikern, wird gemischt und zu mir zurück gefunkt. Die machen mir alles. Weil inzwischen bei fast jedem neuen Film eine neue Kamera verwendet wird, kriege ich das Ding in die Hand, und die beiden sagen, rühr ja nichts an, alles ist eingestellt.

Es hat dir gefallen, als gestern die Vorführung von „Das Schweigen der Männer“ im falschen Format anfing.

Es war super, endlich amerikanisch. Ich dachte, da im Wald kommt jetzt der Randolph Scott um die Ecke. Mit dem bin ich aufgewachsen. Budd Boetticher. Das waren die ersten Filme, die ich gesehen habe. Die waren so hart und einfach.

„Das Schweigen der Männer“ könnte ja auch „Ride Lonesome“ oder besser „Walk Lonesome“ heißen. Dieser Film entstand aus einem Kurzfilm heraus, der „Die Gemmi“ hieß.

Es wurde in Straßburg entschieden, dass 19soundsoviel das „Jahr des Wanderns“ werden sollte. Fitness oder weiß nicht was war der Grund. Und jedes Land musste, in drei Wanderfilmen, Straße und Wege porträtieren. Und irgendwie kamen die darauf, mich zu fragen, obwohl ich ein Roadmoviemensch bin – eigentlich gar kein Wanderer – ich fahre lieber Auto. Aber ich hatte Spaß an diesem uralten Pass zwischen Kandersteg und Leukerbad. Es gab nur ein wenig Geld vom Kanton Bern und vom Fernsehen. Das Filmprojekt wäre ohne den Max und den Polo gewesen. Aber dann traf ich sie bei einer Vorführung von „Füürland II“ wieder. Und dann entschlossen wir uns plötzlich an diesem Abend da: Wir gehen einfach mal auf die Gemmi. Remo und Serena kamen mit, und dann sind wir zu fünft immer hin und her gelaufen, haben im Berghotel wunderbare Nächte verbracht. Polo ist ja für solche Nächte berühmt. Auf jeden Fall hatten wir dann an jedem nächsten Morgen zwei, drei gute Geschichten.

In Berlin, wo sie eigentlich gar keine kurzen Filme zeigen, lief der Film zusammen mit einem 60minütigen Lesbenfilm – mein Machofilm. Das hat gut gepasst.

Dann bekam er in Oberhausen den Preis für den humorvollsten Kurzfilm. Unsere Innenministerin schickte mir einen handgeschriebenen Brief, weil es so selten sei, dass Schweizer Filme Preise kriegen, erst recht für Humor. Dieser Brief war natürlich Gold wert. Damit bin ich gleich zum Fernsehen und habe erzählt, eigentlich wäre dieser Film als Langfilm vorgesehen gewesen, und dass der Max um die ganze Welt läuft. Also kriegte ich ein bisschen Geld.

Das ökonomisch Interessante daran war: Ich hatte ein Budget für einen Spielfilm, von dem ein Drittel schon gemacht war. Das kommt dem Legnazzischen Filmgesetz entgegen. Remo Legnazzi hat nämlich die Handelsschule besucht, und sein Gesetz besagt, dass man einen Film für die Hälfte des Budgets drehen muss. Man muss unbedingt aufhören zu drehen, wenn die Hälfte des Geldes weg ist. Das darf man nicht laut sagen. Aber Film wird immer teurer als geplant. Und so hat man am Ende noch Geld für Werbung, was man in der Schweiz gar nicht in die Budgetplanung reintun darf oder für eine Journalistenbestechung. Und am Schluss hat man vielleicht sogar noch etwas Verdienst.

Ein schöner Zufall ergab sich in Uppsala, wo der Kurzfilm auf einem Festival lief, und ich die Absicht hatte, mir ein bisschen Schwedinnen anzuschauen, weil der Plan schon da war, im langen Film endlich – nach so viel Gerede darüber – wirkliche Schwedinnen auftauchen zu lassen. Und so fragte ich die Festivaldirektorin und ihre Assistentin, ob sie Schwedinnen kennen würden, die Lust hätten zu improvisieren. Und dann haben die gesagt: Das machen wir.

Am Flugplatz kriegte ich raus, dass die Assistentin gar keine Schwedin war, sondern Holländerin. Die Pässe der beiden waren nicht gleichfarbig. Südschweden, Nordschweden?

Diese Entdeckung hast du in die Erzählung des Films aufgenommen. Die Enttäuschung des Mannes, dass die Frau gar keine Schwedin ist, kennt gar keine Grenzen. „Die Vogelpredigt“ zeigt Max und Polo auf dem Weg zu dir, um dich von einer Filmidee zu überzeugen, mit Sex und Crime. Doch du machst stattdessen mit beiden ein Casting für die Rolle des heiligen Franziskus. Am Ende setzt du sie in Mönchskleidern hilflos im Wald aus, weil sie dich Demenz Klopfenstein genannt haben. Schreibst du überhaupt ein Drehbuch?

Ich schreibe so was daher, meistens Treatments, ohne Dialoge. Drehbücher kann ohnehin niemand lesen. Irgendwann bekam ich einen Anruf, ob ich Lust hätte innerhalb von zehn Tagen ein Gothicmovie zu schreiben für Sat1. Toll, oder? Dass endlich einer was will von mir. Also schrieb ich das runter, ohne Schere im Kopf, ohne an das brave staatliche Fernsehen zu denken. Als das Projekt aber nicht klappte, zeigte ich es meinem braven Redakteur, und der sagte: Endlich bist du frisch und lebendig. Denn ich bin eben nicht frisch und lebendig, wenn ich für ihn schreibe. Und so kam es dann auch. Er gab mir einen Drehbuchvorschuss, „wenn du das noch mal umschreibst“, nach seinen Vorstellungen. Und nach drei Jahren und acht oder neun Drehbuchversionen dieses Wahnsinnsfilms, „Der Mondscheinmönch“, kam die endgültige Absage und der nett gemeinte Vorschlag: Mach es doch in deinem Stil. Der Max und ich haben das dann von vier Millionen auf eine Million runter geschrieben. Max und Polo wollten ohnehin viel lieber die Fortsetzung vom „Schweigen der Männer“ in Afrika drehen. Aber ich bin nicht so auf Abenteuer aus. Da hatte ich eines Nachts diesen Traum, die beiden Filme zu verbinden. Da war ich glücklich.

Zwei, drei Tage nach meinem Traum wurden wir eingeladen vom Schweizer Botschafter in Rom. Auf diesem Empfang war Ursula Andress. Wir sind ins Gespräch gekommen über das Schulsystem in Italien. Ihr hat gut gefallen, dass wir nicht über James Bond gesprochen haben. Es war schön, und mich hat der Hafer gestochen, ich fragte sie, ob sie die Madonna spielt. Sie war einverstanden. Ich darf nicht sagen, wie hoch ihre Gage war. Dass ich überhaupt zum Film gekommen bin, ist für mich immer noch ein Rätsel oder ein Wunder. Diese Landschaft, wo ich herkomme, hat mit Kino so gar nichts zu tun. Ich ging einfach heftigst ins Kino, aber dass ich da selber mal drin bin … Gestern habe ich bei euch die Nina Proll kennen gelernt und den ganzen Abend überlegt, welchen Film ich machen könnte – für sie. Da muss man halt irgendein dummes Drehbuch schreiben, damit man das Geld kriegt. Das Schöne ist, bei mir wissen die Redakteure schon, dass ich das Drehbuch dann vielleicht wegwerfe.

Wenn dein erster Film ein Erfolg gewesen wäre …

… und ich diese Experimente nicht gemacht hätte, würde ich jetzt wahrscheinlich brave Fernsehfilme machen oder die auch nicht mehr. Ich bin froh, dass ich auf einer gewissen Stufe stehen geblieben bin, so auf der zweiten Treppenstufe. Ich kenne so viele, die aufgegeben haben. Ich hatte da einen Freund, der hat gut gemalt, hat aber auch Banken überfallen, hat Geiseln genommen, wurde der größte Killer Italiens und ist, ab und zu, wieder aufgetaucht und hat bei mir geklingelt. Er ist letzten Sommer in Rom erschossen worden. Ich glaube, er ließ sich erschießen. Er hat immerhin einer Freundin ein Kind gemacht, und das Kind geht in die Filmschule in Zürich.

Das Gespräch führten Franz Müller, Rainer Knepperges und Marcel Belledin am 5.12.2005, anlässlich einer Werkschau im Filmclub 813 in Köln.

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