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Interview: Mohsen Makhmalbaf

Revolver: Lassen Sie uns über Engagement sprechen. Was passiert, wenn ein Filmemacher sich entscheidet, seinen Platz hinter der Kamera zu verlassen und in die Wirklichkeit einzugreifen, die er gefilmt hat, zum Beispiel wenn er sich aktiv engagiert für soziale Projekte?

Mohsen Makhmalbaf: Ich war ja, bevor ich Filme machte, ein politisch aktiver Mensch, aus diesem Grund war ich auch im Gefängnis. Für mich ist das Filmemachen auch eine gesellschaftliche Arbeit. Wenn ich zum Beispiel einen Menschen sehe, der Hunger hat, und ich mache einen Film darüber, dann denke ich, dass meine Aufgabe als Filmemacher nicht nur darin besteht, diesen Film zu machen und ihn anderen zu zeigen, sondern auch, ein bisschen Brot zu besorgen und ihm dieses Brot zum Essen zu geben, so dass er keinen Hunger mehr hat. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass diese beiden Bereiche untrennbar sind – hinter der Kamera und vor der Kamera, oder mit anderen Worten: die Gesellschaft, die in dem Film vorkommt, und das gesellschaftliche Leben selbst.

Engagieren Sie sich immer direkt für die Leute in den Ländern, in denen Sie drehen? Sie haben sich sehr engagiert für die Leute in Afghanistan – war das in Tadschikistan und Indien, wo Sie ihre letzten Filme gemacht haben, genauso?

Wir haben uns in Afghanistan für viele Dinge engagiert. Das hängt sicher auch mit der besonderen Situation in Afghanistan zusammen: der Armut, der fehlenden Bildung. Deshalb haben wir da auch vieles machen können. In Tadschikistan war die Situation anders, aber sowohl in Afghanistan als auch in Tadschikistan haben wir zum Beispiel jungen Filmemachern Hilfe angeboten und diese Möglichkeiten zustande gebracht.

Würde man daraus einen kategorischen Imperativ machen, dass Filmemacher immer in Bezug auf die Situation, die sie sehen und filmen, aktiv werden sollten, stieße man natürlich bei vielen Sujets an seine Grenzen. Ich denke an den Film „Kriegsreporterinnen“, oder an Filme, die über Genitalverstümmelung gedreht werden und wo sich die Frage stellt, ob man bestimmte Dinge überhaupt filmen darf – müsste der Filmemacher nicht eigentlich die Kamera abstellen und etwas gegen die Zustände tun, die er gerade als Zeuge dokumentiert?

Es hängt von den konkreten Gegebenheiten ab. Wenn ich zum Beispiel an einem Fluss vorbei komme und einen Menschen ertrinken sehe, könnte ich natürlich sagen: Oh, was für ein interessantes Sujet! Oder ich kann ins Wasser springen und eine Rettung versuchen. Leider sind die wenigsten Situationen so eindeutig, aber gut. Das ist die persönliche Seite. Auf der gesellschaftlichen Ebene bin ich der Meinung der Kriegsreporter: Ob sie in einem Krieg einem Menschen das Leben retten, ist nicht entscheidend in der Wirkung auf den Krieg, aber wenn man die Möglichkeit hat, die Bilder in die Welt zu bringen und damit den gesamten Krieg beeinflussen kann, ist damit mehr erreicht.

Sie haben auch in Gegenden gedreht, die stark betroffen sind von kriegerischen Konflikten. Als Filmemacher oder auch als Kriegsreporter ist das wahrscheinlich eine große psychische Belastung. Wie kann man da als Mensch ganz bleiben, mitten in diesen grausamen Situationen?

Was mich persönlich betrifft, konkret was die Arbeit in Afghanistan angeht: diese Erfahrungen lassen sich nie ganz abschütteln. Einmal war ich in Griechenland und habe um Hilfe für Kinder in Afghanistan geworben – und bin auf der Straße zusammengebrochen. Danach hatte ich eineinhalb Monate lang ein Zittern, und davon habe ich mich immer noch nicht ganz erholt. Seitdem nehme ich Medikamente. Also etwas bleibt immer zurück.

Sie haben gesagt, Sie seien an einem bestimmten Punkt aus der Politik ausgestiegen und hätten sich der Kultur zugewandt, da die heutige Welt ohne Kultur ein Dschungel sei. Würden Sie sagen, Kultur oder auch das Filmemachen sei Politik mit anderen Mitteln?

Es ist gewiss so. Ich bin der Meinung, es wäre eine unsinnige Arbeit, etwas zu machen, ohne die Absicht zu haben für Veränderungen zu sorgen, oder zumindest dazu beizutragen. Und als Filmemacher kann man dies, zumal seit unsere Filme auch international Beachtung finden. Und vielleicht kann man dadurch, dass diese Filme überall auf der Welt gesehen werden, auch dazu beitragen, dass der allgemeine Geschmack, was Filme angeht, durch diese Filme, die etwas abweichen vom Mainstream, beeinflusst wird.

Beispiel „Kandahar“: Was wollten Sie mit dem Film bewegen, was haben Sie bewirkt?

Ich wollte die Situation der Menschen in Afghanistan und insbesondere die Situation der Frauen dort zeigen; die Welt davon in Kenntnis setzen, dass so eine Situation dort herrscht, die Armut zeigen, die dort herrscht. Ich war, einige Zeit bevor ich diesen Film machte, eine Woche lang in Herat, und habe gesehen, wie am Rande der Hauptstraße tausende Menschen im Sterben lagen. Sie waren völlig apathisch und hatten nicht einmal mehr die Kraft, das Brot, das man ihnen geben wollte, entgegenzunehmen. Eine Vertreterin der Vereinten Nationen sagte uns damals, dass in Afghanistan drei Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind. Ich habe mit meinen eigenen Augen vielleicht 20.000 davon gesehen. Das wollte ich allgemein bekannt machen. Und ich wollte die Situation der afghanischen Frauen zeigen, denn deren Situation war doppelt so schwierig wie die Situation der Männer in einer patriarchalen Gesellschaft.

Was konnten Sie mit dem Film bewirken?

Ich habe diesen Film vor dem 11. September 2001 gemacht, und der Film wurde auf verschiedenen Filmfestivals auf der ganzen Welt gezeigt. Aber damals wollten die Zuschauer nicht glauben, dass solche Situationen existieren könnten.

Sie haben es irgendwie als Surrealismus verstanden …

Ja, sie dachten, das ist so eine Art, Filme zu machen, obwohl ich versucht hatte, diesen Film nah an der Realität zu halten und viele Informationen über Afghanistan und das Leben dort einzuflechten. Nach dem 11. September 2001 hat dieser Film dann ein viel größeres Echo gefunden, übrigens auch was die konkreten Auswirkungen angeht. So ist es uns zum Beispiel gelungen, die Situation der afghanischen Kinder im Iran zu verbessern. Wir wollten auf die Situation der afghanischen Flüchtlinge und Immigranten aufmerksam machen, und das ist soweit erfolgreich gewesen. Wir hatten in der Taliban-Zeit 756.000 afghanische Kinder im Iran, und durch die restriktive Politik der iranischen Regierung gegenüber den Immigranten war es diesen Kindern auch im Iran verboten zur Schule zu gehen. Das heißt, während der 8-jährigen Herrschaft der Taliban waren die Kinder nicht nur in Afghanistan, sondern auch im Iran nicht in der Lage, Bildung und Ausbildung zu erfahren.

Durch diesen Film wurde es möglich, ein entsprechendes Gesetz mit Hilfe von Herrn Khatami zu ändern, mit der Konsequenz, dass 500000 afghanische Kinder tatsächlich in die Schule gehen konnten. Das ist das Größte, das mir in meinem Leben je gelungen ist. Ich habe zwar 18 Filme gemacht, aber das betrachte ich als das Größte, was mir je gelungen ist.

Es gab noch eine weitere positive Auswirkung. Als „Kandahar“ anlief, war die iranische Regierung gerade dabei, die Abschiebung von drei Millionen afghanischen Flüchtlingen hier im Iran in die Tat umzusetzen. Durch diesen Film und durch viele Briefe, die ich an Herrn Khatami geschrieben habe und die auch in der Presse veröffentlicht wurden, haben wir die Verschiebung dieser Ausweisung erreicht, und sie dauert bis zum heutigen Tag an.

Um das zu ermöglichen war mehr nötig als „nur“ den Film zu machen. Was musste ausserdem getan werden?

Das Erste war die Gründung einer Nicht-Regierungsorganisation, einer NGO. Es ist im Iran äußerst schwierig, eine wirkliche NGO zu gründen und eintragen zu lassen. Es gibt viele Schein-NGOs, die von der Regierung selbst gegründet werden, um sie auf internationaler Ebene als politisches Instrument zu benützen. Das sind aber keine unabhängigen NGOs. Durch den Druck, den wir ausübten – dazu haben sich viele iranische Intellektuelle zusammen gefunden – haben wir es geschafft, eine wirkliche NGO zu gründen, mit dem Namen ACEM, Afghan Childrens Education Movement (Bewegung für die Bildung Afghanischer Kinder). Wir haben im Namen dieser Organisation Geld sammeln können und bisher 80 Projekte im Iran und in Afghanistan umgesetzt. Alle Projekte drehen sich um Ausbildung und Gesundheit.

Ein Projekt bestand darin, die Abiturprüfung für 1200 afghanische Flüchtlinge zu organisieren in 13 Städten. Ein weiteres Projekt war die Gründung einer Schule in der Stadt Herat in Afghanistan. Das ist eine Grundschule und ein Gymnasium auf einem Grundstück von 5000 Quadratmetern, mit einer Baufläche von 2500 qm, und da werden 4000 Mädchen ausgebildet. Herat ist ja die Stadt, in der ich diese 20.000 Menschen am Rande der Straße dahinsiechen gesehen habe.

Ein anderes Projekt hatte zum Ziel, dem afghanischen Kino auf die Sprünge zu helfen. Wir haben 17 jungen Afghanen geholfen, ihren ersten Film zu machen. Für den Film „Osama“, der ja sehr erfolgreich war und überall in den Kinos gezeigt wurde, haben wir die komplette Produktion übernommen. Das Budget kam von uns, alle Laborarbeiten, alle Materialien. Die Leute, die an dem Film mitgearbeitet haben, haben wir aus dem Iran organisiert, und was mich persönlich angeht, habe ich sechs Monate lang 50% meiner Arbeit in dieses Projekt gesteckt.

Ausserdem haben sich uns 24 iranische Ärzte angeschlossen, die bereit waren, ohne Honorar zu arbeiten. Mit diesem medizinischen Team haben wir 112 afghanische Schulen betreut, die spontan von den Afghanen um Teheran herum gegründet worden waren. In jeder Schule wurden etwa 300 Schüler medizinisch untersucht. Kinder, die Krankheiten hatten, wurden behandelt und wenn nötig auch operiert. So kamen auch ein paar Wunder zustande: Kinder, die nicht sehen konnten, konnten wieder sehen; Kinder, die taub waren, konnten nach der Operation wieder hören. Ein Mädchen, das nicht laufen konnte, wurde neun Mal operiert, bis sie auf eigenen Beinen stehen konnte. Das waren die spektakulärsten Erfolge im Rahmen dieses Projektes.

Was die Filme angeht, die sich gesellschaftlichen Problemen widmen, so hält ihre Wirkung auf die Zuschauer nach meiner Erfahrung etwa 48 Stunden an. Nicht länger. Nach zwei Nächten wird das Kurzzeitgedächtnis gelöscht. Wenn es gelingt, innerhalb dieser Frist Menschen anzusprechen, dann sind viele bereit zu helfen. Also NGOs, die in Verknüpfung mit einem Film arbeiten – das ist etwas, was man in Gang bringen könnte. Deswegen habe ich nach „Kandahar“ drei Jahre lang keinen Film gemacht. Ich habe im Zusammenhang mit dem Film verschiedene NGOs gegründet, die dann nach jeder Vorführung aktiv wurden, Projekte in Gang brachten und umsetzten, immer wieder und wieder.

Um eine gesellschaftliche Problematik darzustellen, muss man nicht hundert Filme machen. Wenn man einen Film gemacht hat, der ins Schwarze getroffen hat, dann kann man die verbleibende Energie um diesen Film herum mobilisieren und den Leuten helfen. Man könnte das Ganze auch so formulieren: Mein Leben besteht darin, einen Film zu machen, und in die Arbeit für die Herstellung und den Einsatz dieses Filmes fügen sich meine ganze Familie und andere Personen ein. Sie tragen dazu bei, und auf diesem Wege lernen auch viele von ihnen Filme zu machen.

Auf diese Weise haben Sie, trotz der vielen Aufgaben, auch ein Familienleben.

Genau. Mein wirkliches Leben, mein Familienleben, findet in einem Rahmen statt, in dem gesellschaftliche Wirklichkeit aufgezeigt und den Betroffenen auch geholfen wird. Vorher war das anders. Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich nur politisch tätig war, und eine andere, in der ich nur Filme gemacht habe. Was ich eben dargestellt habe, betrifft die letzten zehn Jahre meines Lebens.

Und dabei macht man sehr interessante Erfahrungen. Bei diesem Thema möchte ich immer Anlauf nehmen, um zum Ende zu kommen, und dann fällt mir noch etwas ein, was interessant ist, was ich erzählen möchte. Es gibt in Kabul ungefähr 2.400 Bettlerkinder; 14 haben wir ausgesucht, die ein Talent zum Malen haben. Wir haben sie gefragt, wieviel Geld sie durch das Betteln einnehmen und ihnen diese Summe als Lohn für ihre Bilder versprochen. Jeden Monat mussten sie ein Werk liefern, und dafür bekamen sie das Geld, das sie durch das Betteln verdient hätten. Diese 14 Kinder haben innerhalb eines Jahres 12 Werke geliefert und am Ende jeden Monats sozusagen ihr Gehalt bekommen. Die Gehälter bewegten sich zwischen 30 und 100 Euro. Von diesen 14 Kindern haben zwei ein Botschafts-Stipendium erhalten, um das Malen weiter zu erlernen, und die anderen sind zu Malern geworden, sind keine Bettler mehr.

Es ist so mit allgemeinen gesellschaftlichen Erscheinungen: Bettler zum Beispiel, wenn man ihnen etwas zu essen gibt, würden sie augenblicklich satt werden, aber übermorgen hätten sie das gleiche Problem, und da müsste man sich etwas einfallen lassen, das eine längerfristige Wirkung zeigen würde.

Was auch mit der Selbstachtung zu tun hat, dem Selbstvertrauen… Es ist nicht so sehr eine Sache des Geldes …

Im Persischen gibt es ein Sprichwort: Wenn du nach einem Jahr ein Ergebnis erzielen willst, dann solltest du Reis anbauen. Wenn du ein Ergebnis nach zehn Jahren haben willst, dann pflanze einen Baum. Und wenn du für 100 Jahre etwas tun willst, dann bilde einen Menschen aus. Wenn es diese Ergebnisse, die man durch künstlerische Arbeit erzielen kann, nicht gäbe, dann wäre diese künstlerische Arbeit selbst etwas Unsinniges. Sie würde sich dann zum Beispiel darin erschöpfen, einen Film zu machen, ihn auf verschiedenen Festivals vorzuführen, sich beklatschen zu lassen … Das wäre ein unsinniger Kreis, um nicht zu sagen ein Teufelskreis, blosse Selbstbeweihräucherung. Ich habe mich gerade darüber unterhalten, dass es dann und wann passiert, dass sich während einer Unterhaltung die Gedanken irgendwohin begeben, und das ist mir jetzt passiert, während unserer Unterhaltung. Gerade ist mir eine Idee gekommen für einen Film, und ich würde das jetzt gerne aufschreiben. Der Stift ist vorhanden, was mir fehlt, ist die Zeit.

Bitte, bitte. Dieser Moment ist zu wichtig, um ihn verstreichen zu lassen.

Mohsen Makhmalbaf nimmt einen Stift und schreibt eine ganze Seite voll.

Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das auf der Straße geht und via Mobiltelefon mit einer Freundin spricht. Ihr Gespräch dreht sich um eine dritte Person, eine andere Freundin. Die drei sind sich einig, dass sie aufgrund der ausweglosen Probleme, die es auf der Welt gibt, keine Lebensperspektive sehen – sie beschließen, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Alle drei kommen abends zusammen; die eine sagt, sie werde sich noch heute Abend aus dem Fenster stürzen. Das tut sie auch. Sie stirbt. Die beiden anderen sind auch bereit zu sterben, aber sie wollen nicht selbst Hand an sich legen – also beschliessen sie, an einen gefährlichen Ort zu gehen, zum Beispiel nach Afghanistan oder in den Irak, wo sie zweifellos umkommen werden.

Sie verkaufen also alles, was sie haben, machen es zu Bargeld, und gehen irgendwohin, wo es vor Gefahren nur so wimmelt. Und sie begeben sich auch in tatsächliche Gefahren und kommen dem Tode sehr nahe. Aber ihr Lebenswille, ihre Angst, sorgt dafür, dass sie verschont bleiben. Schließlich sagen sie: Wir wollen doch sterben, was sollen wir also mit dem Geld? Wir geben es jemandem, wir teilen es unter vielen auf. Und so kommen sie in Kontakt mit Bettlern. Sie fragen, warum sie betteln, und bekommen zur Antwort: weil wir müssen. Dann fragen sie sie, was sie machen würden, wenn sie nicht betteln müssten. Jeder sagt etwas anderes, ich würde dies tun, ich würde das tun. Die Freundinnen beschließen dann, das Geld zu nutzen, um die Bettler dafür zu bezahlen, was sie eigentlich machen wollen – also wenn zum Beispiel ein Bildhauer darunter ist, dann geben sie diesem Bildhauer Arbeitsmittel und jeden Tag das Geld, das er sich durch das Betteln verdient hätte. So sind sie Tag für Tag Zeugen der Entstehung eines Werkes aus Schrott, aus Abfällen, die im Krieg produziert werden; sie sind Zeugen, wie dieser Bildhauer aus dem Schrott ein künstlerisches Werk macht.

Das Ganze ist dann so interessant, dass sie diese Entwicklung verfolgen wollen. Sie hatten sich ja ursprünglich dazu entschlossen, zu sterben; jetzt wollen sie es nicht mehr, jetzt wollen sie es aufschieben, um die weitere Entwicklung zu erfahren. Aber sie wollen ja auch vor sich selbst nicht klein beigeben und von ihrem Entschluss abrücken. Aber sie wollen sich zugleich nicht eingestehen, dass sie es interessant finden, das weiter zu verfolgen, was sie in Gang gebracht haben. Deswegen begeben sie sich weiter in Gefahrensituationen, aber sie sind dabei vorsichtiger, weil sie doch nicht sterben wollen; weil sie überleben wollen, um zu erfahren, was aus diesem Projekt wird. Im Zuge dieser Erfahrung kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Menschen, die sich nicht umbringen, keine dummen Menschen sind, keine Menschen, die blind für ihre Umwelt sind, oder die Probleme, den Schmerz auf der ganzen Welt nicht erfahren, sondern weil jeder Mensch Projekte hat, deren Entwicklung er verfolgen will. Einer hat Kinder und will sehen, was weiter aus ihnen wird, ein anderer hat ein anderes Vorhaben … Das heißt, die Menschen bleiben in der Tat nicht am Leben, weil sie dumm oder unempfindlich sind, wie manchmal angenommen wird, sondern jeder Mensch hat Vorhaben, hat Bilder für die Zukunft. Und um weiterleben zu können, braucht man diese, und der Mensch findet einen Sinn für die Fortsetzung seines Lebens.

Es gibt einen Satz, den ich im Film „Kandahar“ benutzt habe: „Es ist zwar richtig, dass wir dort, wo völlige Dunkelheit herrscht, nicht die Sonne hinbringen können; aber jeder von uns kann seine Umwelt mit dem Licht einer Kerze erhellen.“

Das was eben vorgefallen ist, das ist immer der Anfang. Das heißt, das ist der Anfang, dann mache ich mich daran, die Menschen, die diesen Charakteren entsprechen, die dazu passen würden, zu finden, und dann begebe ich mich in die Situationen, die ich eben beschrieben habe. Und erst dann schreibe ich das Drehbuch. Ich würde also nicht jetzt das Drehbuch schreiben, weil das ein zu subjektives Drehbuch würde, sondern ich würde mich zuerst dieser konkreten Situation aussetzen, unter ihrem Einfluss stehen. Und wenn wir dann für das konkrete Projekt die Menschen finden, die tatsächlich diese Bettler sind, dann versuchen wir, innerhalb dieses Projekts, eine Veränderung in ihrem Leben herbeizuführen. So dass sie nach der Beendigung des Films keine Bettler mehr sind und dann eine andere Beschäftigung finden. Das war nun tatsächlich ein Beispiel, wie ein Werk entsteht. Vom Einfall, der aufgeschrieben wird, bis zu der Art und Weise, wie die Menschen in dieses Projekt eingebunden werden, zum Beispiel diese Bettlerkinder, die dann andere Beschäftigungen finden; und dann kann es sein, dass sich auch einer darunter findet, der sich für den Film interessiert …

Andere Menschen ans Filmemachen heranzuführen scheint Sie sehr zu interessieren. Sie haben auch eine Filmschule gegründet, in der zum Beispiel Fahrradfahren auf dem Lehrplan steht. Wie kam es dazu?

Ich glaube, ein guter Filmemacher ist nicht unbedingt jemand, der sich im Medium Film gut auskennt, sondern vielmehr einer, der über das Selbstbewusstsein verfügt, sich mit dem Medium auszudrücken. In unserer Schule habe ich versucht, den Menschen dieses Selbstbewusstsein zu vermitteln. Das Fahrradfahren muss man in diesem Rahmen sehen: Wenn man jemanden, der nicht Fahrrad fahren kann, innerhalb von 15 Tagen dazu bringt, 50 km Fahrrad zu fahren; oder wenn es gelingt, innerhalb eines Monats einen Nicht-Schwimmer in einen sehr guten Schwimmer zu verwandeln, dann wächst das Selbstbewusstsein in diesem Menschen. Das ist das Ziel. Wir haben zum Beispiel in unserer Schule auch auf den Lehrplan gesetzt, die Stadt Teheran kennen zu lernen, die sehr groß und sehr verworren ist. Dazu haben wir zuerst eine lange Straße, die Teheran in Nord und Süd teilt, theoretisch, also auf dem Stadtplan, untersucht und jede Kreuzung kennen gelernt. Dann haben wir diese Straße auch in Wirklichkeit durchfahren, ohne dass wir irgendwo ankommen wollten. Das Ziel war, sich in Teheran auszukennen, das Bewusstsein zu bekommen: in dieser Stadt kenne ich mich aus, in dieser Stadt kann ich unmöglich verloren gehen. Der Zweck war dieses Selbstvertrauen und die Überzeugung: man wird sich in dieser Stadt zurechtfinden können.

Man könnte das auch übertragen: Der Unterschied zwischen dem Staatspräsidenten und einem Normalbürger ist nicht der, dass der Staatspräsident so viel mehr weiß oder so viel mehr kann als ein normaler Staatsbürger, sondern in erster Linie der, dass er das Selbstbewusstsein hat, das zu können.

Es gibt im Persischen einen Spruch: „Du kennst, was du kannst.“ Deswegen hat in der Erziehung und Ausbildung das praktische Handeln Vorrang vor der Theorie. Ich habe, was das angeht, eigene Erfahrungen nach der Revolution gemacht. Damals waren wir eine Gruppe und haben über etwa anderthalb Jahre zusammengearbeitet. Wir hatten uns dazu entschlossen, zusammen zu bleiben; wir wollten Geschichten schreiben. Jeder sollte selbst seinen Weg finden, wie er das macht. Ein Teil hat sich daran gemacht, Geschichten anderer zu lesen. Und andere haben einfach angefangen zu schreiben. Ich gehörte der zweiten Gruppe an. Diejenigen, die gleich mit dem Schreiben begonnen haben, wurden Erzähler. Diejenigen, die Romane und Geschichten gelesen haben, wurden Kritiker. Wir waren jedoch der Meinung, dass ein Schriftsteller derjenige ist, der Geschichten schreibt, nicht derjenige, der über das Geschriebene schreibt.

Zu unserer letzten Frage: Wie wichtig sind für Sie Filmfestivals und welche Rolle spielen so kleine Filmfestivals wie unseres?

Dazu muss ich zuerst einmal einige Zahlen nennen: Auf der ganzen Welt werden im Jahr etwa 3000 Filme gemacht – 600 davon in den USA und 200 von diesen beherrschen 90% des Weltmarktes. Das heißt, 90% der Kinosäle in den etwa 200 Ländern auf der ganzen Welt werden beherrscht von diesen 200 Filmen. Und die Filmfestivals stellen ein Gegengewicht zu diesem Monopolkino dar, denn die beschriebene Situation ist ja kein Dialog, sondern ein Monolog, und in diesem Gegengewicht besteht ihre Bedeutung.

Die Filme, die die Welt beherrschen, kommen auch in die entferntesten Gegenden, in die kleinsten Dörfer. Die großen Festivals verursachen so etwas wie eine Welle durch das Vorführen von Filmen, wie wir sie machen. Die Aufgabe der kleineren Filmfestivals ist es, diese Welle, diese Eindrücke dann auch in die entferntesten Orte und Gebiete zu tragen und diese Botschaft auch dorthin zu transportieren. Das sind die Adern, die den gesamten Organismus der Weltgesellschaft versorgen, wie in einem menschlichen Organismus. Außerdem ist ein Vorteil der kleineren Festivals, dass in ihnen der Markt – wo Filme gekauft und verkauft werden – eine viel geringere Bedeutung hat, so wichtig dieser Markt auch insgesamt für unsere Art von Filmen ist, und für das Gegengewicht gegen das besagte Monopol. Das ermöglicht eine verstärkte Kommunikation: mit den Zuschauern, mit den Regisseuren, unter den Regisseuren, und das ist auch eine ganz wichtige Funktion, wenn wir gewährleisten wollen, dass die Filme Bewusstseinsprozesse in Gang bringen.

Das Gespräch führte Irene Jung anlässlich des Filmfestivals „FrauenWelten“ von „Terre des Femmes“ in Tübingen am 19.11.2006. Transkribiert, übersetzt und bearbeitet von Irene Jung. Anlässlich des Festivals ist auch der lesenswerte Band „Menschenrechte von Frauen im Blickpunkt des Films/Fokus Afghanistan“ erschienen (Herausgegeben von Irene Jung; ISBN 3-936823-10-3), der hiermit empfohlen sei.

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