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Wilde Erdbeeren: Peer Klehmet

Rollo Aller (Henna Peschel 1990)

1994 zog ich mit drei Freunden zum Zivildienst nach Berlin. Während ich meist kränkelnd die Wohnung am Autobahnzubringer in Pankow hütete, streunerten meine Mitstreiter durch die Stadt. Von einem ihrer Streifzüge brachten sie das Video „Perlen für die Säue“ von Jochen Enterprises mit.

Ich saß wieder einmal inhalierend unter einer Wolldecke, als ich von lautem Gelächter aus dem Nebenzimmer angelockt wurde.

Was ich dann sah, weckte schlagartig meine Lebensgeister, gab mir Halt und Zuversicht: Ich sah Rollo Aller.

Ein unterbelichteter und unglaublich schlecht synchronisierter Super-8-Film, der mit seinem naiven Charme betört, Wärme, Pathos und ein unbeschreiblich schönes, unbekümmertes Lebensgefühl ausstrahlt. Nachdem Eule Zippert seinen Job bei der Stadtreinigung Hamburg verloren hat, versucht er den Ausbruch aus der Gesellschaft in ein besseres, selbstbestimmtes Leben.

Es folgt ein ergreifender Ritt in die Freiheit. Wie Rollo und sein Kumpel Daddel mit Fahrrad und Moped in eine ungewisse Zukunft heizen. Übermütig, aufgedreht posen sie auf ihren Maschinen. Keiner kann ihnen was, denn sie hauen ab. Bei aller Schwachsinnigkeit springt der Funke einer rohen, positiven Energie über. Dazu läuft ein grandioses Lied der Gruppe Motion „Die Leute fahren Bus und Bahn, die Leute sind ganz klar in der Überzahl, das schockt nicht mehr, da mitzumaschieren, die wollen uns isolieren und manipulieren …“. Schließlich schlagen Rollo und Daddel ein Zelt in der Nähe eines Atomkraftwerkes auf, trinken Dosenbier und halten eine Angel in den Bach.

Bei aller Bewunderung für den Film an sich war die wahre Größe Rollo Allers die Vermittlung des Gefühls: Das können wir auch! Der Film hat uns inspiriert, auf die Strasse zu gehen und selber einen Film zu machen.

Beseelt von dieser Idee hingen wir in der Folgezeit viel beim Offenen Kanal in der Voltastrasse rum und reihten uns ein in die Galerie der mitteilungsbedürftigen Gestalten, bei deren Beiträgen man immer dachte: „Wahnsinn, das ist jetzt echt im Fernsehen zu sehen“.

Mussten wir beim Zivildienst Kinderbücher nach Themen sortieren oder die locker gewordenen Hände von Kasperlepuppen festnähen, gab uns Rollo Aller Kraft, diese alltäglichen Demütigungen gleichmütig zu ertragen. Es war egal, denn all das war ja nicht das, was wir wirklich machten, wir machten ja einen Film! Diesen Sommer lang begleitete uns eine Zuversicht, etwas Großes auf die Beine zu stellen, auch wenn es nur für uns war. Wir würden uns, dieser Zeit und unserer Liebe zu Rollo Aller ein Denkmal setzen.

Später haben wir auch selber Kurzfilmfestivals veranstaltet, aber: Ein Rollo Aller war nicht dabei.

Das Imperium schlägt zurück (Irvin Kershner 1980)

Mit 11 Jahren saß ich als nahezu einziger Zuschauer in der Nachmittagsvorstellung eines Bremer Bahnhofkinos (das OT) bei einer Wiederaufführung von „Das Imperium schlägt zurück“. Ich war das erste Mal alleine im Kino. Ein paar Comics hatten mein Interesse geweckt, mich aber nicht vorbereitet auf das, was da kam. Auf diese atemberaubende Hetzjagd. Auf Darth Vader. Wie er, von der Obsession getrieben, Luke auf die dunkle Seite der Macht zu ziehen, die Rebellen durch die Galaxis treibt und Luke, dessen Loyalität zu seinen Freunden ausnutzend, eine Falle stellt. Und auf den dann folgenden, unfassbaren Showdown.

Später habe ich gelesen, dass Irvin Kershner bei den Dreharbeiten auf der Suche nach etwas war, das er den „Geist in der Maschine“ nannte: Wenn die Sternenkreuzer zu John Williams’ „Imperial March“ nebeneinander gleiten, wenn Vader in seiner Meditationskammer sitzt, oder wenn er durch die Gänge des eroberten Rebellenverstecks auf Hoth schreitet. Wenn Luke zögert, sich dann aber mit abgeschlagener Hand in die Tiefe fallen lässt …

Danach bin ich atemlos und benommen durch die Straßen getaumelt. Ich hatte die Helden scheitern sehen, ich hatte dem Bösen ins Auge gesehen.

Am nächsten Tag in der Schule saß ich unter Ahnungslosen. Niemand konnte verstehen, was ich erlebt hatte, zum ersten Mal fühlte ich mich isoliert, und irgendwie fand ich das toll. Auch heute, wenn vor potentiellen Blockbustern die Leinwand ausfährt und ich mich genüsslich in den Kinosessel klemme, begleitet mich die Hoffnung auf ein kindliches Staunen wie bei „Das Imperium schlägt zurück“.

The Office (Ricky Gervais und Stephen Merchant 2001–2003)

Einfach alles. Besonders aber David Brents Video zu „If you don’t know me by now“, das er mit seiner Abfindung finanziert hat und in dem er sich, theatralisch gestikulierend, mit einem Model in einem Loft streitet. Have mercy bombs and fall on Slough!

Memories of murder (Joon-ho Bong 2003)

Eine Mordserie an jungen Frauen in Südkorea zur Zeit der Militärdiktatur 1986. Anhand der verzweifelten polizeilichen Tätersuche werden die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens aufgezeigt. Der Dorfpolizist behauptet, dass er die Schuld eines Menschen durch einen bloßen Blick in dessen Gesicht erkennen kann.

Die Szene, als er den blutig geschlagenen Verdächtigen, für dessen Schuld eigentlich alles spricht, die ihm aber nicht nachgewiesen werden kann, noch einmal lange fixiert. Dieser letzte, musternde Blick. Wir sehen in dieses offene, gleichmäßige Gesicht und denken auf einmal auch, da muss doch ein Hinweis sein, etwas, das ihn verrät, womit man ihn überführen kann. Aber da ist nichts, nur glatte Oberfläche.

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