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Interview: Lars von Trier

Revolver: Vielleicht können wir mit ‚Idiots‘ beginnen, deinem neuen Film. Wir würden gerne wissen, worum es da geht.

Trier: Ja, das wüßte ich auch gerne (lacht). Er basiert auf einem kleinen Manifest, das wir geschrieben haben – ihr habt vielleicht davon gehört, DOGMA 95. Das ist ein sehr seltsames Papier, das, wenn ich ehrlich bin, hauptsächlich dafür entworfen wurde, mir das Filmemachen zu erleichtern. Zum Beispiel fordert es die Verwendung von Farbfilm. Das ist wie mit Gesetzen, es ist wunderbar, weil man nicht soviel denken muß. Soll ich 120 fahren? Nein, ich darf nur 110 fahren. Es erleichtert das Leben – das ist der Grund, warum wir diese Gesetze erfunden haben. Und sie sind extrem strikt, man kann sie kaum befolgen. Wie…

…die 10 Gebote?

Ja, nur noch schlimmer.

Hat das ‚Dogma‘ irgendwelche Auswirkungen auf die Story?

Sollte es. Irgendwo heißt es, Dramaturgie sei verboten. Man soll nichts erfinden, nicht fortwährend an das Ganze denken – was man normalerweise macht: man baut seinen Film. Die Idee war, den Augenblick wahrzunehmen. Aber das ist natürlich unmöglich, insbesondere für Leute, die vorher Filme gemacht haben. Vielleicht fände man jemanden, der noch nie einen Film gemacht oder gesehen hat und nicht an das Ganze eines Filmes dächte. Ich habe (bei ‚Idiots‘) wirklich versucht, vom Ganzen des Filmes abzusehen und mich ganz auf den Moment zu konzentrieren, aber das ist sehr schwierig.

Hattest du ein fertiges Drehbuch?

Ja, ich habe in 4 Tagen ein Drehbuch geschrieben. Normalerweise dauert das 4 Jahre oder so. All diese Regeln sind gut für mich, weil sie mich in die Richtung zwingen, in die ich gehen möchte. Also, es gab ein Drehbuch, aber natürlich hätte man weiter gehen und alles improvisieren können. Nur weiß ich nicht, ob das die Absicht von ‚Dogma‘ ist. Die Absicht war, Erzählkino zu beeinflussen. Natürlich wäre es das einzig Folgerichtige gewesen, Dokumentarfilme zu machen, und genau das haben ja auch einige Franzosen damals gemacht in der Nouvelle Vague.

Vielleicht kannst du kurz die Produktionsgeschichte von ‚Idiots‘ skizzieren.

Der Unterschied war vor allem, daß ich selber gefilmt habe mit dieser kleinen Videokamera, was nicht in den Regeln stand. Aber wißt ihr, wir sind fünf Leute, und als wir ‚Dogma‘ geschrieben haben, sagten die Anderen, man darf auch 16mm benützen und dann habe ich gesagt: wenn man 16mm verwenden darf – kann man auch Video benützen. Alle waren einverstanden – und das war wirklich eine tolle Sache. Ich bin verrückt nach Video. Und so habe ich mit einer dieser kleinen Sonykameras (DV) gedreht. Und das tolle daran war, daß wir für den ganzen Film etwa 130 Stunden Material produziert haben, sehr, sehr viel Material. Das war sehr gut, auch um eine Szene vielleicht 20 Minuten dauern zu lassen und dann auf 1 Minute herunterzuschneiden. Eine interessante Technik. Der Unterschied zu meiner üblichen Herangehensweise war, daß ich viel mehr Zeit für die Schauspieler hatte – es ging nur um die Schauspieler. Man mußte nicht an das Licht denken, weil man kein Licht machen konnte, und man mußte nicht an die Kostüme denken, weil die Schauspieler ihre Kleidung selbst ausgewählt hatten – und man mußte nicht an Props denken, weil es keine gab – das einzige, worüber man nachdenken mußte, war die Frage, wie man zu lebendigen Charakteren käme. Das war toll. Ich glaube, es war die beste Dreherfahrung, die ich je hatte.

Und die Story?

Es gibt nicht so sehr eine Storyline als natürlich Charaktere. Die Geschichte erzählt – glaube ich – von zehn Menschen, die Idioten werden wollen – und dann passiert etwas. Es gibt nicht wirklich einen Handlungsfaden – das Ganze ist mehr wie eine Skizze.

Könnte man sagen, das war camera stylo – die Kamera als das Schreibgerät des Regisseurs?

Oh ja, natürlich, es ist irgendwie die selbe Idee wie früher bei Truffaut und diesen Leuten damals. Es ist in gewisser Weise eine Rückbesinnung auf die Wurzeln. Aber ich würde sagen, daß es heute sogar noch wichtiger ist, als damals – weil die Filme über die Jahre immer raffinierter geworden sind, vor allem hat man jetzt all diese Möglichkeiten, Realität zu verändern. Ich glaube, es ist gesund, immer wieder zurück zu gehen und zu schauen, worum es eigentlich geht. Ich hoffe, ihr werdet auch Dogmafilme machen – die Idee ist, daß der Funke auf die ganze Welt überspringt. Ihr könntet euch um die deutschen Dogma-Produktionen kümmern – die sind sehr billig zu machen.

Wir lassen uns das durch den Kopf gehen. Vibeke hat uns erzählt, daß es schon so etwas wie eine Neue Welle in Dänemark gibt, die deinem Beispiel folgt.

Nun ja, schauen wir mal. Ich denke, das alles kommt daher, weil das Videoequipment so extrem billig geworden ist und man alles auf Video machen kann – es ist phantastisch, wirklich eine Demokratisierung der Medien. Als ich 18, 20 war, habe ich viel Zeit damit verbracht, Geld zu verdienen, um 16 mm Filme zu machen – und es dauerte ein halbes Jahr, um genug Geld zu verdienen, um vielleicht einen Film zu machen. Verglichen damit ist es phantastisch heute. Es ist wie in der Musik: jeder kann sein eigenes Studio haben. Das sollte wirklich eine Explosion der Kreativität auslösen.

Und du glaubst wirklich, daß das eine anti-individuelle Entwicklung ist?

(Lacht) Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht. Das ist die Absicht.

‚Idiots‘ ist der zweite Teil der ‚Golden Heart‘-Trilogie. Was bedeutet ‚Golden Heart‘ für dich?

Es ist ein Buch, das ich als Kind hatte. Die Geschichte ist extrem einfach – es war einmal ein Mädchen, das hatte einen kleinen Kuchen und ging hinaus in den Wald, um diesen Kuchen fortzugeben – ich weiß nicht mehr – nein, es ging einfach in den Wald und dann traf sie diesen kleinen Vogel, der hungrig war, und sie gab ihm ein paar Krumen – und so weiter. Und am Ende war sie ganz nackt, sie hatte alles hergegeben. Das ist die ganze Geschichte. Und dann, glaube ich, endete das Ganze damit, daß sie ihre Belohnung im Himmel bekam oder so ähnlich. Es wurde kürzlich ein Buch über meine Filme geschrieben (von Stig Björkman) – ihr könnt kein dänisch, aber möglicherweise wird es übersetzt – in dem es ein ganzes Kapitel über dieses ‚Golden Heart‘-Thema gibt.

Es gibt noch einen Film in Vorbereitung: ‚Taps‘.

Ja, ein Musical hoffe ich. Man wird sehn.

Was treibt dich, ein Musical zu machen?

Ich bin ein großer Fan von Musicals. Ich liebe ‚Sound of Music‘. Nicht für seine filmischen Qualitäten, die halte ich für weniger bedeutsam – sondern wegen der Musik. Julie Andrews ist großartig. Julie Andrews hat übrigens in ihrem Privatleben die vulgärste Sprache – man würde das nie denken. Sehr seltsam, diese Ikone der Unschuld – und so ein Mundwerk.

‚Taps‘ ist ein period picture, spielt in den USA der 50’er Jahre – ist also kein Dogmafilm?

Nein, es ist kein Dogmafilm. Aber natürlich wird er irgendwie davon beeinflußt sein. Es ist ein bißchen schwierig, ein Musical als Dogmafilm zu machen. Die wichtigste Regel des “Gesetzes” sagt, man dürfe Bild und Ton nur zusammen produzieren – und das ist extrem schwierig, besonders, wenn man schneidet. Wenn man schneidet, findet man heraus, wie oft man den (Original-)Ton wegläßt – für Musik zum Beispiel. Ich wollte etwas Musik im Film haben und deshalb ließen wir jemanden eine kleine Harmonika spielen – an den verschiedenen Orten, an denen wir waren – und weil wir es zusammensetzen wollten, mußte er natürlich genau gleich spielen, damit wir schneiden konnten. Es ist sehr schwierig. Man kann noch nicht mal die Lautstärke anheben, weil das wieder “produziert” wäre – “Du sollst Bild und Ton weder trennen noch bearbeiten!” Nur harte Schnitte – keine Blenden. Wenn man die Regeln liest, sieht diese Vorschrift nicht so beeindruckend aus – aber wenn man Filme macht, verändert man fast immer Bild oder Ton. Das ist beinahe alles, was man tut!

Ich frage mich, welche Beziehung du zu deiner Sprache hast – ‚Breaking the Waves‘ wurde auf Englisch gedreht – ‚Taps‘ wird in Englisch gedreht werden – aber deine Muttersprache ist  Dänisch.

Natürlich ist es sehr interessant, in Dänisch zu arbeiten – weil ich es noch nie zuvor gemacht habe – oder doch, bei ‚The Kingdom‘ zum Beispiel – aber man wird mutiger, wenn man in der eigenen Sprache arbeitet. Ich höre einige der Kleinigkeiten im Englischen, wenn die Schauspieler sprechen, aber natürlich nicht so gut wie im    Dänischen – das ist ein Instrument, das ich besser beherrsche.

Entspringt es also einem kommerziellen Denken, auf Englisch zu drehen?

Ja – aber einige Filme sollten auch auf Englisch sein. Ich habe das immer für eine der Entscheidungen gehalten, die man treffen muß, bevor man einen Film macht – und ich glaube nicht, daß es selbstverständlich ist, auf Dänisch zu drehen, nur weil man in Dänemark lebt. Ich glaube, das Erste, worauf man bei der Auswahl eines Kinofilms achtet, wenn man die Zeitung aufschlägt, ist die Sprache. Es bedeutet etwas. Und weil es etwas bedeutet, verknüpft man die Sprache mit anderen Filmen. Wenn es ein film noir ist, sollte er natürlich auf Englisch oder natürlich auf Französisch oder natürlich auf Deutsch sein. Das ist einfach ein Unterschied. Vielleicht sollte ich einen Film auf Deutsch machen – das könnte interessant sein. Bergmann hat Filme auf Deutsch gemacht.

Ist ‚Taps‘ eine Wende zur Komödie?

Nein – ‚Taps‘ ist keine Komödie, ‚Taps‘ ist eine Tragödie! Und was für eine! Sogar noch schlimmer als ‚Breaking the Waves‘ (Gelächter). Die Dogmafilme sind schon eher Komödien – es gibt da viel Komisches.

Geht ‚Taps‘ also mehr in Richtung einer Oper?

Na ja – das Problem in einem Musical ist, sobald die Leute anfangen zu singen, verflüchtigen sich die Gefühle. Es gibt auch gute Beispiele. ‚West Side Story‘ ist ein gutes Musical. Am Anfang ist es vielleicht ein bißchen schwer zu schlucken, daß die Leute herumtanzen, aber später akzeptiert man diese Szenen als Gefühlsausbrüche. So etwas möchte ich auch machen. ‚Taps‘ ist im Grunde ‚Breaking the Waves‘, nur daß gesungen wird. (Er fängt an zu singen)

Glaubst du, daß ein dichtes Referenzsystem wie etwa in ‚Europa‘ Emotionen eher blockiert?

Es gab nicht sehr viel Emotion in ‚Europa‘, das stimmt. ‚Europa‘ sollte eher ein Gefühl, eine Atmosphäre erzeugen, als Gefühle für die Figuren. Aber ich glaube, je einfacher man einen Film macht, desto besser für die Emotionen. Ja, da bin ich ziemlich sicher.

Wir haben von ‚Dimension‘* gelesen. Ist der noch immer in Arbeit?

Ja, das ist er – aber es ist ein sehr, sehr schwieriges Projekt, extrem schwierig. Die Idee war, den Film von Jahr zu Jahr zu schreiben, aber das ist unmöglich, wirklich unmöglich. Wir kämpfen noch immer darum, eine Form zu finden. Vielleicht höre ich auf damit. Es ist sehr schwierig, auch weil die Szenen so kurz sind – sie werden etwa 2 Minuten lang sein – man kann also nicht wirklich eine emotionale Beteiligung für irgend etwas aufbauen. Es ist lächerlich. Und dann sterben die Schauspieler – es ist wirklich lächerlich.

Was war denn das Konzept dahinter? Wechselnde Orte, wechselnde Besetzung?

Nein, man braucht ja ein paar Schauspieler – aber es ist eine schreckliche Idee. Wenn ihr großes Glück habt, verfüge ich in meinem Testament, daß ihr das Projekt fortführen sollt – dann bin ich es los.

Ich finde das Projekt sehr interessant, weil es von der Zeit handelt. Es gibt einen berühmten ostdeutschen Dokumentaristen, Volker Koepp, der einen Film über mehrere Generationen hinweg gemacht hat, ‚Wittstock‘.

Aber die ganze Idee dreht sich um Fiktion. Das einzig gute an dem Projekt ist, daß wir es erst in 30 Jahren beenden müssen. Es gibt also keinen Grund, Streß zu machen. Ich weiß nicht – es wird ein sehr seltsamer Film werden.

Was denkst du, sollten Filme mit dem Publikum machen?

Ich war eigentlich immer dagegen, daß Film etwas mit dem Publikum ‚machen‘ sollte. Oder daß man Film als Werkzeug benützen sollte, dem Publikum etwas mitzuteilen – warum sagt man es nicht einfach, warum einen Film machen? Aber na ja – alles ändert sich ständig. Etwa der politische Film – eigentlich ist genau das auch der französischen Nouvelle Vague passiert – die haben sich damals auch dem politischen Film zugewandt. Ich glaube, der politische Film wird jetzt in diesem Land wiederkommen. Was also soll das Kino mit dem Publikum  machen? Natürlich wäre ich glücklich, wenn ein Film, den ich gemacht habe, jemanden ein ähnlich gutes Gefühl gibt, wie mir, als ich bestimmte Filme gesehen habe.

Welche Filme waren das?

Ich glaube, der Film, der auf mich den größten Eindruck überhaupt gemacht hat, war ‚Der Spiegel‘ von Tarkowsky. Ich habe nur eine Szene gesehen – ich glaube, auf einem Schwarzweißmonitor – eine einzige Szene. Man sah nur dieses kleine Haus am Wald und nichts passiert, sie sitzen da und reden – irgendwie lebe ich noch immer von dieser einen Szene. Es ist als käme dieser Film von einem anderen Planeten. Ich habe ihn lange nicht gesehen, aber damals habe ich ihn glaube ich 20 mal gesehen. Später sah ich ‚Solaris‘, den ich auch sehr schätze. Aber ich mag natürlich viele andere Filme.

Ich wüßte gerne, welche Rolle der Prozeß des Filmemachens für dich hat. ‚Dogma‘ beschäftigt sich ja sehr stark damit, wie man einen Film machen soll, um etwas Wahrhaftiges zu machen – auf der anderen Seite magst du Filme von Hitchcock und anderen eher künstlichen Filmemachern.

Ich möchte behaupten, daß jeder andere Film, den ich mag, auf einer Art von wahrhaftigem Gefühl basiert, daß er – aber das ist sehr abstrakt – im Kern eine Wahrheit enthält, sogar ein Hitchcock-film. Mein Lieblings-Hitchcock ist natürlich ‚Vertigo‘, und obwohl dieser Film sehr, sehr sophisticated ist, habe ich doch das Gefühl, daß er sehr genau von einem bestimmten Gefühl erzählt. Dagegen ist ‚Der Spiegel‘ ein beinahe archaischer Film – auch weil weniger Handlung kaum vorstellbar ist. Später habe ich gelesen, der ganze Film handle von den letzten Gedanken eines sterbenden Mannes. Ich weiß nicht. Ich habe das nie verstanden, wenn es denn wahr ist. Ich verlange nicht, daß alle Filme dem ‚Dogma‘ folgen, aber die ‚Dogma‘-regeln sind dafür gedacht, an die Wurzeln zu gehen und dieses basic feeling zu finden, das alle Filme haben sollten…

Ich mache zur Zeit eine Platte, für die ich ein Lied singe.

Wir folgen Lars in einen anderen Raum, wo er uns den Song präsentiert, den er für einen ‚Idiots‘-trailer covern wird: “You are my Lady” von Peter Skellen. Lars will diesen Song vor seinen 11 “Idioten” singen, um für den Juli-start von ‚Idiots‘ zu werben. ‚Idiots‘ (wie auch Thomas Winterbergs ‚Dogma‘ I) hatte in Cannes 1998 Premiere.

Du machst jetzt dieses “Idiots-All-Stars”-Musikvideo, hast zuvor einige Musikvideos und Werbespots gemacht. Glaubst du, das ist eine gute Schule, ein gutes visuelles Training?

Nein. Na ja, es kommt darauf an. Ich glaube, das beste Training, das man haben kann, ist sich eine Videokamera zu kaufen. Das Problem an unserer Filmschule war, daß man so viel theoretisches Training hatte und so wenig gefilmt hat. Damals war natürlich alles Film, nicht Video. Ich glaube, man sollte seine eigenen Sachen machen, statt Werbespots zu drehen. Alle sagen: – Es ist so eine gute Schule! – aber einen Werbespot zu machen, das bedeutet, das zu machen, was das Storyboard sagt. Es geht nur darum, auf den Film zu übertragen, was sich andere Leute ausgedacht haben. Ich weiß nicht. Ich hatte einige – wenn man Glück hat, bekommt man interessante Jobs, wo man etwas ausprobieren kann. Aber ich glaube, im Allgemeinen ist es nicht sehr gut. Ich würde es vorziehen, mit einer Mini-Videokamera und einigen Freunden in der Stadt herumzulaufen, die vielleicht nicht mehr deine Freunde sind, wenn der Film fertig ist.

Was hältst du vom deutschen Film – damals und heute?

Neue Filme kenne ich kaum – ich weiß nicht viel über den deutschen Film. Ich kenne die alten Regisseure wie Werner Herzog und Wim Wenders – und Syberberg. Ein toller Mann. Diese Filme waren sagenhaft, sehr, sehr lang. Großartig. Dieser Hitlerfilm war – ich weiß nicht – fünf Stunden oder so.

Ich glaube, Leute, die so verrückt sind wie er, hätten heute keine Chance im deutschen Kino.

Wie kam es, daß er sie damals hatte?

Ich weiß nicht – es gab da einen neuen Geist für eine kurze Zeit.

Ja. Einige der frühen Werner-Herzog-Filme waren wundervoll. ‚Herz aus Glas‘ war ein phantastischer Film und ‚Aguirre‘ war auch großartig. Da kam alles her damals. Es kam aus Deutschland, keine Frage. Auch die frühen Wim-Wenders-Filme.

In Deutschland glaubt heute jeder, er müsse kommerzielle Konventionen erfüllen.

Ich weiß nicht, wie das kam, aber Film war damals irgendwie interessanter – auch das Publikum muß es gewesen sein. Vielleicht haben sich die Märkte verändert – ein Film muß von so-und-sovielen Menschen gesehen werden, was weiß ich. Aber das Gute daran ist, daß die Leute anfangen, sehr billige Filme zu machen und dann kann sich wieder ein Markt für kleinere oder verrücktere Filme entwickeln. Einige der frühen Herzog-Filme müssen ungeheuer billig gewesen sein. Oder ‚Alice in den Städten‘, ein wunderschöner Film – der muß sehr billig gewesen sein. Unsere Firma hat Equipment, Video auf Film zu übertragen – so etwas wird in Kürze sehr billig werden. Dann kann jeder einen Spielfilm drehen.

Fühlst Du Dich anderen jungen Regisseuren in der Welt verbunden?

Ich fühle mich nicht jung. Ich weiß nicht. Nein. Ich habe nur wenige der Filme gesehen, die heute gemacht werden. Ich habe vier Kinder, verdammt! Das ist ganz schön viel.

Du hast einmal in einem Interview gesagt, du wärst besessen von Deutschland.

Ja. Vielleicht war ich schon besessener als heute. Ein großer Teil davon ist Angst. Wenn man aus einem kleinen Land wie diesem kommt, in dem die Polizisten nie oder selten eine Pistole tragen – heute ist das vielleicht ein bißchen anders – und man kommt dann nach Deutschland, und die Polizisten tragen Maschinengewehre am Bahnhof – das ist schon ein Unterschied. Es ist ein Gefühl, als käme man aus der Kleinstadt. Aber natürlich ist Deutschland interessant, weil es diese Bandbreite von Goethe bis Speer gibt. Und Ludwig. Eine Schatzkammer der Kultur. Aber einiges ist beängstigend.

Kultur und Vandalismus.

Ja. Ich wollte einmal unbedingt einen Film über Speer machen, aber die Familie war nicht begeistert davon.

Es gab da ein Projekt, das David Puttnam in den späten 70’ern entwickelt hat.

Ja, aber das war später. Ich interessierte mich für die Tagebücher, ich wollte etwas mit den Tagebüchern machen. Er ist eine interessante Figur. Ich habe auch versucht, einen Film in Berlin zu drehen – ein Projekt, aus dem dann nichts geworden ist – und ich war deshalb einige Wochen in Berlin. Drei Tage nach der Maueröffnung war ich auch dort. Es war ziemlich interessant, all diese Grenzer zu sehen, die einfach dasaßen und frustriert den passierenden Wartburg-Kolonnen nachblickten. Zuvor hatten sie so viel Macht, und jetzt…

Man wundert sich immer, wo all diese Leute heute sind.

Ja, was die wohl machen?

Wir würden dich gerne nach München einladen.

Na ja, ich reise nicht so viel. Deshalb habe ich dieses kleine Haus gebaut: ich kann einfach hier sitzen und zu den Bäumen da drüben schauen – das ist schon sehr weit für mich. Aber ich mochte München gerne, ich hatte das Gefühl, daß das ein angenehmer Ort ist. Als mein erster Film in Cannes lief, ‚Element of Crime‘, fragte mich der Typ, dem die Neue Constantin gehört – wie heißt der noch mal?

Eichinger.

Ja, sicher, Eichinger fragte mich also, ob ich auf dem Rückweg nicht vorbeischauen möchte. Und dann – aber es ist eine lange Geschichte – bot er mir einen Vertrag an “I’ll hire you!” wißt ihr, solches Zeug – und holte mich mit seinem enormen Mercedes ab. Ich sagte: – Oh, mir gefällt dieser Mercedes. – Ja? Hier, er gehört dir, behalt ihn. Da sind die Schlüssel. Du unterschreibst hier und du bekommst jeden Monat ein Gehalt fürs Nichtstun, bis … ich habe natürlich nichts dergleichen gemacht. Aber es war interessant, weil er mich auf so eine Art von Boardmeeting mitgenommen hat. Die hatten gerade aus ‚Das Boot‘ ein Musikvideo gemacht – mit Popmusik von dem, der diesen Hit für ‚Die unendliche Geschichte‘ geschrieben hatte. Es war gerade erst fertig und ich sollte es mir ansehen. Ein wahnsinniges Video, wißt ihr: douummmpff-dammm-dammm und ein U-Boot taucht aus dem Wasser auf brooufff! Und dann – das war in Anwesenheit aller Regisseure – fingen die Soldaten zu schießen an, wahnsinnig martialisch und sehr amerikanisch. Das Licht ging an und alle sahen mich lächelnd an: – Was meinen sie? Und ich sagte: – Ich habe nur eine Frage: Warum hat Deutschland den Krieg verloren?

Dieses auftauchende U-Boot bruoaufff! – irgendwie haben sie es nicht bemerkt … Vielleicht wurde es später noch ein bißchen umgeschnitten, aber es war wirklich phantastisch, besser als jeder Propagandafilm.

Ich habe mir damals Dachau angesehen und war verblüfft, daß keiner von diesen Leuten jemals das Konzentrationslager besucht hatte – außer einem Journalisten, der darüber schreiben mußte. Aber der Rest war noch nie dagewesen. Dabei ist es nur 10 Minuten von München entfernt.

Interessant war, daß auf allen Fotos in der Ausstellung dort – und es waren wirklich viele Bilder – die Augen ausgekratzt worden sind. Sehr seltsam.

Erst kürzlich habe ich im Dänischen Fernsehen eine sehr gute Dokumentation über Hitler gesehen. Eine Neue, mit viel Material aus Hitlers privaten Filmen. Er war wirklich ein Künstler…
Das passiert, wenn man nie nein sagt zu einem Künstler. Wie wenn man einen Film produziert und nie nein sagt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führten Benjamin Heisenberg,
Christoph Hochhäusler, Peer Klehmet
am 17.03.98 in Kopenhagen

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